Freitag, 11. März 2022

"Wenn du stark in der Aqida bist"

Anfang 2018 setzte sich der Blog mit der psychosozialen und psychotherapeutischen Versorgung von Angehörigen radikalisierter bzw. ausgereister Menschen auseinander. Doch auch psychisch belastete Menschen in extremistischen Szenen sind in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld geraten. Sich aus der Beobachterperspektive damit auseinanderzusetzen, stellt ein Balanceakt dar. Denn die Grenzen zur Stigmatisierung oder Pathologisierung von weit über die Islamismus-Szene hinaus verbreiteten Praktiken, können leicht überschritten werden. Dennoch ein Versuch der Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die "Dawa-Maschine"

Kevin R. (Name geändert) beteiligte sich seit Anfang der 2010er Jahre an der Dawa-Arbeit. Der Mitte 30-jährige Konvertit gehörte eine Zeit lang wohl auch zur salafistischen Szene, so behaupten es zumindest andere. Als "Dawa-Maschine" soll er dort bekannt gewesen sein. Und noch heute erhält er anerkennende Kommentare, wenn dieses eine Video mal wieder auf Twitter oder TikTok kursiert, in dem R. die Hauptrolle spielt. Auf einer Veranstaltung der Salafisten 2012 in Köln sorgte er nämlich vor laufenden Kameras für Aufsehen. Flankiert von damaligen Szene-Bekanntheiten wie Saif U., Dennis Rathkamp und Munir I., polterte W. - in einem Qamis gekleidet und mit einer saudischen Kufiya auf dem Kopf - wild gestikulierend drauf los: 

"Das Wort <Salafisten> gibt es nicht! Erklär' mir das Wort <Salafist>? Könnt ihr nicht! [...]. Wallah, ich könnte heulen, und zwar innerlich vor Wut, weil das geht uns auf den Keks!", rief R. zu den Journalisten. Seine Rage mündete dann zur offenkundigen Verblüffung aller Umstehenden in einer Rap-Zeile: "Sehe ich noch einmal das Wort <Salafisten> irgendwo, wallah, ich mach' einen Diss-Track gegen euch, ohne Beat, sondern so richtig mit Rap und richtiger Sprache:  <denn ich war damals ein Rapper, bin der Überdenker, spitte meine Feuer-Zeilen, ich zeig' euch was geht>. Wehe, es steht noch einmal das Wort <Salafisten>, dann geht's game over!" 

Viele Jugendliche feierten R. für seinen Mut und seine zugleich skurrile Art zu reden. Allein auf Youtube hat das Video bis heute über 200.000 Aufrufe erhalten. Der zweifelhafte Ruhm im Netz blieb. Für R. ist heute allerdings alles anders geworden. Internet-User hatten den Mann vor einigen Wochen auf seinen sozialen Profilen wiedererkannt und sich öffentlich über ihn lustig gemacht. Denn Kevin R. ist heute kein Dawa-Aktivist mehr, sondern ein Mensch mit Problemen, für die er nichts kann. Auf mehreren Plattformen filmte sich R. bei Selbstgesprächen. Er sei ein Prophet, der von Allah herabgesandt worden sei, behauptete er in einem Video. In einem anderen berichtete er, die Kaaba, das zentrale Heiligtum im Islam, sei zerstört worden. In einem weiteren Video bezeichnete er sich dann als Kalif von Deutschland, der versuche die Welt zu retten und alle Menschen ins Paradies mitzunehmen. Islamistische Hardliner beschimpften ihn daraufhin: "du Kafir, warum löscht du das drecks Video nicht??", so ein Kommentar. 

R. versuchte sich nach dem Doxing und einer Flut von Nachrichten öffentlich zu erklären. Vor einigen Jahren habe er nach schlaflosen Nächten in einer Moschee einen Zusammenbruch erlitten, just in dem Moment, als er die 75. Sure im Koran gelesen habe, die al-Qiyama - "die Auferstehung". Todesängste hätte er darafhin ausgestanden, er habe halluziniert und Stimmen gehört, die ihm sagten, er sei ein Prophet. In der Folge sei er mehrere Male in die Psychiatrie eingewiesen worden und hätte Medikamente gegen das Stimmenhören bekommen. Das gehe nun seit über sieben Jahren so. "Nur wegen dem Islam habe ich solche krassen Probleme", meinte er enttäuscht an anderer Stelle.

Ein Follower entgegnete ihm daraufhin: "Das sind alles Stimmen von Shaytan [...]. Deswegen, ich bitte dich, Kevin, denk' nochmal drüber nach, ob du nicht doch wieder zum Islam zurückkehren willst [...]. Du wurdest von den Dschinns in die Irre geführt." Er empfehle ihm, dass er dem Imam der örtlichen Moschee seine Probleme schildern solle, der ihm dann mit einer Ruqiya helfen könne. Ein anderer klagte: "Wie konnte das passieren, Akhi, dass du dich so wendest? Hast du vergessen, dass wir Rechenschaft für unsere Taten abgeben werden?"

"Wir sind jetzt Leute, die labile Menschen sind"

Erklärungsversuche und Aufforderungen wie diese sind bei psychischen Problemen auch in der islamistischen Szene durchaus verbreitet. Betroffene wie Kevin R. werden dabei häufig mit religiösen Stigmata konfrontiert: ihnen fehle es doch nur an Iman (Glaube), sie hätten Fehler begangen oder sie seien vom Schaytan oder von Dschinnen befallen. Der erste Weg von psychisch Notleidenden führt deshalb manchmal nicht zu einem Psychotherapeuten, sondern zu einem Raqi, Cinci Hoca, Prediger oder anderen Geistheilern. Was dabei herauskommt, ist selten befriedigend, wie auch R. berichtet: "beten oder Ruqija hilft nicht". Denn psychische Belastungssituationen oder Störungen sind kaum so ohne weiteres durch religiöse Läuterungspraktiken zu überwinden.

Für Menschen in islamistischen Bewegungen können die Hemmungen, sich einem Psychotherapeuten oder Psychiater anzuvertrauen, noch einmal viel komplexer sein: entweder, weil der Gang zu einer Praxis oder in eine Klinik als Eingeständnis von Schwäche empfunden wird. Weil von vornherein Vorbehalte gegenüber einem nichtmuslimischen Therapeuten bestehen. Oder weil geglaubt wird, dass der Therapeut oder die Therapeutin die religiösen Überzeugungen des Gegenübers nicht kennt, nicht versteht, nicht ernst nimmt oder Ressentiments gegenüber der Religion pflegt. Auch die Furcht, durch Missverständnisse ("ich bin der Kalif") oder verschreckte Therapeuten an Sicherheitsbehörden gemeldet zu werden, kann Betroffene zurückhalten.

Hinzu kommt  der innere Zwiespalt, weil sich viele von ihrem Umfeld durch ihren extremen Lebenswandel bereits einer gewissen Pathologisierung oder eines ähnlich suggestiven Verdachts unterworfen fühlen können ("Du bist doch nicht normal"/"Du bist doch gehirngewaschen"). Solche Reaktionen können Abgrenzungsverhalten nach außen hin noch weiter verstärken, ja sogar als Narrativ instrumentalisiert werden, wie es 2012 Mohamed Mahmoud in einem Videovortrag exemplifizierte: 

"Wir sind jetzt Leute, die labile Menschen sind [...]. Yani, du bist heute zum Islam konvertiert? Du bist labil. Wenn du nicht labil wärst, würdest du niemals zum Koran oder Islam konvertieren. Und wallahi, das zeigt, was in ihren Herzen ist [...]. Wurde nicht zum Propheten gesagt, dass er maschnun ist, dass er verrückt ist?" (Mahmoud 2012).

Doch so einfach scheint das nicht zu sein. Denn trotz der Tabuisierung psychischer Probleme und der gleichzeitigen Abwehr gegenüber Pathologisierungsversuchen finden zahlreiche Erfahrungsberichte über außerordentliche Belastungssituationen im Alltag und über Erkrankungen Eingang in die täglichen Unterhaltungen und Diskussionen unter den unterschiedlichen Anhängern. In sozialen Netzwerken, ob auf Youtube, Facebook, Instagram oder Telegram, lassen sich viele Beispiele dafür finden. Eine Erklärung für mentale Probleme scheint dabei besonders häufig diskutiert zu werden: „Psychische Krankheiten werden meistens durch spirituelle Krankheiten ausgelöst."

Der Spiritualität und Religiosität werden in diesem Sinne also von manchen eine wesentlich größere Bedeutung für die psychische Gesundheit beigemessen, als den „unspezifischen“ Leiden, die erst durch eine medizinische Indikation verstanden und eingeordnet werden können. Die Einhaltung von religiösen Regeln und Dogmen im Lebensalltag wie Gebete, immanente Einstellungen und Motivationen und die daraus abgeleiteten psychischen Effekte (Durchhaltewillen, Ausgeglichenheit, Optimismus etc.) sollen sich aus dieser Perspektive also heilend oder stabilisierend auswirken. 

Fehlen diese Bedingungen, wird das Problem nicht selten in der eigenen religiösen Praxis gesucht ("Welche Fehler habe ich / hast du gemacht?"). Aber auch weitere religiös begründete Ursachenforschungen spielen eine Rolle, die allerdings auch in anderen Religionen und nicht nur in extremistischen Milieus vorkommen können: Geister, Dämonen, böse Blicke.

Religion als Ressource?

Mit religiösen Deutungsmustern wie diesen tun sich auf der anderen Seite die Psychiatrie und Psychotherapie als naturwissenschaftliche, humanwissenschaftliche und evidenzbasierte Fachdisziplinen durchaus immer noch schwer. Sie provozieren für manche Therapeuten auf den ersten Blick Assoziationen mit Esoterik und Aberglauben. Religion und Spiritualität wurden nämlich lange Zeit weitgehend in der Psychotherapie verdrängt, da die Meinung vorherrschte, dass sie vor allem Privatsache und mit dem materialistischen Weltbild der Disziplin nicht zu vereinbaren seien. Das hat sich in den vergangenen Jahren aber durchaus verändert, wie beispielsweise ein Positionspapier einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (dgppn) aus dem Jahr 2016 zeigt. So heißt es unter anderem dort:

"So begegnen wir z. B. Patienten, die an Geister glauben, zwanghaft beten oder religiöse Endzeiterwartungen haben. Ohne Verständnis für die kulturellen und religiösen Besonderheiten besteht die Gefahr, dass religionsspezifische Tabus und Grenzen unwissentlich durch den Behandler verletzt werden. In der Akutpsychiatrie ist die Einbeziehung von Religiosität und Spiritualität in die Anamnese und in die Differentialdiagnose erforderlich, z. B. bei Suizidalität, religiösem Wahn, depressivem Schuldgefühl und bei Traumafolgestörungen."

Vor allem die sog. kultur- und religionssensible Psychotherapie sieht in der Religiosität und Spiritualität (letzteres wird auch als Container-Begriff für beide Begriffe verwendet) demnach wichtige Faktoren für gesundheitliches Wohlbefinden. Der Religionspsychologe Michael Utsch definiert beispielsweise Spiritualität als die Bezogenheit auf etwas „größeres Ganzes, die inhaltlich entweder religiös („Gott“), spirituell („Energie“) oder säkular („Natur“) gefüllt“ werden könne (Utsch 2020: 53). Denn Menschen suchen schon immer nach Antworten auf transzendentale Fragen und Motivationen - auch in Krisen: die Suche nach dem Sinn und die Fähigkeit zur Selbst-Transzendenz, die Selbstakzeptanz und Selbstentfaltung, positive soziale Beziehungen, ein intensives Erleben der Schönheit bzw. der Natur, ein allgemeines Verbunden- und Einssein mit Menschen, der Natur und dem Kosmos, die Verbundenheit mit Gott und Göttern, die Achtsamkeit und andere Meditationserfahrungen wie Vorahnungen und das Erleben sog. „psychokosmischer Energie“ (Grom 2009: 15).

Der allmähliche Einstellungswechsel in der Psychotherapie - d.h. die wachsende Anerkennung, dass Menschen auch nach religiösen und spirituellen Antworten in Therapie-Settings suchen können -  drückt sich zunehmend auch im Berufsalltag der Therapeuten aus. Darauf weisen Umfragen hin: Religion und Spiritualität spielen für Patienten und Klienten in der psychotherapeutischen Praxis eine immer wichtigere Rolle (Marquardt/Demling 2016). Durch die Zuwanderung nach Deutschland in den letzten zehn Jahren sind die Patienten und ihre Weltanschauungen zudem diverser und komplexer geworden. Sie bringen unterschiedliche kulturelle, religiöse und spirituelle Identitäten mit ein. Auch die Sprache, Problemlagen und ihre Deutungen sind vielfältiger geworden, sodass Psychotherapeuten sich vermehrt mit vormals unbekannten Narrativen auseinandersetzen müssen. 

Doch auf solche Probleme einzugehen, fällt manchen Psychotherapeuten nicht leicht. Gründe hierfür sind oftmals Sprachbarrieren sowie die fehlenden Kenntnisse zum Islam und zu kulturellen Aneignungsweisen, vielleicht auch eigene Vorbehalte gegenüber anderen Glaubensrichtungen oder schlichtweg die traditionelle Skepsis, sich mit Religion und Spiritualität im Rahmen der Anamnese und der Therapie auseinanderzusetzen.

Religion als Defizit?

Im Hinblick auf Hinwendungsprozessen und religiösen Fanatismus spielt dieses Ressourcen-Potenzial allerdings eine ambivalente Rolle. Einerseits können Weltanschauungen, Narrationen und Deutungskonstanten grundsätzlich Coping-Strategien vermitteln, wodurch Menschen ein gewisses Maß an Stabilität und Kontinuität gewinnen können. Andererseits nehmen spirituelle Krisen in den letzten Jahren zu (Sonnenmoser 2017: 70), wodurch einschneidende Erfahrungen und realweltliche Krisen bisherige Überzeugungen und Identitäten fundamental erschüttern können. Hieraus kann auch das Risiko entstehen, dass sich Betroffene in der Folge neuen, im Zweifel radikal-anderen Ideen zuwenden. Diese Dynamik lässt sich unter anderem auch bei fundamentalistischen oder extremistischen Bewegungen wie dem Salafismus beobachten, deren charismatische Führungspersönlichkeiten sich der Probleme und der Krisenanfälligkeit ihrer meist jungen Anhänger sehr wohl bewusst sind. 

Denn junge Menschen sind in der Adoleszenz und in der Pubertät besonders gefährdet in (Identitäts-)Krisen hineinzugeraten. Sie stehen in dieser Lebensphase den Herausforderungen gegenüber, sich langsam von ihrem Elternhaus zu trennen und eine innere Unabhängigkeit auszubilden. Die Peer-Group übernimmt immer mehr eine Art Ersatzfunktion für sie. So entwickeln sie unter anderem eine psychosexuelle Identität, bauen die Fähigkeit auf, tragende Bindungen einzugehen und aufrechtzuerhalten und sie entwickeln ein persönliches Werte- und Moralsystem, das sich oftmals bewusst in Opposition zu dem der Eltern setzt (Klosinski 2020: 141). Umso stärker neigen sie auch zu Extrempositionen, die durch Krisen begleitet werden und in Hinwendungsprozessen münden können. Solche Brüche werden auch als eine Art „Erweckungsmoment“ oder „Wiedergeburt“ empfunden.

Die „Radikalität“ oder der Anschluss an eine extremistische Ideologie kann daher auch als spiritueller „Zufluchtsort“ gedeutet werden, weil die Menschen sich in ihren Krisensituationen anders nicht zu helfen wissen bzw. ihnen die notwendigen Coping-Strategien hierfür fehlen. Der Psychiater Jürgen Klosinski stellt hierzu folgende Hypothese auf: „Je differenzierter und emotional intensiver die Fähigkeiten eines Menschen ausgebildet sind, gelingendes Leben wahrzunehmen, desto größer seine Frustrationstoleranz hinsichtlich gefährdeten Lebens bzw. desto größer seine geistig-psychische Kompetenz, Ereignisse des Scheiterns dennoch autonom zu bewältigen“ (ebd. 140).

Der Dortmunder Konvertit Christian L., der im Jugendalter nach einer lebensgefährlichen Erkrankung und einem Krankenhausaufenthalt in eine Sinnkrise geriet, beschrieb diesen - aufgrund seiner späteren Radikalisierung - gescheiterten Prozess in einem Propagandavideo des sog. „IS“ folgendermaßen:

Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Über Gott und das Leben nach dem Tod. Doch ich konnte keine befriedigenden Antworten finden. Ich verlor mich selbst und fand keinen Ausweg. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.“

Als L. im Krankenhaus um sein Leben fürchtete, habe er Gott darum angefleht, ihn zu retten, ihm den richtigen Weg zu weisen und ihm im Gegenzug zu dienen, so gut er könne (al-Furat 2016). Aus einer tiefen Sinnkrise heraus zur vermeintlichen Glückseligkeit: das ist auch das typische Framing in der Propaganda von Islamisten. Teilweise entspricht diese Selbstperzeption allerdings auch bis zu einem gewissen Grad der Wahrheit. Denn die Angebote, die die Islamisten ihren Anhängern machen, stellen gleichzeitig eine Alternative dar, mit bisherigen krisenbelasteten Lebensstilen oder -umständen zu brechen. Aus der Krise und dem Gefühl der Wertlosigkeit, bietet der Islamismus einen kompensatorischen Ausweg.

Kompensation und spirituelle Krisen

Im Islamismus und anderen hochgradig dogmatischen Bewegungen bestimmen u.a. Regeln und die dadurch vorgegebene Struktur den Lebensalltag. Dazu gehört beispielsweise ein striktes Konsumverbot von Alkohol, Tabak oder harten Drogen. Für abhängige Menschen kann daher aus der gesundheitlichen Perspektive die neue Spiritualität bzw. Religiosität stabilisierende Impulse beinhalten, die dementsprechend vom anfangs ahnungslosen Umfeld ebenfalls so wahrgenommen wird. Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen Drogenabhängige in der Folge ihres neuen Lebenswandels (z. B. ihrer Konversion) auf den weiteren Konsum verzichteten.

Diese vermeintlich positive Stabilisierung - also die Religion als Ressource - kann aber auch nur oberflächlich verlaufen. Denn die tatsächlichen Ursachen, die für die Abhängigkeit verantwortlich sein könnten (z. B. Traumata, Vorerkrankungen etc.), werden durch die "Zwanghaftigkeit" ihrer Entsagung nur kompensiert und nicht bearbeitet. Die Folgen können sich dementsprechend im Zuge der zunehmenden Radikalisierung (extreme Abgrenzung, Rückzug und Konflikte) oder auch verheimlichten Rückfällen auswirken. Krisen, auch nach der vermeintlichen “Rechtleitung”, wie es im Islamismus heißt, können also entweder latent vorhanden bleiben oder treten mit der Zeit unter anderen Narrativen zum Vorschein.

Die Ambivalenz von Religion als Ressource und Defizit spiegelt sich häufig dann in spirituellen Krisen wider. Menschen, denen es schlecht geht oder die sich verhaltensauffällig zeigen, deuten psychische Krisen nun nicht nur als gesundheitliches Problem, sondern verbinden diese sehr eng mit ihrem Glauben. Das ist an sich nicht ungewöhnlich und auch kein exklusives Islamismus-Phänomen. 

Geistig-spirituelle Krisen werden im Islam beispielsweise als „Krankheit des Herzens“ interpretiert. Mit „Herz“ assoziieren islamische Gelehrte psychische Ebenen wie „Bewusstsein“, „Denken“ und „Verstand“. So interpretierte der bedeutende islamische Gelehrte al-Ghazzali „Herz“ als „tendenziell instabiles Zentrum des Menschen“, das unterschiedlichen, zum Teil enorm gegenläufigen Impulsen und Bedürfnissen ausgesetzt sei und sich unterschiedlichen psychischen Potenzialen zuwende (Kellner 2020: 102-103). Der Kern der spirituellen Entwicklung im Islam bestehe aus der Läuterung vom „Zustand der inneren Neigung zum Bösen“, um über den „Zwischenzustand der tadelnden Seele“ zum „Zustand des zufriedenen Inneren“ zu gelangen (ebd.). 

"Sihr/Dschinn"-Behandlung mit unspezifischen Folge-Beschwerden (Screenshot/Telegram)

Die Überwindung des „Bösen“ über die Selbstreflexion und -läuterung gehört für Gläubige in Krisen zu einem wiederkehrenden Narrativ. Sehr eng verbunden sind damit kulturspezifische Auffassungen, die besonders - mit Blick auf Muslime - in der (vor-)islamischen Mythologie und den Geheimwissenschaften begründet liegen. Magie (sihr) und Geister- und Dämonenglauben stellen dabei eine Grundlage für viele Interpretationsschemata dar. Sie kommen in Schilderungen im Koran zum Ausdruck - wenngleich in der Realität solche Projektionen aufgrund der Tabuisierung psychischer Erkrankungen in vielen Ländern oftmals eher ein kulturelles und kein religiöses Phänomen darstellen. Umso mehr ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht nur um islamistisch-konnotierte Narrative handelt, sondern solche Vorstellungen über kulturelle Aneignungsweisen auch unter vielen anderen Muslimen verbreitet sind.

Magie und Geister

 "Wenn du stark in der Aqida bist, so werden die Dschinnen und die Teufel beide Angst vor dir haben. Aber wenn du wackelig in der Aqida bist, so könntest du selbst vor deinem eigenen Schatten Angst haben."

Narrative, die im Kontext von persönlichen Krisen häufiger auftauchen können, sind die sog. Dschinnen (oder Dschinn). Verwandt ist der Begriff mit dem Wort maschnun (magnun). Wenn es also im Koran heißt, dass dem Propheten Mohammed von seinen Gegnern vorgeworfen worden sei, maschnun zu sein, so rekurrierte das auf eine Form der krankhaften Besessenheit durch einen Dschinn (z. B. K 7:184). Bei Dschinnen handelt es sich der (vor-)islamischen Mythologie zufolge um geisterhafte Wesen, die den Menschen in unterschiedlichen Alltagssituationen begegnen können. Im Koran heißt es, dass sie aus einem „Gemisch aus [Luft und] Feuer“ geschaffen worden seien (K 55:15) und durchaus auch menschenähnliche Eigenschaften besitzen würden. Sie sind sterblich, können sexuelle Beziehungen führen und Nachkommen zeugen, sie besitzen Macht und verfügen über manipulative Kräfte. Sie sind demnach auch in der Lage, ihre Gestalt zu verändern, z. B. in Adler, Schlangen und Skorpione (Assion 2020: 184).

Dschinnen können den Menschen sowohl wohlgesonnen, als auch feindlich gegenüberstehen. Meistens werden sie aber den Feinden des Propheten zugerechnet, wodurch die Kontaktaufnahme zu ihnen als gefährlich angesehen wird. So heißt es in Sure 72, Vers 6: „Und (manche) Männer von den Menschen pflegten Zuflucht zu nehmen bei (einigen) Männern von den Dschinn, doch mehrten sie so (bei) ihnen die Drangsal“ (K 72: 6). Entsprechend ihres Rufes werden Dschinnen eher ungemütliche Aufenthaltsorte zugeschrieben: Sie halten sich in der Dunkelheit auf, im Abfall, in Wäldern oder Höhlen, in schmutzigen Gewässern, leeren Häusern oder auf Friedhöfen. Religiöse Verhaltenskodizes sehen daher beispielsweise die Meidung solcher Orte oder das Verbot bestimmter Handlungen vor (ebd. 2020: 185).

Dschinnen werden auch häufig als Ursache für Krankheiten und belastende Situationen gedeutet. Davon zeugt das Monitoring unzähliger Erfahrungsberichte und Erklärungsversuche auch islamistischer Akteure. Der Qarin (ständiger Begleiter) ist beispielsweise ein Dschinnen-ähnliches Wesen, der im ungünstigen Fall einen Menschen dazu verführt, “Böses” zu tun. Seine Anwesenheit wird mit Symptomen psychischer Probleme in Verbindung gebracht. Dazu gehören Zuschreibungen wie Angst, Verzweiflung, Selbstgespräche, Einsamkeit und Appetitlosigkeit, Zwangsgedanken, Weinen ohne Grund, Hoffnungslosigkeit oder gar Suizidalität. Sich als betroffen fühlende Menschen können dem Qarin auch mit religiösen Behandlungsmethoden begegnen. So zählt beispielsweise ein salafistischer Telegram-Kanal für religiöse Medizin und Exorzismus (Ruqia) mögliche Therapieansätze auf: die Betroffenen sollten den Einflüsterungen widerstehen, Einsamkeit vermeiden, den Koran lesen, eine fromme Gesellschaft bevorzugen, sich übergeben oder Schröpfungen (hidschama) vornehmen lassen. Eine Empfehlung, sich im Falle schwerer psychischer Krisensituationen wie Suizidalität  oder Paranoia auch eine professionelle ärztliche Behandlung in Erwägung zu ziehen, steht dort allerdings nicht.

Hilferuf und Ratschläge (Screenshot/Youtube)

In der islamistischen Szene dient der Glaube an Magie, Geister und Dämonen auch als Instrument einer rigiden Angstpädagogik, die zu verstärkten Belastungs- oder Überforderungssituationen krisenbelasteter Anhänger führen kann. Regelverstöße oder vermeintliche Sünden werden häufig mit Zauberei in Verbindung gebracht, aber auch als Rechtfertigungsgrundlage für eigene Grenzüberschreitungen instrumentalisiert, die der dogmatischen Glaubenspraxis widersprechen (u. a. Ehebruch, Drogenmissbrauch oder sexuelle Übergriffe). Manchmal wird dann auf Geister und Dämonen verwiesen, die die Kontrolle über das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen ausgeübt hätten. So heißt es beispielsweise in einem Telegram-Kanal für Zauberei:

Es gibt manche, die für jede abscheuliche Tat, die sie tun, eine Entschuldigung haben. Als Beispiel: Wenn sie zum Fajr-Gebet nicht aufstehen können, schieben sie deren großen Sünden auf Ayn und Dschinn! Wenn manche einen hässlichen Charakter gegenüber dem Ehepartner zeigen, wie es so oft in Europa der Fall ist, schieben sie die auf Zauberei etc. Das Problem ist meiner Meinung nach, dass die verdorbene Ideologie bei manchen in unserer Gesellschaft sehr massiv verankert ist, sodass man viel Mühe aufbringen muss, um diese Menschen davon zu überzeugen, dass sie selbst Schuld tragen und sündigen und an sich arbeiten müssen.“

Doch die Angebote in Form der Naturheilkunde, Homöopathie und des Exorzismus, die es auch in der islamistischen Szene zur Behandlung von Beschwerden durch vermeintliche Magie gibt, bergen Risiken für Betroffene. Heiler, Prediger und auch Privatpersonen verdingen sich oftmals als medizinische Ansprechpartner. Die Verunsicherung unter Betroffenen bleibt offenkundig weiterhin hoch, sodass auch im Internet viele Ratgeber-Seiten, Selbsthilfegruppen und Quellensammlungen entstanden sind, von denen sich hilfesuchende Personen die richtigen Antworten für ihre Probleme erhoffen. Dass es dabei allerdings auch oftmals zu Machtmissbrauch und Scharlatanerie kommt, ist vor allem in arabischen Medien häufig ein Thema. 

Auch in Deutschland starben in den vergangenen Jahren mehrere Personen, die sich zur Austreibung von Dämonen und Geistern von selbsternannten Heilern behandeln ließen. Im Jahr 2020 starb beispielsweise eine junge Frau in Berlin im Rahmen einer Therapie zur Steigerung ihrer Fruchtbarkeit an einer Salzwasservergiftung, weil ihr ein salafistischer Hodscha gemäß dem Willen der Familie den Teufel austreiben sollte, der für die ausbleibende Schwangerschaft verantwortlich gemacht worden war (Mohring 2020)

Akzeptanz der Psychotherapie erhöhen

Psychische Probleme werden auch in der islamistischen Szene stark tabuisiert. Hier kommt es durchaus auf die muslimischen Communities, Prediger und Seelsorger mit Zugang zu den Zielgruppen an, die Akzeptanz gegenüber den medizinischen Berufsgruppen zu erhöhen. Aber auch die Gesundheits- und Heilberufe sind angesichts einer sich verändernden Gesellschaft zunehmend gefordert, sich mit religiösen, spirituellen und kulturellen Aneignungsweisen auseinanderzusetzen. Ohne Zweifel können Spiritualität und Religiosität als Ressource in Krisensituationen respektive in der Psychotherapie durchaus stabilisierend wirken. Sie leisten Trost, Hoffnung, Entlastung, Lebenssinn und können auch bei der Affektregulation helfen.

Auf der anderen Seite erweisen sich Spiritualität und Religiosität im Kontext extremistischer Orientierungen wie des Islamismus auch als Defizit, da die Ursachen von Krisen häufig ungelöst bleiben und sich durch die Rigidität des religiösen Eifers auch verschlimmern können. So kann es in diesem Zusammenhang laut den Psychiatern Norbert Mönter und Joachim Demling auch zu einer Verstärkung und „Induzierung gravierender psychopathologischer Syndrome durch gedanklich-emotionale Einengung kommen“ (religiöser Wahn), zur Verstärkung von Scham- und Schuldgefühlen bei Depressionen (Versündigungswahn) oder auch zum Verlust der autonomen Lebensgestaltung und von Sozialkontakten durch (Selbst-)Isolation (Mönter 2020: 72-73/ Demling 2019).

Die kultur- und religionssensible Psychotherapie versucht deshalb verstärkt, sich diesen komplexen Dynamiken zuzuwenden. Dabei vermeidet sie allerdings die Kulturalisierung, Ethnisierung und Übergeneralisierung religiöser Haltungen im Umgang mit muslimischen Patienten und weist auf eine klare Unterscheidung zwischen religions-, migrations- und kulturspezifischen Faktoren hin. Ihr geht es vielmehr darum, die Bedeutung der Religion und der Identität des Patienten zu ergründen sowie die Rolle der Religiosität in Stress- und Konfliktsituationen und den Wert der Unterstützung, den der Patient durch die Teilnahme am religiösen Leben erfährt (Schouler-Ocak 2020: 207). 

Immerhin: unter muslimischen Aktivisten, Seelsorgern und auch Therapeuten scheint es in sozialen Netzwerken verstärkte Bemühungen zu geben, für die Akzeptanz von Muslimen gegenüber der Psychotherapie zu werben. Inzwischen sind zahlreiche Internetangebote entstanden, die über psychische Problemlagen in Verbindung mit religiösen Deutungsmustern aufzuklären versuchen. Allerdings dürfte es hierbei sowohl in Fachkreisen als auch unter Beobachtern unterschiedliche Auffassungen geben, wie groß die Rolle und der Blick auf die Religion in Therapie-Settings tatsächlich sein sollte. Denn mit den Methoden und fachlichen Kompetenzen, die muslimische und nichtmuslimische Therapeuten und Psychiater im Laufe einer jahrzehntelangen Ausbildung (Studium, therapeutische Ausbildung, Hospitanzen etc.) erwerben, kann prinzipiell jedem Menschen geholfen werden.

Quellenverweise:

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Utsch, Michael (2020): Psychotherapie zwischen Spiritualisierung und weltanschaulicher Neutralität - Zur Bedeutung der religiös-spirituellen Dimension für Psychiatrie und Psychotherapie, in: in: Mönter/Heinz/Utsch (Hrsg.): Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie. Basiswissen und Praxis-Erfahrungen, Stuttgart, S. 52-59.