Dienstag, 28. Mai 2024

Marcel Krass und das "Salafi-Burnout"

"Shura Zeit" (Quelle: YouTube)
Marcel Krass war jahrelang ein bekannter Prediger der Salafisten-Szene. Nun hat er sich zum wiederholten Mal von ihr distanziert. Kann man ihm Glauben schenken?

Ein Prediger, der längst draußen ist

Marcel Krass hat sich vor mehreren Wochen unmissverständlich von der Salafisten-Szene distanziert. In dem YouTube-Podcast "Shura Zeit" setzte er sich mit seinem eigenen Werdegang, seinem Aufstieg als beliebter Prediger in der Szene und mit den Zweifeln an seinen eigenen Grundüberzeugungen auseinander. Der Auftritt des Predigers war offenkundig wohl kalkuliert. Denn Medien hatten in den letzten Monaten verstärkt über seine Auftritte in Moscheegemeinden in ganz Deutschland berichtet und vor einem "Terror-Unterstützer" und "radikalen Salafisten" gewarnt. Doch dass sich Krass schon länger nicht mehr der Salafismus-Szene zugehörig fühlt, die seit Jahren tief zerstritten ist und auch er dabei immer wieder im Zentrum der Kritik stand, scheint bei vielen Beobachtern untergegangen zu sein.

Schon vor Jahren hatte Krass in einem Video der von ihm gegründeten "Föderalen Islamischen Union" (FIU) Zweifel an seinem Weg geäußert. Damals hatten Szene-Anhänger ihm bereits eine Abkehr vom Salafismus unterstellt, weil er sich selbst mit dieser Zuschreibung nicht mehr angesprochen fühlte. Ehedem hätte man noch unterstellen können, dass diese Distanzierung einer neuen Öffentlichkeitskommunikation geschuldet war, mit der Krass sich strategisch neu aufzustellen versuchte. Kontakte zu Personen aus dem Umfeld der Hizb ut-Tahrir, der Furkan-Gemeinschaft und anderen Milieus deuteten darauf hin. Auch war er zuvor noch lange Zeit für das Prediger-Netzwerk "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG e.V.) aktiv. Trotz allem scheint sich Marcel Krass in den vergangenen Jahren verändert zu haben. Er zählt nicht mehr zur Salafisten-Szene.

"Ich war einige Jahre lang unerträglich"

Man sieht Marcel Krass die Nervosität an, mit der er in dem Podcast "Shura Zeit" über sein Leben referiert. Der Auftritt scheint ihm wichtig zu sein und über die Reaktionen in der Szene auf seine Aussagen dürfte er sich vorher offenkundig bewusst gewesen sein. Marcel Krass sitzt zwei jungen Männern gegenüber, Erden A. und M. Sinan D., die im Internet Content zu islamischen Themen veröffentlichen. Krass erzählt ihnen, wie er sich Ende der 1990er Jahre dem Islam zuwandte und sich stärker mit der Religion auseinandersetzen wollte. Er berichtet, dass es damals vor allem die Salafisten waren, die in der Öffentlichkeit Konvertiten wie ihm und anderen, die kein Arabisch beherrschten, deutschsprachige Angebote unterbreiteten. So sei er schon zu Beginn seiner Hinwendung in dschihadistischen Umfeldern in Süddeutschland hineingerutscht und habe sich in der Folge den typischen Habitus eines Salafisten zugelegt: Kaftan, Turban, buschiger Bart, intolerant und kompromisslos. 

"Ich war einige Jahre lang unerträglich. Denn ich war ja der einzige richtige Muslim", so Krass sarkastisch über diese Zeit. Er beschreibt dies als Phase, in der er narzisstisch gewesen sei, das Gefühl gehabt hätte, zu einer Avantgarde ("Kultrichtung"/"Elite") zu gehören und sich dies auch gut angefühlt habe. Er habe in der Moschee ständig Streit gesucht. "Es ging darum, jemand anderen zu besiegen", auch wenn ihm selbst zu bestimmten Themen Wissen gefehlt habe. Mit dem Internet sei das alles noch viel schlimmer geworden. Eine Internetseite mit dem Namen "al-Walā' wa-l-barā'" ("Loyalität und Lossagung") habe ihn besonders fasziniert. Denn sie bot solche Informationen an, die das damit verbundene Abgrenzungsverhalten gegenüber vermeintlichen Ungläubigen bei den Besuchern verinnerlichen sollten.

Zu Beginn des Gesprächs wird Krass schonmal deutlich. Es reiche nicht aus, so der Prediger, dass man seine Überzeugungen einfach nur mit "Koran und Sunna" begründe. Man müsse hierfür auch Quellen studieren und Rechtsschulen betrachten, um sich Urteile erlauben zu können. Sonst gerate man schnell in das Schwarz-Weiß-Denken, dem er selbst als junger Mann verfallen sei. "Es gibt Gründe, warum Gelehrte 30 Jahre lang den Islam studierten", so Krass. Und auch diese hätten keine alleinige Deutungsmacht. Er selbst habe als Lehrer unerfahrenen Menschen Dinge beigebracht ("den härtesten Stoff von ibn Abd al-Wahhāb überhaupt"), die "gefährlich" gewesen seien, beispielsweise schablonenhafte Glaubensgrundsätze, ab wann ein Muslim nicht mehr dem Islam angehöre. "Da darfst du dich nicht wundern, wenn jemand zehn Jahre später beim IS landet", so Krass rückblickend.

"Salafi-Burnout"

Marcel Krass weist im weiteren Verlauf des Gesprächs darauf hin, dass nur Äußerlichkeiten oder die teilweise Erfüllung von vermeintlichen islamischen Pflichten nicht ausreichten, um sich Koran und Sunna zuzurechnen. "Jetzt verbinde das mit der Ego-Sache und es kommt nur toxisches dabei heraus." Hatten er und andere salafistische Prediger ab 2007 über das Internet versucht, Jugendliche mit dem Islam vertraut zu machen, habe er später allerdings auch Widersprüche bemerkt. Viele Familien seien durch die ideologisierten und fanatischen Kinder zerrüttet oder zerstört worden. Er wisse, was er selbst früher als Prediger angerichtet habe, so Krass.  Dabei sei es doch wichtig, dass Jugendliche eine gesunde Form des Islam erlernten, der anschlussfähig bei Moscheegemeinden und in Familien sei. Missionierung und Lehre gingen dabei nur über "Sanftheit" und "Liebe", statt über autoritäre Regeln und Sanktionierungen.

Dann sei bei Krass im Laufe der 2010er Jahre eine Zeit über ihn hereingebrochen, die er als Erschöpfungszustand beschreibt, als "Salafi-Burnout". Auch andere Aussteiger berichteten von einem solchen Zustand. "Ich hatte das Gefühl, dass das Herz immer schwerer und kälter wird", so Krass. Er habe sich von den eigentlichen Zielen der Religion entfernt, habe vielmehr auf Rechthaberei und Selbstbestätigung geachtet. Er sei dadurch immer unglücklicher geworden und habe gefürchtet, dass er vom Islam irgendwann genug haben könnte. Seine Zweifel nahmen mit der Gründung des "Islamischen Staates" (IS) in Syrien und im Irak im Jahr 2014 zu, der bei Krass zunächst offenes Interesse hervorgerufen hätte, was er sich im Nachhinein nur schwer erklären könne. "Es war die Anwendung von dem, was ich einige Jahre vorher selbst unterrichtet hatte. Das war die Praxis davon", berichtet Krass. Doch in Wahrheit sei der IS "die Entwertung menschlichen Lebens" gewesen. Hatte er seinen Schülern noch harsche Takfir-Regeln beigebracht, setzten diese zu Hause in ihren Familien und anschließend in Syrien seine Lehren in grausamer Weise in die Praxis um. Dafür mache er die Salafisten verantwortlich, auch wenn er diese im Gespräch nicht direkt erwähnt. "Die Leute, die aus bestimmten Hochburgen nach Syrien reisten, kamen aus einer bestimmten Richtung", so Krass.

Nach diesen einschneidenden Erfahrungen habe Krass anschließend einen spirituellen Neufindungsprozess durchlaufen, durch den er sich viel stärker mit der Vielfalt der Islamwissenschaft auseinandersetzte. Nachdem ihm als Lehrer gekündigt worden sei, habe er sich 2014 für die Auswanderung nach Marokko entschieden. Dort habe er die malikitische Rechtsschule kennengelernt, zu der er sich heute bekennt. 2017 kehrte er nach Deutschland zurück und änderte seinen Kurs. Bei seinen Vorträgen seien Frauen ohne Kopftuch heute willkommen, so der Prediger. Er befasse sich nur noch mit Themen, die mit der Lebensrealität von Muslimen im Einklang stünden. Denn was bringe es, wenn Jugendliche ihre Eltern, die nicht gläubig seien, zu Kuffar erklären würden? Vor allem versuche er, den Schaden wieder gut zu machen, den er in früherer Zeit angerichtet hätte.

Performer-Individualität statt fanatischer Reaktionismus

Selten hat sich ein Prediger, der so beliebt ist und auch keinen Gerichtsprozess am Hals hat, derart offen mit seiner eigenen Rolle bei der Radikalisierung von Jugendlichen auseinandergesetzt. Krass hat mit der Szene gebrochen, soviel scheint klar. Es war offenkundig ein langer Distanzierungsprozess in Etappen, der sich auch anhand seiner Öffentlichkeitsarbeit nachvollziehen lässt. In den späten 2010er Jahren tauchte er zwischenzeitlich ab. 2022 bezeichnete er sich schließlich als Athari (einer immer noch sehr konservativen islamischen Strömung) und distanzierte sich bereits von den Salafisten. Letzteres seien für ihn eine Bewegung, er folge nur noch dem Glaubensweg, so Krass damals, der zugleich anfing, Botschaften von liberaleren Predigern auf seinen Social Media-Kanälen zu teilen. Seine Zugehörigkeit bei der DMG e.V. endete schließlich kurz danach, wie er dem Bayrischen Rundfunk bestätigte. Salafisten und Hardliner hatten ihn damals wegen seinen moderaten Tönen auf die verbale Abschussliste gesetzt. Doxingattacken gegen Krass und seine Familie und heftige Anfeindungen waren die Folge. Auch nach der Veröffentlichung des Podcast "Shura Zeit" hagelte es Kritik. Erstmals äußerten sich sogar Abul Baraa, Pierre Vogel und Abu Abdullah zu ihm und kritisierten seine Aussagen. Als Philosoph der "Kalam" und als Sufi wird er von ihnen dargestellt, der islamische Gesetzmäßigkeiten in Frage stellen wolle. 

Krass indes wandelt heute vor allem in Kreisen, deren Events in ihrer Inszenierung frappierend an die von Freikirchen und Evangelikalen erinnern. Denn in den letzten Jahren haben viele Muslime ohne direkte Szeneangehörigkeit damit begonnen, sich an der Missionierung und der Auseinandersetzung mit der eigenen Religion im Internet zu beteiligen. Auf deutschsprachige Dawa-Pioniere wie Pierre Vogel oder Abul Baraa sind sie nicht mehr angewiesen, denn sie teilen offenkundig deren ultrakonservativen Einstellungen nicht (mehr). Vielmehr wird gecoacht, beraten und ein positives "Mindset" propagiert. Missionierung, der Glaube und zugleich Erfolg im Leben (d.h. auch Integration in die hiesige Gesellschaft) werden in den Vordergrund gestellt. Zwar handelt es sich bei Krass' Publikum sicherlich auch um konservative Muslime, unter denen sich auch fragwürdige Personen aus der Vergangenheit tummeln, allerdings um solche, die mit dem Zeitgeist gehen wollen. Seine Zuhörer sind modern gekleidet, häufig Akademiker, Intellektuelle oder junge Geschäftsleute. Geschlechtertrennung oder Kleidungsvorschriften scheinen lockerer gehandhabt zu werden.

Zweifel an Krass' Lebenswandel bleiben dennoch unter einigen Beobachtern bestehen. Sie fürchten, dass sich dieses Milieu, ähnlich wie es Muslimbrüdern nachgesagt wird, unter dem Deckmantel der Liberalität Einfluss in der muslimischen Community oder der deutschen Gesellschaft zu verschaffen versucht. Und in der Tat gibt es Meinungen und Positionen von Krass, die zwar von der Meinungsfreiheit gedeckt, aber nicht unbedingt mit dem pluralistischen Gedanken einer freiheitlichen Gesellschaft in Einklang zu bringen sind. Insofern ist ihre Problematisierung natürlich legitim und weiterhin notwendig. Das allerdings beweist keine Zugehörigkeit zur Salafisten-Szene. Denn auf der anderen Seite sollte die präventive Wirkung von Krass' Aussagen auf Jugendliche und Anhänger definitiv nicht unterschätzt und zugleich anerkannt werden.