Dienstag, 1. März 2022

Hidschra nach Bilad Schinqit

Seit mehr als einem Jahr werben deutschsprachige Akteure in sozialen Medien für eine Reise nach Mauretanien. Sie versprechen ein einfaches Leben, Sicherheit und kostenlose Islam- und Arabischkurse. Wie lässt sich die Begeisterung für das Land erklären?

Die Muhadschirun in Bilad Schinqit

Jahrhundertelang war Mauretanien in der arabischen Welt als Bilad Schinqit bekannt - das "Land von Chinguetti". Chinguetti war ein alter Karawanen-Handelsposten und ist heute eine der ältesten und bekanntesten Städte Mauretaniens. Der Grund: jahrhundertelang fanden Reisende aus aller Welt Schutz und Zuflucht in der Stadt und brachten dabei auch islamische Schriften mit. Chinguetti wurde ab dem 16. Jahrhundert mit ihren islamischen Bibliotheken zu einer bekannten religiösen Lehr- und Lernstätte.

Chinguetti galt deshalb zeitweise auch als siebtes Heiligtum im Islam, bevor mit dem europäischen Kolonialismus ein Bedeutungsverlust einherging. Doch der Status von Mauretanien als Bildungszentrum der islamischen Welt, das Wissen aus ersten und verlässlichen Quellen beherbergt, ist bis heute erhalten geblieben. Die mauretanischen Gelehrten genießen aufgrund ihrer "unverfälschten" religiösen Bildung international hohes Ansehen. Die traditionellen Lernmethoden, die arabische Grammatik (Nahw) und die malikitische Rechtsprechung (Fiqh) ragen dabei heraus. Im gesamten Land gibt es religiöse Schulen (mahadras), zu denen Muslime aus aller Welt pilgern, um dort Arabisch zu lernen und den Islam zu studieren. 

Zahlreiche Erfahrungsberichte sind im Internet zu finden, in denen ausländische Muslime über ihre Zeit in Mauretanien berichten. Vielleicht auch deshalb scheinen europäische Salafisten sich der Anziehungskraft dieses Landes nicht entziehen zu können. 2021 berichtete Brune Descamp in Insight des Global Network on Extremism & Technology über Online-Aufrufe französischer Hardliner, die Hidschra (Emigration in ein "islamisches" Land) nach Mauretanien in Erwägung zu ziehen. 2018 seien in sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten mehrere Kanäle entstanden, in denen französische Muhadschirun (Auswanderer), die sich unweit der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott bzw. in Nouadhibou niedergelassen hatten, Verwandte und Freunde in Europa über die günstigen Lebenbedingungen und die Vorzüge in Mauretanien informierten. 2017 hätten laut Descamp sogar dschihadistisch orientierte Salafisten, die nach Syrien auszureisen planten, aufgrund der positiven Berichte ihr Reiseziel nach Mauretanien verlegt.

"Koran-Rezitationen in der Sahara"

Seit weit über einem Jahr haben auch einige Deutsche diesen doch überraschenden Trend adaptiert. In Kanälen auf mehreren sozialen Plattformen mit teilweise hunderten Abonnenten werben sie gegenüber "Geschwistern aus Deutschland, der Schweiz und Österreich" für eine (Aus-)Reise nach Mauretanien. Darunter scheint ein Ort besonders interessant zu sein, da er auch bei anderen europäischen Auswanderern Erwähnung findet: Umm al-Quraa, ein kleines Dorf, etwa 60 Kilometer östlich von Nouakchott entfernt. Dort befindet sich eine Schule, die große Bekanntheit durch ihren 2009 verstorbenen Leiter, Schaykh Muhammad Salim ʿAbd al-Wadud (oder Muhammad Salim Ould 'Adud), erlangte. al-Wadud, der zu den bedeutendsten Gelehrten des 20. Jahrhundert in Mauretanien gezählt wird, erwarb seinen Ruf durch seine Expertise im Bereich der malikitischen Rechtsprechung, der arabischen Sprache und Grammatik, der Poesie und der Prophetenbiografie (sira) (Frede 2021). Auch in der mauretanischen Politik übte er einflussreiche Ämter aus.

Screenshot: Umm al-Quraa

Umm al-Quraa scheint aber auch ein ambivalenter Ort zu sein, zumindest nach dem Tod von al-Wadud. Tatsache ist wohl, dass sich Anfang der 2010er Jahre dort viele Anhänger der Tabligghi Dschamaat einfanden, einer radikal-islamistischen, aber eher unpolitischen Bewegung. Aber auch als "Salafi-Dorf" wurde Umm al-Quraa von anderen bezeichnet -  und von Salafisten wiederum als "Sufi-Dorf". Doch so einfach könne man nicht urteilen, meint der Brite Omar Dacosta-Shahid in einem eigenen Reisebericht, der Mitte der 2010er Jahre in dem Dorf im Rahmen eines Arabisch-Kurses mehrere Monate verbrachte. "I saw the Islam practiced here was a normative and pure form of the faith, untainted by nefarious outside influences. It was neither extreme, nor too lenient, carefully safeguarding the ancient, sacred knowledge found in the Islamic tradition, a truly precious thin in a world where true religion is dissipating.

Das meinen auch diejenigen aus dem deutschsprachigen Raum, die Besuchern oder auswanderwilligen Menschen das dortige Leben erklären: "Was gibt es schöneres, als eine Koran-Rezitation mitten in der Sahara/Nacht anzuhören, während man gleichzeitig die Schöpfung Allahs betrachtet?", heißt es in einem Kanalbeitrag.

Nur dogmatisch und völlig losgelöst von ideologischen Verbindungen scheint der Ort allerdings nicht zu sein. Mit Umm al-Quraa soll auch der Name von Muhammad al-Hassan al-Dadaw (oder auch Schaykh Muhammad al-Hasan al-Dedew) verbunden sein, ein Enkel des ehemaligen Leiters al-Wadud.  al-Dedew gehört zur Prominenz von Gelehrten in der islamisch-arabischen Welt und erfreut sich in der mauretanischen Jugend großer Beliebtheit. Er studierte und lehrte lange Zeit in Saudi-Arabien und leitet zahlreiche mahadras in Mauretanien. Dort gilt er auch als Spiritus Rector der heimischen Salafisten und der islamistischen Oppositionspartei Tewassoul. 2009 kam er ins Gefängnis, nachdem er Pläne der damaligen mauretanischen Regierung scharf kritisiert hatte, diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. 2018 ließen die mauretanischen Behörden zudem eine bekannte Schule von ihm in Nouakchott, die Markaz Takwin al-Ulema, schließen, unter dem Vorwurf, dass diese Extremismus verbreiten würde. Auch bei dschihadistisch orientierten Gruppen kommt al-Dedew durchaus gut an. 2020 rief er beispielsweise auf einem Telegram-Kanal der Kassam-Brigaden zur finanziellen Unterstützung des Dschihads in Palästina auf. 

Screenshot (Instagram): Hamdan ibn Muhammad Salim Adud/Muhammad al-Hassan al-Dedew (r.)

In der deutschen Salafistischen-Szene ist al-Dedew ebenfalls kein Unbekannter, wenngleich er umstritten ist. Einerseits wird er von vielen als "Großgelehrter der Ummah" betrachtet. Takfiristen werfen ihm andererseits vor, zu den "üblen Gelehrten" zu gehören, weil er in der Vergangenheit mit dem Einverständnis der mauretanischen Regierung mit inhaftierten Dschihadisten und Salafisten gesprochen hatte, was ihm den Vorwurf des "Taghut"-Kollaborateurs einbrachte. 

al-Dedew spielte für die deutschsprachigen Auswanderer im Gegensatz zu anderen europäischen Ablegern in der Öffentlichkeitsarbeit bislang keine Rolle. Sie werben wie andere vor allem mit einem idealisierten Bild vom Leben vor Ort abseits der westlichen Zivilisation. Den Islam in seiner unverfälschten Form inmitten einer archaisch-romantisierten Umgebung zu erlernen: darum geht es primär den Protagonisten. Sie zeigen Bilder und Videos von Gebeten in der Wüste, von Sonnenuntergängen und -aufgängen, vom Baden im Atlantik und vom Alltag in Umm al-Quraa und Noakchott. "Hier gibt es echt viele schöne Sachen zu sehen für nicht all zuviel Geld", so eine Beschreibung. Man könne in Lebensmittelgeschäften alles kaufen, was das Herz begehre: Spaghetti, Süßigkeiten, Kartoffeln, Windeln, Fleisch, Cola etc. Auch beruflich könne man sich etwas aufbauen, z.B. im Online-Handel oder im Import-Export-Geschäft.

Wie kommt man nach Mauretanien? Hierzu geben die Auswanderer grundsätzliche Tipps. Am Flughafen erhalte man ein Visum für einen Monat, das monatlich für 60 € verlängert werden könne. In Umm al-Quraa stelle man sich dann dem Gelehrten vor. Für Unterkünfte gäbe es entweder kostenlose Studentenzimmer, die man mit einer Person teilen müsse oder Wohnungen für Familien, die monatlich etwa 50-80 € kosteten. Auch Häuser könne man sich ab etwa 5000 € bauen lassen. Für den monatlichen Lebensunterhalt fielen gerade einmal 100 bis 150 € an. Um all dies organisieren zu können, böte man Hilfe an: ob bei der Abholung vom Flughafen, bei einer mehrtägigen Begleitung oder beim Papierkram. 

Doch die Deutschen in Mauretanien warnen angesichts möglicher Überraschungseffekte für Neuankömmlinge: wer die Hidschra machen wolle, solle sich zunächst selbst ein Bild vor Ort machen. "Denn die Hidschra ist ein großer Gottesdienst, welches man sich gut überlegen muss, wohin es am Ende doch nun hingeht."

Idealisierung versus Realität

Mauretanien ist nämlich abgesehen vom Reichtum an islamischen Wissen aus sozioökonomischer Perspektive ein sehr armes Land. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung (HDI) von 2019, dem sogenannten Wohlstandsindikator, der von den Vereinten Nationen erhoben wird, belegt die islamische Republik Platz 157 unter 189 aufgeführten Ländern. Unter Auswanderern beliebte Ziele wie Ägypten, Marokko oder Saudi-Arabien versprechen daher wesentlich mehr Komfort als Mauretanien.

Auch beim Thema Menschenrechte sieht es aus westlicher Perspektive in Mauretanien nicht zufriedenstellend aus: die Rechtsprechung des Landes orientiert sich an der Scharia, ähnlich wie in Saudi-Arabien. Glaubensübertritte, Homosexualität oder Drogenkonsum können durch die Justiz hart bestraft werden. Frauenrechte sind ebenfalls erheblich eingeschränkt. Die politische Opposition wird zudem unterdrückt. Sklaverei ist zwar seit 1980 verboten, allerdings sollen immer noch zehntausende Schwarze der Haratin, die immerhin 40 Prozent der mauretanischen Bevölkerung ausmachen, in derartigen Unterdrückungssystemen leben. 

Screenshot (Instagram): Opferfest ausländischer Auswanderinnen in Umm al-Quraa
 
Hinzu kommt die volatile Sicherheitslage: Das Land grenzt mit Mali und Algerien an zwei Krisengebiete, in denen kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden und die immer wieder drohen, nach Mauretanien überzugreifen - besonders aus Mali, wo islamistische Allianzen wie die Dschamaat Nusrat al-Islam wal-Muslimin (JNIM) Einwohner und Sicherheitskräfte terrorisieren. Jetzt, da europäische Friedenstruppen, die kaum Akzeptanz in der malischen Bevölkerung gefunden haben, abgezogen werden, könnte sich die Situation auch für Mauretanien verschlechtern, auch wenn die Lage seit Jahren stabil erscheint. Islamisten aus Mali versuchten in der Vergangenheit immer wieder die Grenze zu überqueren und die dortige Landbevölkerung mit Wohltaten für sich zu gewinnen. 

Die Vereinten Nationen haben die Gefahr einer unberechenbaren Kombination von Korruption, Chancenungleichheit, Armut unter Jugendlichen und Radikalisierung längst erkannt und versuchten in den vergangenen Jahren mit mehreren Präventionsprogrammen darauf zu regieren. Auch die NATO und die Europäische Union leisten finanzielle Hilfen an die mauretanische Regierung, um salafistische und andere fundamentalistische Gruppierungen zu bekämpfen.

Insofern ist es ein bemerkenswertes Phänomen, welche Anziehungskraft Mauretanien trotz der schwierigen Lebensbedingungen auf europäische Dogmatiker ausübt. Es ist vor allem die Sehnsucht nach einem asketischen Lebensstil und einem Gefühl, die Religion frei ausüben zu können.