Donnerstag, 13. April 2023

"Soll man etwa riechen können, was jemand plant?"


Kutjim F. ermordete 2020 im Namen des sog. "Islamischen Staats" (IS) vier Menschen in Wien. Im Februar dieses Jahres wurden Mitwisser zu teilweise langen Haftstrafen verurteilt. Auch mehrere Deutsche sollen Kontakt zu F. gehabt haben. Darunter ist ein Mann, der in der deutschen Szene schon länger aktiv ist.

"Radikal-islamische Gesinnung"

Im Februar dieses Jahres verurteilte das Wiener Landesgericht nach 15 Verhandlungstagen mehrere Männer wegen ihrer Beteiligung am Terroranschlag von Kutjim F. im November 2020. Zwei Angeklagte erhielten lebenslange Haftstrafen, zwei weitere wurden zu jeweils knapp 20 Jahren Haft verurteilt. Die Geschworenen waren davon überzeugt, dass die vier Männer Kutjim F. bei der Vorbereitung des Anschlags und der Beschaffung seiner Waffen geholfen hatten. Der Terrorismusforscher Guido Steinberg kommentierte die Schuldsprüche, dass es sich bei den Mittätern um "Randfiguren" gehandelt habe, die "ein bisschen desorientiert waren in der dschihadistischen Szene und deshalb eben erst sehr, sehr spät zu diesem Anschlag gekommen sind."

Die Verurteilten gehörten auch zu einer Gruppe von Männern, die sich im Sommer 2020 in Wien mit Kutjim F. vor dessen Anschlag getroffen hatten. Darunter waren auch zwei Deutsche: Der Kassler Drilon G. und der Osnabrücker Blinor S. Nur wenige Tage nach dem Anschlag hatten deutsche Ermittler Hausdurchsuchungen bei den beiden durchgeführt. Damals waren sie aber noch nicht als Verdächtige geführt worden, sondern als Zeugen. Das änderte sich im Juni 2021. Spezialeinheiten der Polizei durchsuchten ein zweites Mal die Wohnungen von G. und S. Inzwischen hatte man die beiden mit dem RADAR-iTE, einem Tool für Ermittler zur Gefährder-Einstufung, erstmalig bewerten lassen, wie der Staatssekretär Hans-Georg Engelke in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken berichtete. Zu den Ergebnissen wollte man sich aus ermittlungstaktischen Gründen öffentlich nicht äußern. Die Generalbundesanwaltschaft schrieb damals aber zu den Hausdurchsuchungen in ihrer Pressemitteilung:

"Sowohl Blinor S. als auch Drilon G. verfolgen ebenfalls eine radikal-islamische Gesinnung und standen schon geraume Zeit vor der Tat über soziale Medien in engem Kontakt mit Kujtim F. Kurz nachdem dieser das bei dem Anschlag verwandte Schnellfeuergewehr erworben hatte, reisten beide Beschuldigte im Juli 2020 für mehrere Tage zu ihm nach Wien, übernachteten dabei auch in dessen Wohnung und trafen sich gemeinsam mit Kujtim F. mit weiteren Personen aus dem islamistischen Spektrum Österreichs und der Schweiz." Spätestens "seit diesem Besuch", so die Behörde weiter, hätten G. und S. aufgrund ihrer "engen persönlichen Beziehung" zu F. und "ihrer gemeinsamen radikal-islamistischen Gesinnung" von dessen Anschlagsabsichten etwas geahnt haben müssen. Am Abend vor dem Anschlag in Wien hätten G. und S. zudem damit begonnen, die Spuren ihre Kommunikation aus Chats auf den Handys und ihren Social Media-Profilen zu löschen.

"Ich habe mit der Tat rein gar nichts am Hut"

Unabhängig vom Verdacht der Generalbundesanwaltschaft, war vor allem Drilon G. damals schon in der Szene kein Unbekannter. Denn zur gleichen Zeit der Hausdurchsuchungen hatte er im Mittelpunkt von Konflikten gestanden, die im Internet ausgetragen wurden. 

"Es herrscht mittlerweile ein Niveau mit dem ich mich nicht weiter identifizieren kann", schrieb der Berliner Prediger Eyad Hadrous im Juni 2021 auf seinem inzwischen gelöschten Telegram-Kanal. "Es handelt sich nicht mehr um theologischen Austausch, vielmehr geht es nur noch um die Diffamierung des Gegenüber [...]. So ein Verständnis habe ich von keinem der Lehrer der Ahl as-Sunnah wal-Jamm'ah gelernt und deswegen werde ich das Thema auch beenden." 

Seiner Reaktion vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen mit einem Teil der Szene, der seit einigen Jahren mit seinen aggressiven Attacken auf das ältere Establishment von Predigern für Aufsehen sorgt. Und laut Hadrous zogen dabei zwei Männer die Fäden im Hintergrund, von denen einer  bereits zuvor bundesweit ins Rampenlicht gerückt war: Drilon G., der inzwischen zumindest im Internet eine beträchtliche Anzahl von Anhängerinnen und Anhänger hinter sich scharen konnte. Vor allem bei seinem Namen wurden einige Beobachter und auch Szene-Anhänger stutzig. G. gilt seit Jahren als Provokateur in salafistischen Foren und fiel vor allem mit selbstbewussten Auftritten auf, andere Glaubensbrüder zu attackieren. "Da kommt dieser kleine Junge und gibt mit seinem halbwissen (sic!) an, das er Mal auswendig gelernt hat", meinte ein berüchtigter Hacktivist der Salafisten-Szene, als er vor über einem halben Jahrzehnt mit G. aneinander geriet. 

Prediger Eyad Hadrous (Screenshot/Youtube)
Auch Eyad Hadrous und einige seiner Prediger-Kollegen schienen sich vor mehreren Jahren mit dieser Situation auseinandersetzen zu müssen, als G. sie auf Telegram und anderen Plattformen denunzierte. Hadrous lüge über seine akademische Ausbildung und vertrete die falsche Aqida, warf G. ihm vor. Ersteres reagierte wohl zunächst zurückhaltend, bevor er zum verbalen Gegenschlag ausholte. In seinem Beitrag auf Telegram doxte er G. und brachte ihn mit Kutjim F. und dem Terroranschlag in Wien öffentlich in Verbindung.

Der kurze Zeitraum zwischen Hadrous' Veröffentlichung und den Durchsuchungen im Juni 2021 führte umgehend zu Vorwürfen gegenüber dem Prediger und zu Solidaritätsbekundungen von salafistischen Anhängern mit Drilon G. Bernhard Falk brachte damals die "hässliche Hetze" von Hadrous als möglichen Auslöser für die Polizeirazzia bei G. ins Spiel. Auch der Wormser Prediger Raheel Zafar alias Abu Saliha verurteilte das Verhalten des Berliners. Drilon G. selbst wehrte sich auf seinen Kanälen gegen die "Lügen" von Hadrous. "Ich habe mit der Tat rein gar nichts am Hut, wusste nichts von ihr und befürwortete sie auch nicht, und Allah ist hierfür mein Zeuge", schrieb er. Als "Dāʿiyah" (Aufrufer zum Islam) treffe man nunmal allerlei Leute, die man nicht kenne, so G. "Soll man etwa riechen können, was jemand plant?"

"Öfters Kontakt mit ihm"

Bislang gab es in der Tat keine Anklage und auch kein Gerichtsverfahren gegen G. Doch vielmehr steht der Konflikt zwischen Eyad Hadrous und vielen Predigerkollegen mit Kontrahenten wie Drilon G. in einem übergeordneten Zusammenhang. Nicht nur die Infragestellung der "altehrwürdigen" Autoritäten ("Palastgelehrten") spiegelt sich darin wider, sondern das Zusammenrotten eines durchaus Dschihadismus-affinen Milieus in den vergangenen Jahren, das sich allerdings nicht eindeutig bestimmten Gruppen zuordnen lässt. Die locker sitzende Takfir-Praxis lässt Bündnisse entstehen, allerdings auch schnell wieder durch die zahllosen Differenzen untereinander bröckeln. Wer sich heute noch zum IS bekennt, kann sich morgen bereits von den "Khawarij" distanzieren und sich einer neuen Gruppe anschließen. So konnte es mutmaßlich auch dazu kommen, dass 2020 in Wien "desorientierte" Männer zusammenkamen, die sich ihrer grundsätzlichen ideologischen Haltung zwar einig waren - z. B. die Ablehnung des "Taghuts", der "Palastgelehrten" oder des Westens -, die aber aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen Persönlichkeitsfaktoren und Lebensumständen, Einflüssen und Umfeldern, in verschiedene Richtungen tendierten.

Die Textbeiträge des Drilon G., auch vor dem Anschlag in Wien, lassen keine dezidierten Sympathien mit dem IS erkennen, für den Kutjim F. laut Wiener Ankläger tötete. Allerdings gehört G. zu einem Kreis von deutschen Salafisten, der die Botschaften von einschlägig bekannten Predigern mit Dschihadismus-Nähe verbreiten und die als Vorbild von vielen Syrien-Ausgereisten dienten. Auffällig dabei ist, dass die meisten dieser Prediger auch während des syrischen Bürgerkriegs nie eindeutig Partei für eine dschihadistische Gruppe ergriffen hatten. Sie spielten mit Narrativen und Andeutungen, ohne einen Schritt zu weit zu gehen. Sie blieben damit für viele Salafisten unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit und Strömungen  glaubwürdig.

Laut Autobiografie erlernte Drilon G., der albanische Wurzeln hat, zunächst Arabisch und vertiefte sich dabei immer mehr in die salafistische Ideologie. Albanisch- und englischsprachige Prediger dienten ihm dabei als Wegweiser. Insbesondere auf den berüchtigten Prediger, Ahmad Musa Jibril, beruft sich G. bis heute sehr oft. Jibril, ein in Dearborn (USA) ansässiger Prediger, der in Medina islamisches Recht studiert hatte, veröffentlichte bereits in den 1990er Jahren antiamerikanische Pamphlete, die auf den Kampf gegen die "Kuffar" (Ungläubige) anspielten. Während des syrischen Bürgerkriegs, so das "International Center for Study of Radicalisation and Political Violence" (ICSR), folgten allein 60 Prozent der vom ICSR beobachteten Dschihadisten in Syrien dem Prediger auf Twitter. Der Terrorismusforscher Bernd Neumann konstatierte, dass Jibril Dschihadisten eine politische und theologische Legitimation liefere und diese darin bestärke. Wegen Betrugs und weiterer Delikte, saß Jibril mehrere Jahre eine Haftstrafe ab und geriet auch danach unter Beobachtung. Für Drilon G. war das offenbar keine Abschreckung: "Ich lernte von Shaykh Aḥmad Jibrīl in der Zeit, nachdem er entlassen wurde aus der Haft, bis er in seinen Aktivitäten eingeschränkt wurde, und ich hatte öfters Kontakt mit ihm, und er prägte mich ebenfalls stark in Sachen des Manhaǧ", schrieb er zu seinem Werdegang.

Ahmad Musa Jibril (Screenshot/Youtube)

Doch nicht nur Jibril spielt bei ihm eine Rolle, sondern eine Reihe von Gelehrten, die auch andere deutschsprachige Prediger prägen. Allen voran die Lehren von Abdullah as-Saad, ein saudischer Prediger, der vor Jahren den Dschihad-Kommandeur Amir al-Khattab glorifizierte, beeinflussten G. as-Saad lehrt in Saudi-Arabien. Bei ihm lernen auch die aufstrebenden Prediger Abu Suleyman al-Kurdi und Ibrahim al-Azzazi. Zwischen letzterem und G. kam es allerdings in der Vergangenheit zu Spannungen.

"Es ist mir eine Ehre euch Schaden zuzufügen" 

Drilon G. gehört auch trotz seiner Vergangenheit zu einem einflussreichen Akteur der salafistischen Szene. Auch wenn er sich "nur" als "Talibul Ilm" ("Student des Wissens") betrachtet, folgen ihm allein auf Telegram mittlerweile fast 3.000 Abonnenten. Seit Jahren führt er Konflikte mit zahlreichen bekannten Namen der Szene, die aus seiner Sicht den "richtigen Weg" verlassen hätten. Er kann dabei auch auf die Unterstützung eines eigenen Anhänger-Kreises zählen. Angegriffene Prediger und Szene-Leute verorten ihn wahlweise im takfiristischen oder im dschihadistischen Lager.

Von "Erneurern" und "Murjiah" spricht Drilon G. auf seinen Kanälen immer wieder, Begriffe, die auch der IS in seinen Propaganda-Beiträgen aufgriff. Eine Nähe zur Terrororganisation lässt sich auf dieser Grundlage aber nicht eindeutig konstruieren. G. entgegnete deshalb auf Hadrous' Offenlegung zu dessen Kontakt zum Wiener Attentäter mit dem Argument: "Hatte Pierre Vogel nicht auch Kontakt zu Abu Talha Al-Almani (Anm. Denis Cuspert), weshalb sich die Medien auf ihn und alle anderen Prediger warfen, die mit ihm Kontakt hatten, obwohl sie für die anschließenden Taten nicht die geringste Verantwortung tragen?" Im Grunde eine korrekte Aussage. Unterstellt man aber kein intentional-konspiratives Vorgehen, müsste dennoch danach gefragt werden, ob Vogel wie auch Drilon G. als Menschenkenner die Orientierung ihrer dschihadistischen Kontakte nicht hätten selbst zumindest erahnen müssen.