Sonntag, 9. Januar 2022

Naschid-Rapper RedLion: "Kehre zurück!"

Screenshot (Youtube): RedLion

Der Naschid-Sänger Redlion ist in kurzer Zeit zu einem erfolgreichen Youtuber und Influencer aufgestiegen. Seine Anaschid finden große Resonanz in den sozialen Netzwerken. Wer ist der Mann, für den sich zunehmend auch Akteure der islamistischen Szene interessieren?

"Was für ein Newcomer!"

Anfang Juni letzten Jahres sendete der Youtuber Mois (Zelemkhan Arsanov) seine Show "Nice or Scheiss" auf der beliebten Livestream-Plattform "Twitch". Das Showkonzept basiert darauf, dass der ehemalige Psychologiestudent gemeinsam mit wechselnden Kollegen aus dem Rap- und HipHop-Geschäft Lieder von anderen Künstlern bewertet. Und so kam es im besagten Juni zu einer Überraschung, als diesmal der Jury kein Szene-Rapper präsentiert wurde, sondern der Nashid-Sänger RedLion.

"Der hat 200 Milliarden Aufrufe, Digga. Was für ein Newcomer! RedLion, wer war das denn?", fragte Mois begeistert seine Jury-Kollegen, die Rapper Manuellsen (Emanuel Twellmann) und Fero47 (Ferhat Tuncel). Zur Bewertung stand ein Musikvideo mit dem Naschid "Für das Paradies", in dem es um die Vergänglichkeiten und Lasterhaftigkeiten im Dieseits (Anm. Dunya) und das Paradies (Dschanna) als Lebensziel eines jeden Muslims geht. RedLion berichtet in seinem Lied über sein früheres Leben als Muslim, der Wert auf Oberflächlichkeiten gelegt hätte und durch die Rückkehr zum Glauben ("sabr", "mu'min" etc.) darauf hofft, ins Paradies zu kommen. Doch bemerkenswert ist weniger der Text des Naschid, sondern der rhythmische und schnelle Sprachgesang von RedLion: er rappt.

"Ungewohnt über so ein Thema so jemanden rappen zu hören", meinte Mois treffend in einer Videopause zu seinen Jury-Kollegen. "Bruder, ich kann sowas einfach nicht schlechtreden, das geht einfach nicht", antwortete ihm Fero47. Manuellsen wirkte allerdings irritiert. Offenkundig dachte er darüber nach, wie der Inhalt des Lieds einzuordnen sei. Er wundere sich über den roten Bart des Sängers, so der Rapper schmunzelnd. "Da kannst du mich irgendwo hinschmeißen, wenn er kein dings...ist." Daraufhin begann er zu lachen und murmelte etwas auf Arabisch. "Bruder, was meinst du denn?", fragte Mois ihn irritiert. "What the fuck, ich habe auch einen Bart, Bruder", schob er anklagend hinterher. Manuellsen grinste. "Ich würde gerne wissen, was für ein Landsmann er ist." Nach irritiertem Schweigen waren sich die drei am Ende aber doch einig, dass die Musik mal etwas anderes sei, auch wenn darin schwere Themen behandelt würden. "RedLion, ich küsse dein Herz", meinte der Konvertit Manuellsen schließlich am Ende.

Screenshot: RedLion/Musiker-Jury Manuellsen, Mois und Fero47
  

"Naschid-Rap" eines Hamburgers

RedLion kann mittlerweile als ein kleines Phänomen bezeichnet werden. Er erzielt mit seinen Anaschid, die er auf Youtube veröffentlicht, Klickzahlen im mittleren bis hohen sechsstelligen Bereich. Bereits international - darunter im englischsprachigen Raum - ist er aufgefallen. Für eine musikalische Nische ist das als Newcomer, der vor vier Jahren sein erstes Lied veröffentlichte, aber erst seit einem Jahr regelmäßig nachlegt, bemerkenswert. Noch interessanter sind die Gruppen, die er mit seinen professionell gedrehten Musikvideos erreicht: junge Muslime, aber auch Milieus, die den Umfeldern des legalistischen Islamismus zugerechnet werden können. Anaschid wie Tahajjud (Aufwachen) und As Sahaba (die Altvorderen) haben es sogar in die Verteiler einiger deutschsprachiger IS-Kanäle geschafft.

Der Sänger betrieb aber auch viel Eigenwerbung für seinen Erfolg: "Lasst keinen Raum mehr für Rapper, welche uns und unsere Kinder mit ihren schlechten Inhalten manipulieren. Teilt, kommentiert und liked das Video auf Youtube, für noch mehr Aufmerksamkeit", schrieb er vor Monaten in einer öffentlichen Facebook-Gruppe mit über 50.000 Mitgliedern. Andernorts bewarb er seine Lieder mit dem Kommentar: "Eine wichtige Alternative zu den ganzen Rappern, welche die Jugend mit ihren sinnlosen Texten über Drogen, Frauen und Geld verderben!"

Doch wer ist der Mann, der bislang unter dem Namen RedLion in Erscheinung trat? Bürgerlich heißt er eigentlich Ismael S. Er stammt aus Hamburg, hat afghanische Wurzeln und hat als studierter IT-Fachmann eine eigene Webdesign-Firma. Ein erstes Naschid-Video mit dem Titel Al Furqan (Die Rettung), das S. 2017 veröffentlichte, weist darauf hin, dass der Sänger nicht nur Musik macht, sondern auch Verbindungen zu Hamburger Bewegungen unterhält. Das Video zeigt nämlich durchgängig das Logo der Furkan-Gemeinschaft, einer islamistischen Bewegung, die ihre Wurzeln in der Türkei und vor allem in Hamburg und Dortmund eine starke Anhängerschaft hat. Allerdings irritiert der begleitende Gesang dieses Naschid erfahrende Kenner der Szene: es ist der selbe Gesang, der im Hintergrund eines Propagandavideos des sog. "Islamischen Staates" (IS) schon einmal zu hören gewesen war ("No Respite"). S. damit Nähe zum IS zu unterstellen, ginge allerdings deutlich zu weit, da Anaschid - sofern frei von eindeutigen Positionierungen - häufig nur als Kunstprodukt denn als politisches oder ideologisches Pamphlet angesehen werden.


Doch vor allem für die Furkan-Gemeinschaft in Hamburg, die als demokratiefeindlich gilt und vom dortigen Verfassungsschutz beobachtet wird, fungierte S. in den letzten Jahren als Fürsprecher und warb für Veranstaltungen der Bewegung. Der Sprecher der Furkan-Gemeinschaft in Deutschland, Cenk Göncü, warb in sozialen Medien für das  Unternehmen von S. Und auch so hielt sich letzteres in der Vergangenheit auf seinen Social Media-Profilen mit polarisierenden Meinungsbekundungen selten zurück. 2015 teilte er beispielsweise einen Bericht von "RT Deutschland" über den Gaza-Konflikt, den er mit dem Kommentar versah: "Israel hat keine Daseinsberechtigung". 2019 meinte er, dass "Terroristen in Anzügen" (Anm. die Anti-IS-Koalition) mit ihren Angriffen auf die letzte IS-Hochburg in Syrien, Baghouz, 3000 Menschen getötet hätten. "Das Morden geht weiter, ob auf dem Boden oder aus der Luft", so der Sänger.

"Warum nicht in die andere Richtung?"

Der 29-Jährige scheint mit seiner Musik demnach auch einer konkreten Mission zu folgen. Das haben bereits unterschiedliche Akteure der Szene erkannt. So trat S. bereits mehrmals bei 1komma4k auf, einem wachsenden Outlet zweier Youtube- und Instagram-Influencer, das dem Umfeld von Sympathisanten der Hizb ut-Tahrir nahen Gruppierung "Realität Islam" von Suhaib R. Hoffmann zugerechnet werden kann. Die beiden Protagonisten von 1komma4k, die Offenbacher Studenten Arslan A. und Arnel L., luden Ismael S. zu sich ein und befragten ihn zu seiner Arbeit.

"Wir haben gesehen, okay, es gibt wenige Naschid-Künstler im deutschsprachigen Raum, aber du hebst dich gerade von den anderen ab in dem Punkt. Klar, es gibt definitiv Gesangselemente bei dir, aber du bedienst auch diesen Rap-Stil. Zum Beispiel ein Naschid wie "Kehre zurück" ist total gerappt eigentlich. Und das war genau der Punkt, wo wir gesagt haben, >Okay, Bruder, das ist interessant, das ist fresh und haben das so noch nicht gesehen, wir wollen ins Gespräch kommen<."

Ismael S. schilderte den beiden gegenüber Details zur Produktion seiner Musik. So habe er für die Hintergrundgesänge in seinen Anaschid den kanadischen Naschid-Sänger Ilyas Mao beauftragt, der auf Youtube ebenfalls große Erfolge feiert. Den Rap als Stilmittel habe er deshalb gewählt, weil arabische Anaschid alle den selben Gesangsstil hätten, die in ihren Anfängen stark vom Soul beeinflusst gewesen und heute noch stilprägend seien. Allerdings würden diese weniger anschlussfähig mit den Musikgeschmäckern westlich sozialisierter Muslime sein.

In einem Livestream von Amir El-Shamy, Generalsekretär des österreichischen Da'wa-Netzwerks "IMAN", berichtete S. kürzlich von einer Vergangenheit im Rap-Milieu. "Zur Jahiliyya-Zeit war meine Musik noch mit schlechten Inhalten gefüllt, die zu schlechtem aufrufen und die unüberlegt waren. Es ist "leeres Gerede" gewesen, wie es im Koran erwähnt wird." In einer Vorgruppe von Ausnahmekünstlern der Rap-Szene wie Snoop Dogg und Busta Rhymes sei er früher in Hamburg aufgetreten. Im Backstage-Bereich habe er miterlebt, wie sich die Musiker mit Alkohol und anderen Drogen in Stimmung gebracht hätten, was ihn verstört habe. Mit Beginn seiner Wandlung zum "praktizierenden Muslim" habe er aufgehört Texte zu schreiben und Musik zu machen. Mit Mitte Zwanzig sei er schließlich auf die innovativen Anaschid englischsprachiger Sänger gestoßen, die ihn maßgeblich beeinflusst und dazu motiviert hätten, wieder zu seiner Leidenschaft für Musik zurückzukehren.

Das positive Feedback für die Musik von Ismael S. scheint gewaltig zu sein. Nicht nur die Tatsache, dass namhafte Szeneleute ihn nach kurzer Zeit in ihre Shows einladen, sondern auch viele Jugendliche scheinen sich mit der Musik zu identifizieren. So schilderte S. eine Reaktion eines Hörers ihm gegenüber: "Ich kriege die Bestätigung auf Youtube und durch Nachrichten auf Instagram von Leuten die sagen, >ich höre im Fitnessstudio nur noch deine Anaschid. Vorher habe ich die ganze Zeit Beats, Musik und so weiter gehört [...].< Er meinte: >Ich höre mir diese dreckigen Lieder auch nicht an, weil ich das alles gut heiße, sondern weil es einen coolen Beat hat und mich motiviert beim Training. Er sagt: >Jetzt habe ich das durch einen Naschid, durch eine Sache, die halal ist und sogar noch einen guten Text hat. Und dadurch kann ich das jetzt zum Training benutzen>."

Das Ziel des Naschid-Raps von S. scheint somit deutlich zu werden, welches Arslan A. von 1komma4k so formulierte: "Der Einfluss der deutschen Rapmusik auf die deutsche Jugend ist sichtbar [...]. Also wenn es in die eine Richtung gehen kann, warum nicht in die andere Richtung? Definitiv kann meines Erachtens nach jemand, der wie du jetzt islamische - ich sag' mal - Alternativen zum Rap schafft - definitiv kann das einen gewissen Einfluss haben. Sogar, subhanallah, ich habe letztens mitbekommen, ich weiß nicht, es war Platon, ein griechischer Philosoph, der der Meinung war, dass man den Dichtern die Bühne nehmen sollte. Man soll sie verbieten. Warum? Sie haben einen gewissen Einfluss auf die Gesellschaft."

Neben Redlion haben sich dementsprechend auch andere deutschsprachige Naschid-Sänger in den letzten Monaten hervorgetan. Einer von ihnen nennt sich Mo Deen, der sich ebenfalls dem Rap-Naschid verschrieben und mit "Deen Kidz" auch Kinder als Zielgruppe erschlossen hat. Auch mit Redlion kooperierte er bereits, so wie im Naschid-Video "Kehre zurück", das bis heute knapp 200.000 Aufrufe auf Youtube verzeichnet.

Der legalistische Islamismus holt weiter auf

Lange Zeit gab es kaum jemanden in der islamistischen Szene, der mit deutschsprachigen Anaschid binnen so kurzer Zeit derart viel Aufmerksamkeit erreichen konnte wie Redlion. Doch die Musik wird nicht nur für den Konsum produziert, sondern offenkundig auch als Transportmittel konservativer Botschaften genutzt. Ismael S. ist nicht nur einfach ein Sänger, sondern er zeigt auch Ambitionen als Mittler von Gruppierungen des legalistischen Islamismus zu fungieren. Eine Rollenverteilung, die bereits die Salafisten mit Rappern wie Denis Cuspert und dem Frankfurter Sadiq umzusetzen versuchten.

Der Erfolg des Hamburgers und das lagerübergreifende Interesse an ihm, kann zudem in einen erweiterten Zusammenhang mit einem deutlichen Innovationsschub in der Medienarbeit der legalistisch orientierten Szene gebracht werden. Die Annäherungen oder gar Kooperationen zwischen eigentlich konkurrierenden Bewegungen wie der Furkan-Gemeinschaft, der Hizb ut-Tahrir, den Muslimbrüdern und "gemäßigten" salafistischen Akteuren ist Ausdruck eines "neuen" Pragmatismus. Sich der ideologischen Differenzen bewusst zu sein, darf nicht dem eigentlichen Ziel - die Da'wa - und damit einer grundlegenden Gemeinsamkeit im Wege stehen, so das aktuelle Narrativ, das auch von Führungsfiguren wie Suhaib R. Hoffmann, Marcel Krass und Cenk Göncü in den letzten Jahren auffallend häufig betont wurde.

Vor allem das Auftreten in der Öffentlichkeit soll anders sein: die Akteure sind häufig akademisch gebildet oder zumindest sehr eloquent. Sie achten auf eine freundliche und diplomatische Außenwirkung und verwenden selten übergriffige Formulierungen. Man will pädagogisch konstruktiv wirken und vor allem zielgruppenorientiert arbeiten. Es sind die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die später Karriere machen, erfolgreich sein und gleichzeitig gottesfürchtig leben wollen - und nicht zuletzt später in ihren jeweiligen institutionellen und sozialen Umfeldern Einfluss ausüben sollen.

Mit diesem bislang erfolgreichen Kurs geraten die Bewegungen allerdings auch in einen Konflikt mit dem bislang tonangebenden salafistischen Milieu. Denn auch einstmals dem salafistischen Spektrum eindeutig zuzuordnende Persönlichkeiten haben das Potenzial von Gruppen wie Generation Islam, Realität Islam, IMAN und den vielen neuen Influencern wie Redlion mit Themenschwerpunkten wie Sport, Musik, Gaming und Politik erkannt. So wurde Predigern wie Marcel Krass in der jüngeren Vergangenheit von Salafisten vorgeworfen mit den Murjia aus dem legalistischen Spektrum zu paktieren. Krass, der früher einmal zu einem Wortführer der salafistischen Szene gehörte und mit der Gründung der Föderalen Islamischen Union neue Koalitionen zu erschließen versucht, brachte Hardliner bereits mit Bildern gemeinsam mit Ahmad Tamim (Generation Islam) zur Weißglut. "Matzes Lossagung von der Salafiyya", "Matze und sein neues Aqidaverständnis" oder "Die Murjia und die Hundeleine Matzes" sind nur einige harmlosere Kommentare zu Krass' mediatorischem Kurs.

So oder so geraten legalistische Gruppierungen durch ihre wachsende und vielfältige Medienpräsenz im Internet, die Unbedarfte nur sehr schwer als solches zu erkennen mögen, verstärkt in den Fokus. Denn Gruppen wie die Furkan-Gemeinschaft oder die Hizb tu-Tahrir betrachten trotz ihres harmlosen Auftretens den Islam als unvereinbar mit demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsvorstellungen.