"Man hat viel geopfert – Zeit, Geld und vielleicht auch die eigene psychische Gesundheit"
Vogel: Als wir unser erstes Gespräch geführt haben, war Aleppo gerade – oder kurz darauf – von der syrischen Armee erobert worden. Für Sie war das damals, wenn ich mich recht erinnere, ein Gefühl der Verlorenheit?
Issa: Ja, eine Zäsur.
Vogel: Alles ist für Sie damals quasi zusammengestürzt. Mittlerweile sind ja einige Jahre vergangen. Damals waren Sie noch deutlich jünger. Und jetzt, im Dezember, ist plötzlich etwas passiert, womit eigentlich niemand gerechnet hatte – und das in so kurzer Zeit. Können Sie schildern, wie es Ihnen in den letzten Wochen ergangen ist und was da eigentlich passiert ist?
Issa: Es war natürlich sehr intensiv. Ich hatte schon lange davor das Gefühl, dass alles nur noch schlechter wird. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich weiter. Es gab nahezu täglich Drohnenangriffe, zum Beispiel von iranischen Milizen, auch auf die Zivilbevölkerung – Bauern auf Traktoren und Ähnliches. Vielleicht haben Sie das auch mitbekommen. Ich hatte keine Hoffnung mehr, dass sich irgendetwas verbessert.
Dann gab es Berichte, dass die Türkei mit Assad wieder verhandelte. Vor dem Fall der Aleppos gab es ja noch das Treffen der Arabischen Liga. Erinnern Sie sich, wo das genau war?
Vogel: 2023 in Dschiddah. Assad nahm erstmals nach langer Zeit am Gipfel der Staatschefs wieder teil.
Issa: Genau. Die Türkei wollte ja eigentlich wieder gute Beziehungen zu Assad aufbauen. Es gab dann die türkischen Wahlen, und die gesamte Opposition dort war dafür, syrische Geflüchtete zurückzuschicken und ein Friedensabkommen mit Assad zu schließen. Wenn Erdogan nicht an der Macht geblieben wäre, wäre es wohl vorbei für Syrien gewesen.
Das hätte auch meine Familie betroffen. Ein Großteil meiner Verwandten in der Türkei hat inzwischen die türkische Staatsangehörigkeit bekommen, weil sie schon länger dort leben. Die anderen haben nur einen Flüchtlingsstatus, und sie wären zwangsweise nach Syrien zurückgeschickt worden. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe sogar einmal gesagt: "Ich glaube, ich muss meine Leute nach Deutschland schmuggeln." Denn es gab bereits Vorankündigungen und Menschen wurden abgeschoben – nicht ins Assad-Gebiet, aber nach Idlib oder andere Regionen.
Es war also ein Wechselbad der Gefühle. Ich hatte Aleppo das letzte Mal Ende der 2000er Jahre gesehen. Man kann es vielleicht mit dem vergleichen, was viele Türken erleben: Sie sprechen von ihrer "Heimat" in der Türkei, auch wenn sie sie nie wirklich kennengelernt haben. Viele wollen im Alter dorthin zurückkehren oder sich dort ein Haus kaufen, obwohl sie die Region nur aus Erzählungen kennen.
Für mich war Aleppo so eine Art Sehnsuchtsort. Ich war als Kind nur wenige Tage dort, aber ich habe schöne Erinnerungen – an die Zitadelle, an die Altstadt. Damals stand noch alles, heute ist vieles zerstört, weil keine Hilfe kam, auch wegen den Sanktionen. Aber jetzt kann ich zum ersten Mal das erleben, was ich mir als Kind gewünscht habe. Mit Ende 20 kann ich nun endlich das nachholen, was mir in meiner Kindheit verwehrt blieb.
Vogel: Also ein überwältigendes Gefühl, als Assad gestürzt wurde?
Issa: Ja, absolut überwältigend. Und es war – wie soll man sagen – ein langer, harter Weg. Das hat fast die Hälfte meines Lebens in Anspruch genommen, ungefähr 14 Jahre lang. Man hat viel geopfert – Zeit, Geld und vielleicht auch die eigene psychische Gesundheit.
Vogel: Und sind Sie froh, dass es dann doch so schnell ging? Dass es nicht zu einem jahrelangen Abnutzungskrieg um Aleppo gekommen ist, bei dem Kilometer um Kilometer gekämpft worden wäre? Das hätte ja wieder viel Leid bedeutet.
Issa: Ja, natürlich. Viel Leid. Und es hätte mich auch persönlich sehr mitgenommen, wenn es Rückschläge gegeben hätte. Das hätte Flashbacks an 2016 ausgelöst – an die Belagerungen und all die schlimmen Ereignisse damals. Ich wäre heute wahrscheinlich auch noch stärker involviert gewesen.
Vogel: Ihr Vater ist Jahre vor dem Sieg der Rebellen verstorben. Er saß zeitweise, als er vor Jahrzehnten noch in Syrien lebte, auch in einem Gefängnis des Regimes. Hätte er ein freies Syrien gern selbst noch miterlebt?
Issa: Ja, auf jeden Fall. Ich hätte ihm das gerne gezeigt. Mein Vater wäre auch gerne in Aleppo begraben worden, aber das war ja nicht möglich. Das ist so eine Sache. Man bekommt die syrische Staatsangehörigkeit ja einfach durch Geburt und wird sie nicht mehr los. Selbst wenn ich meinen Pass wegwerfe, bleibe ich trotzdem Syrer. Wenn ich vor der Rebellenoffensive eingereist wäre, hätte ich wahrscheinlich Probleme bekommen, weil bekannt ist, dass einige meiner Verwandten im Widerstand gegen Assad waren. Und selbst wenn nicht, hätte mich die Armee zwangsweise eingezogen.
Da gab es Leute, die für zehn Dollar im Monat für das Regime Wachdienst schieben mussten – an der Front in Idlib oder sonst wo. Das hätten sie mit mir auch gemacht. Deshalb sind ja auch so wenige Leute aus dem Libanon oder der Türkei zurückgekehrt. Man hätte ihnen tausende Dollar bieten können – sie wären trotzdem nicht zurückgekommen. Denn zurückzukehren hätte bedeutet, irgendwo in der Wüste Wachdienst zu leisten, in der ständigen Gefahr, entweder von einer israelischen Drohne oder von Daesh-Leuten getötet zu werden.
Vogel: Ihren Pass haben Sie dann nicht weggeworfen.
Issa: Mein Vater wollte das halt auch nicht und hat damals Druck ausgeübt, als er noch lebte. Er wollte, dass wir in die Türkei gehen. Meine Geschwister und ich hatten große Probleme, weil wir unsere Verwandten nicht bei irgendwelchen Schmuggel- oder Fluchtsachen unterstützen konnten.
Ja, daher kommt vielleicht auch mein starker Wunsch nach Syrien zurückzukehren. Bei meinen Geschwistern ist das anders – die sind jetzt gesettelt in der Türkei, haben mehrere Kinder und wollen nicht mehr weiterziehen.
Vogel: Die wollen nicht mehr weiterziehen?
Issa: Nein, die wollen nicht mehr. Sie wollen nicht einmal mehr den syrischen Pass behalten. Ich muss sie schon fast zwingen, dass sie mitkommen, um ihn zu erneuern. Vielleicht haben sie ihn sogar schon weggeworfen. Ich habe meinen immer dabei, vielleicht auch als Erinnerung – ich weiß nicht genau, warum.
Vogel: Vielleicht, weil Sie einfach eine tiefere Verbindung zu dem Land haben?
Issa: Ja, vielleicht auch.
Es hat sicher auch mit meinem Vater zu tun. Vielleicht ist es auch unbewusst
der Wunsch, ihm gerecht zu werden. Sein Erbe weiterzuführen.
"Weil ich das Schicksal nicht akzeptieren wollte"
Vogel: Sie sind wenig später nach Assads Sturz nach Syrien gereist.
Issa: Genau. Die Grenzen waren da schon offen. Ich musste mich nicht irgendwie reinschmuggeln oder so. Ich bin völlig legal eingereist.
Vogel: Und Sie haben schließlich auch Aleppo besucht, dort, wo Ihre Familie teilweise herstammt.
Issa: Genau, ich brauchte vor Ort einen Fahrer und jemanden, der ein wenig auf mich aufpasst, damit ich nicht entführt werde. In Aleppo habe ich viele Leute getroffen. Ich war zum Beispiel in der St.-Elias-Kathedrale und habe dort einige Christen getroffen. Ich habe aber auch ehemalige Kämpfer kennengelernt.
In Aleppo gibt es einen Stadtteil namens "New Aleppo". Ich dachte immer, das sei ein gemischtes Viertel, aber es stellte sich heraus, dass es ein Christenviertel ist. Ich bin dort einfach in eine Kirche gegangen – natürlich nicht während eines Gottesdienstes, ich wollte niemanden stören. Ich habe mich vorgestellt und die Menschen angesprochen, um zu erfahren, was sie bewegt.
Ein paar Tage zuvor hatte es Gerüchte im Internet gegeben, dass dort Christen massakriert worden seien. Ich wollte wissen, ob das stimmte, denn im Internet liest man vieles – aber es stellte sich als Fake News heraus. Also habe ich direkt mit den Menschen gesprochen, die es am besten wissen müssen. Sie hatten davon nichts mitbekommen.
Ich habe ihnen gesagt, dass ich mir gut vorstellen kann, dass es 2016 sehr schlimm für sie gewesen wäre, wenn die Rebellen Aleppo erobert hätten.
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Syrische Großstadt Aleppo (Pixabay) |
Vogel: Sie teilen also die Meinung des neuen syrischen Machthabers, Ahmad al-Sharaa alias Muhammad al-Jolani, der ebenfalls sagte, dass es besser sei, dass der Machtwechsel jetzt geschehen ist und nicht damals, als alles noch viel chaotischer und seine Truppen undisziplinierter waren?
Issa: Ja. Die Rebellen hatten ja auch christliche Viertel beschossen – nicht das Regime. Deswegen klingt es vielleicht zynisch, aber bei all dem Leid, das in den letzten Jahren geschehen ist, war es vielleicht besser, dass die Rückeroberung jetzt stattgefunden hat und nicht 2016. Damals wäre es wohl zu großen Gräueltaten und Vergeltungsaktionen gekommen. Die Situation war völlig unübersichtlich.
Vogel: Die Gerüchte über Übergriffe auf Minderheiten seit Assads Sturz stimmen also nicht?
Issa: Nichts Größeres. Es gab diese Sache mit dem Weihnachtsbaum, den jemand beschädigt hat, aber das sollte man nicht überbewerten. Es gibt überall Chaoten, auch in Deutschland. Damit war zu rechnen, aber die Verantwortlichen wurden ja festgenommen oder zumindest zur Rechenschaft gezogen. Es gab jedenfalls keine Massaker oder Ähnliches.
Vogel: Wie war es für Sie, nach so vielen Jahren zum ersten Mal wieder in Syrien zu sein und Ihre Verwandten dort persönlich zu treffen?
Issa: Ich kannte sie bisher nur von Videoanrufen über Skype. Ich habe sie vorher nie persönlich getroffen. Das war für alle etwas Besonderes. Als ich in Aleppo war, habe ich tatsächlich auch Leute von ihnen getroffen, die meinen Vater noch kannten. Natürlich waren es ältere Leute. Das hat mich sehr gefreut.
Vogel: Das muss ein besonderes Gefühl gewesen sein.
Issa: Ja, total. Sie haben sich auch gefreut, mich zu sehen. Sie haben mich erst gar nicht erkannt, weil ich ganz anders aussehe als mein Vater. Aber dann kam: "Ach so, du bist der Sohn von ihm!" Das hat mir persönlich sehr viel bedeutet.
Vogel: Das klingt fast so, als wären Sie auf den Spuren Ihres Vaters unterwegs gewesen.
Issa: Ja, und ich kann das auf diese Art und Weise noch mal erleben. Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich aushalte. Wenn man nur Bilder aus Dokumentationen von diesen Gefängnissen sieht – das ist das eine. Aber wenn man selbst von seinem Vater die Geschichten, die Erzählungen oder die Namen gehört hat, dann ist das etwas anderes.
Das meine ich mit dieser Wut, die ich in mir habe. Sie haben es ja bei unseren ersten Gesprächen während des Krieges ja mitbekommen – welche Wut ich hatte. Vielleicht war ich in der Vergangenheit auch zu radikal oder sogar extremistisch. Radikal ist ja an sich nichts Schlechtes – es kommt ja von „Wurzel“. Aber vielleicht war ich zu extrem, weil ich das Schicksal nicht akzeptieren wollte. Ich wollte es mit einem „faustischen Kampf“ ändern. Das treibt mich an.
Ich will nicht einfach hinnehmen, was passiert ist. Ich möchte, dass eines Tages jemand sagt: „Ach, das ist der Sohn von ihm.“ Mein Vater musste damals als Verlierer nach Deutschland kommen, als jemand, der versagt hatte. Er hat sehr darunter gelitten.
Vogel: Ihr Vater hat darunter gelitten?
Issa: Ja, natürlich. Er hatte viele gesundheitliche Probleme. Eine Herzoperation wäre in Syrien damals nicht möglich gewesen, es sei denn, man hatte viel Geld und konnte in den Libanon gehen. Und ja, er hat darunter gelitten, dass er seinen Lebenstraum nicht realisieren konnte – nämlich nach Syrien zurückzukehren.
Vogel: Er hatte also bis zum Schluss diesen Wunsch?
Issa: Ja, das hat an ihm genagt. Meine Mutter hat das mitbekommen. Sie hat mir und meinen Geschwistern immer gezeigt, dass sie das vielleicht nicht so gut fand. Meine Eltern haben sich deswegen auch oft gestritten. Meine Mutter hatte vielleicht nicht ganz unrecht, sie kannte mich ja gut. Sie wusste, wie das auf meine Psyche wirkt.
Ich musste damals meiner Mutter versprechen, dass ich mich von bestimmten Leuten distanziere. Sonst hätte sie nie wieder mit mir gesprochen. Das habe ich natürlich eingehalten.
Vogel: Weil Sie mit Ihren Eltern immer gut klargekommen sind?
Issa: Ja, natürlich. Ich habe genug – naja, ich will nicht sagen „Scherben hinterlassen“, das wäre übertrieben. Aber ich kenne mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich meine Mutter nicht noch einmal zum Weinen bringen wollte.
Vogel: Ihre Eltern haben Sie immer unterstützt.
Issa: Ja, sie haben immer zu mir gehalten und mich gefördert. Und ich hätte nicht damit leben können, wenn ich meine Mutter noch zusätzlich belastet hätte.
Vogel: Sie wären vermutlich nicht mehr aus dem Dschihad zurückgekehrt, oder?
Issa: Nein, niemals. Weder wäre ich freiwillig zurückgekommen, noch hätte ich lange überlebt. Ich wäre entweder im Knast gelandet oder weiß Gott wo eingesetzt worden. Vermutlich hätte man mich in einem Leichentuch irgendwo begraben.
Vogel: Wenn Sie auf unser Gespräch vor einigen Jahren zurückblicken: würden Sie sagen, dass Ihre Verbindung zu Syrien mehr als nur eine Projektion war? Dass Sie sich nicht nur über Ihren Vater mit Syrien verbunden fühlten, sondern wirklich auch eine syrische Identität haben?
Issa: Ich weiß nicht. Ich kannte Syrien ja nur über meinen Vater. Ich vergleiche das oft mit Deutschtürken: In der Türkei werden sie nicht als echte Türken angesehen, weil sie anders denken und sich anders verhalten. Es ist eine andere Mentalität, eine andere Art zu leben. Sie sind oft auch größer im Durchschnitt – das ist jetzt natürlich nur ein Beispiel, aber es zeigt, dass sich Kulturen unterschiedlich entwickeln.
Ich denke, es ist natürlich eine Mischung, aber die Lebensweise in Syrien ist schon ganz anders. Allein kulturell gesehen ist es ein riesiger Unterschied. Manchmal fängt es schon bei Kleinigkeiten an. Zum Beispiel, dass die Müllabfuhr wochenlang nicht kommt. In Idlib funktioniert das noch halbwegs, aber in Aleppo lag einfach überall Müll herum. Gut, das ist im Libanon genauso – daran kann man sich gewöhnen. Oder die Sache mit der Stromversorgung: Es gibt nur ein paar Stunden Strom am Tag. Das geht irgendwie. Aber Trinkwasser ist ein großes Problem. Viele Menschen, auch Verwandte von mir, haben sich mit Hepatitis angesteckt – ich glaube, es war Hepatitis B. Wahrscheinlich durch verunreinigtes Wasser oder Lebensmittel. Das sind eben alltägliche Probleme, mit denen man umgehen muss. Und das ist einer der Gründe, warum ich sage: Ich bin nur auf dem Papier Syrer.
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Syrien (Pixabay) |
Vogel: Warum fühlen Sie sich trotzdem so eng verbunden mit Syrien?
Issa: Es ist meine Wunschheimat. Mein Vater wollte immer zurück – ich kann das nachvollziehen. Deswegen hat er auch so viel Wert darauf gelegt, dass wir unsere syrischen Pässe behalten. Er musste sie regelmäßig verlängern, wahrscheinlich jedes oder jedes zweite Jahr in der Botschaft in Berlin.
Mein Vater hat oft gesagt, dass er zurückkehren will. Viele Menschen wollen ihren Lebensabend dort verbringen, wo sie sich zu Hause fühlen. Es ist vielleicht auch eine Art Nostalgie – man verdrängt die schlechten Seiten und erinnert sich nur an die schönen Dinge. Das sieht man ja auch bei vielen Türken, die von ihrer "Heimat" schwärmen, aber ausblenden, in welchem Elend sie oder ihre Familien dort früher gelebt haben.
"Man darf nicht selbst zum Unterdrücker werden"
Vogel: Und als Sie jetzt unterwegs waren, haben Sie dann beide Seiten gesehen? Die schöne und die harte Realität?
Issa: Genau. Aber das war mir vorher schon klar. Ich wusste ja, wie es aussieht – durch Berichte, durch Bilder, durch Erzählungen. Es hat mich also nicht wirklich geschockt. Als ich in Homs durchkam und die ganze Zerstörung gesehen habe, das Kriegsgerät. In Damaskus traf ich viele Bettler und kam gleichzeitig an vielen Bars und Restaurants der Oberschicht vorbei, wo sich auch AfD-Politiker wie Gunnar Lindemann zu Assads Zeiten vergnügten.
Vogel: Gab es trotzdem etwas, was Sie überrascht hat?
Issa: Ja, die Menschen. Ich war positiv überrascht, dass sie trotz allem noch so normal und freundlich waren.
Vogel: Angst hatten Sie keine?
Issa: Ein bisschen, ja. Ich hatte schon Sorge, dass ich entführt werden könnte, wenn jemand herausfindet, dass ich Deutscher bin. Deswegen habe ich auch natürlich nicht gesagt, dass ich aus Deutschland komme. Wer weiß, wo ich sonst gelandet wäre – vielleicht irgendwo in der Wüste zwischen Deir ez-Zor und der irakischen Grenze. Und irgendwann hätte es dann ein Video gegeben, in dem ich zu etwas gezwungen werde. Ich will das nicht überdramatisieren, aber ausschließen kann man so etwas nicht.
Ich habe auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich kein großer Freund der HTS-Regierung bin. Ich wollte dort nie großartig abhängen oder mich einmischen. In Städten wie Homs, Hama oder in Deir ez-Zor habe ich sowieso nichts zu suchen – das interessiert mich nicht. Das sind Wüstenstädte, die ich nicht als meine Heimat empfinde.
Vogel: Wenn Sie von Ihrer Wunschheimat sprechen, meinen Sie damit also vor allem den Norden?
Issa: Genau. Vor allem Nord-Aleppo. Natürlich ist Damaskus auch schön – ich war kurz in der Umayyaden-Moschee –, aber mein Fokus liegt auf dem Norden. So geht es auch den meisten Syrern: Es gibt in dem Sinne kein einheitliches syrisches Volk. Es gibt verschiedene Völker, Kulturen und Stämme mit ihren eigenen Identitäten.
Wer aus Aleppo kommt, bleibt meist in Aleppo. Klar, vielleicht fährt man mal nach Damaskus zum Einkaufen oder nach Beirut, aber im Grunde bleibt man in seiner Region. Deswegen kann ich auch nicht wirklich sagen, wie es in anderen Städten ist – und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht besonders.
Vogel: Weil Sie damit einfach wenig anfangen können?
Issa: Genau. Es sagt mir wenig, weil es nicht meine Heimat ist.
Vogel: Das erinnert ein bisschen an Deutschland – je nach Region gibt es unterschiedliche Dialekte und Mentalitäten.
Issa: Ja! So wie man in Bayern "Semmel" sagt, in Baden-Württemberg "Wecken" und im Norden "Brötchen". In Syrien gibt es das auch, etwa bei Begriffen für Brot oder andere Alltagsgegenstände.
Der syrische Teil meiner Familie stammt vor allem aus Aleppo und dem Umland. Was im Osten des Landes passiert, interessiert die meisten dort eher weniger.
Vogel: Sie haben vor der Machtübernahme durch die HTS kritisch über deren Herrschaftspraxis gesprochen. Wie gehen Sie jetzt damit um? Ich habe bei Ihnen bemerkt, dass Sie wie viele andere mittlerweile eine sehr pragmatische Haltung zu ihr eingenommen haben. Wie sehen Sie die Gruppe heute?
Issa: Ich habe Informationen aus erster Hand, von Leuten, denen ich vertraue, und das schon seit Jahren. Ich habe auch über Journalisten einiges mitbekommen. Ich hatte sogar Kontakt zu jemandem, der mir erzählt hat, wie es im HTS-Gefängnis war und wer dort alles saß. Und genau das ist mein Problem: Die einen Unterdrücker wurden einfach durch andere ersetzt.
Natürlich ist es nicht das gleiche wie bei Assad, es gibt kein Sednaya-Foltergefängnis, aber gewisse Ähnlichkeiten sind vorhanden. Das hat ja sogar ein syrischer Journalist mal angedeutet. Als er die HTS-Leute auf Folter angesprochen hatte, sagten diese nur: "Das ist keine Folter, bei uns läuft das anders." Daraufhin meinte er zu ihnen: "Ja, die Amerikaner haben auch gesagt, dass Waterboarding keine Folter ist, sondern eine erweiterte Verhörmethode."
Vogel: Also eine typisch autoritäre Mentalität?
Issa: Ja, das ist so eine Mentalität, die sich in vielen arabischen Ländern findet – Korruption, Relativismus. Alles wird irgendwie gerechtfertigt. Und das muss bekämpft werden.
Vogel: Wie müsste das geschehen?
Issa: Man muss pragmatisch bleiben. Ich kann es mir nicht aussuchen.
Vogel: Weil es doch derzeit keine andere Alternative gibt?
Issa: Genau. Wer soll es denn sonst übernehmen? Militärisch gesehen gibt es keine diszipliniertere Gruppe als die HTS. Auf die sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA) kann man sich nicht verlassen. Die bekommen ja nichts auf die Reihe. Und diese anderen Gruppen aus dem Süden, die an der "Versöhnungsoperation" teilgenommen haben – das sind Opportunisten. Dann gab es ja noch diese "Al-Tanf-Rebellen" – ich weiß gar nicht genau, was die eigentlich wollen. Aber es ist ja klar, wer hinter ihnen steht und welche Interessen sie vertreten. Letztlich gab es in der Region nur HTS als ernstzunehmende Kraft.
Vogel: Also, wenn man fragt, wer außer HTS eine Alternative gewesen wäre – es gab eigentlich keine?
Issa: Genau.
Vogel: Aber was wäre Ihre Wunschkonstellation? Wie soll Syrien für Sie in Zukunft aussehen?
Issa: Also, ich war ja schon immer ein Fan der Taliban – natürlich ist Syrien nicht Afghanistan, das ist mir bewusst. Aber man muss auch sagen: In Afghanistan gibt es viele verschiedene Volksgruppen – Turkmenen, Tadschiken, Usbeken, Paschtunen –, und die Taliban haben es trotzdem geschafft, das Land unter Kontrolle zu bringen. Und wenn man es mit der vorherigen Regierung vergleicht, die von Warlords, Korruption und Drogenhandel geprägt war, sind die Taliban tatsächlich beliebter geworden.
Das wäre eine Wunschvorstellung –
aber ich weiß, dass das in Syrien so nicht funktionieren kann. Syrien ist
anders strukturiert. Hier gibt es zum Beispiel auch Christen, mit denen es am
wenigsten Probleme gibt. Niemand muss sie unterdrücken. Das größere Problem
sind eher die Alawiten und die verbliebenen iranischen Zellen, die weiterhin
destabilisierend wirken. Hinzu kommt die PKK im Gewand der SDF, die eine syrische Einheit verhindert und ihre Waffen nicht niederlegen will. Kurden gehören zu Syrien, aber nicht diese Gruppe.
Dann gibt es noch die Stammeskonflikte, die ja schon früher bestanden haben. Gerade in Deir ez-Zor zum Beispiel – dort haben viele Stämme zuerst dem IS die Treue geschworen, nur um ihm dann doch in den Rücken zu fallen. Solche vergleichbaren Ränkespiele wird es weiterhin geben.
Vogel: Dennoch wollen Sie sich in Syrien niederlassen?
Issa: Ja, das ist mein Plan. Natürlich muss ich Rücksicht auf meine Familie nehmen – das macht es komplizierter. Aber ich möchte dort leben. Ich sehe dort einfach bessere Chancen, mich selbst zu verwirklichen und ein islamisches Leben zu führen. Vielleicht nicht unbedingt materiell besser, aber es ist ein starker Wunsch – fast schon ein Bedürfnis.
Vielleicht ist es auch dieser Gedanke, dass man als Besiegter nach Deutschland musste und jetzt als jemand zurückkehrt, der sich durchgesetzt hat. "Eroberer" wäre vielleicht ein zu pathetischer Begriff, aber Sie wissen, was ich meine. Ich habe nicht gekämpft, aber es fühlt sich dennoch wie eine Rückkehr unter anderen Vorzeichen an.
Vogel: Und Sie möchten Dinge dort besser machen?
Issa: Genau. Gerade wenn man ein Vierteljahrhundert in Deutschland gelebt hat, merkt man, dass dort gewisse Dinge besser funktionieren – oder zumindest früher besser funktioniert haben.
Korruption ist so ein Punkt. Oder der Umgang mit Menschen. Es geht darum, Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit zu achten – egal, wer der Gegner oder der Angeklagte ist. Jeder hat Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, anwaltliche Vertretung und Schutz vor Folter. Das sind Dinge, die es auch im Islam gibt, aber die oft nicht eingehalten wurden.
Es gibt diesen Spruch: Allah
wird niemals auf der Seite des Unterdrückers sein – egal, ob er Muslim ist oder
nicht. Und das ist eine große Verantwortung. Man darf nicht selbst zum
Unterdrücker werden, gerade gegenüber Minderheiten.