Proteste in Idlib (Quelle: Telegram) |
In der syrischen Provinz Idlib brachten heftige Proteste in den vergangenen Monaten die Islamistengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in arge Bedrängnis. Viele Anhänger des syrischen Dschihads geraten dadurch in Konflikte – mit sich selbst und mit anderen. Mittendrin ist auch der aus Hanau stammende Samet D.
Aufstand in IdlibEs waren anklagende Worte, die der Brite Tauqir S. Mitte Mai dieses Jahres in einem Video an bekannte Persönlichkeiten in der syrischen Provinz Idlib richtete. "Wo sind eure Stimmen, Brüder? Das Blut der Muslime fließt genau jetzt in Idlib. Und ihr seid still! Euer eigener Führer, Muhammad al-Jolani, hat zugegeben, das gefoltert wird und Reformen notwendig seien und ihr seid still! Ihr alle seid Feiglinge! Es gibt viele Dinge, die ich offenbaren könnte, die uns passierten. Der Ausgangspunkt der Revolution war Gerechtigkeit, der Islam und das islamische Projekt aufzubauen. Aber wallahi, die HTS, Muhammad al-Jolani und ihre blinde Gefolgschaft sind das größte Hindernis, diese Ziele zu verwirklichen."
Anlass für seinen Wutausbruch waren Proteste hunderter aufgebrachter Menschen in Idlib-Stadt und in dessen Vororten. Sie demonstrierten vor allem gegen die gefürchteten Scharia-Gerichte und die Kommandogruppen der HTS, die in den letzten Jahren massiv in Verruf geraten sind. Willkürliche Verhaftungen, Folter von Inhaftierten und Massenmorde werden ihnen vorgeworfen. Viele Demonstranten forderten gar die Absetzung von HTS-Führer, Muhammad al-Jolani, der in den letzten Jahren versucht hatte, seine Truppe der Weltöffentlichkeit gegenüber als moderat darzustellen. "Es wird nicht gefoltert", hatte er 2021 gegenüber einem PBS-Journalisten beteuert. Doch viele Syrer und auch ausländische Kämpfer sehen die HTS inzwischen auf dem Weg in eine autoritäre Diktatur, vergleichbar mit dem Islamischen Staat (IS) oder dem Assad-Regime. Auch ideologisch gibt es viele Differenzen – Probleme, auf die auch der IS mit brutaler Unterdrückung reagierte. Den internen Säuberungen der HTS fielen in den letzten Jahren mutmaßlich auch deutsche Kämpfer zum Opfer, darunter der Augsburger Mehmet Ö., der ein Kader der al-Qaida-Gruppe "Hurras al-Din" gewesen sein soll.
Tauqir S. adressierte in seinem Appell auch die vermeintlichen Handlanger der HTS, die als "Influencer" schon lange in Syrien bekannt sind und die Gruppe in der Öffentlichkeit zu unterstützen scheinen: der britische Arzt Shajul I., der im Verdacht gestanden hatte, an Entführungen von Ausländern beteiligt gewesen sein; der Australier Abraham S., den die australische Regierung auf ihre Sanktionsliste gesetzt hat; und der aus Hanau stammende Samet D., der als türkischer Staatsbürger in seinem Land auf der grünen Terrorliste steht. Bis zu zwei Millionen Lira, umgerechnet rund 60.000 Euro, hat die Türkei für seine Ergreifung ausgelobt.
Samet D. auf der Terrorliste der türkischen Behörden |
Dem 30-jährigen Vater von vier Kindern, der sich laut eigener Aussage 2014 dem Dschihad in Syrien angeschlossen hatte, warf S. in seinem Video vor, für den Geheimdienst der HTS (Amniyat) zu arbeiten und andere ausländische Kämpfer hintergangen zu haben. So habe er unter anderem dem kanadischen IS-Deserteur Sami E., der mehrere Jahre in HTS-Haft gesessen hatte, in der Zwischenzeit die britische Ehefrau ausgespannt ("zina"). Ein schwerer Verstoß gegen die verbreiteten Sitten, weil für eine Scheidung in der Regel die Zustimmung durch den Gehörnten eine zwingende Voraussetzung ist. Samet D. verteidigte sich kurz darauf gegen die Vorwürfe. Er sei kein
"Amni" und arbeite als unabhängiger Journalist ("Ilami") in Syrien.
Alles sei ganz anders gewesen und er hätte ja nicht geahnt, dass Sami
E. durch eine Amnestie der HTS früher aus dem Gefängnis rauskommen
würde. Die Sache liege nun bei Gericht zur Verhandlung.
Dass Tauqir S. Samet D. so prominent in seinem Video erwähnt hatte, liegt nicht nur an dessen tatsächlicher Bekanntheit in Syrien. Die beiden verbindet auch eine gemeinsame Geschichte, die auch das Chaos und die moralische Verwahrlosung widerspiegelt, in die Dschihadisten oder sog. "Muhadschirun" (Auswanderer) in Kriegsgebieten häufig hineingeraten können.
Folter und Verrat
Jahrelang reisten Samet D. und Tauqir S. gemeinsam mit dem US-Amerikaner Bilal Abdul K. durch Syrien und berichteten über den Kampf der syrischen Rebellen gegen das Assad-Regime. Mit "On the Ground News" (OGN) erreichten sie viel Aufmerksamkeit, unter anderem mit ihren Berichten aus Aleppo, das damals von syrischen Truppen belagert wurde (der Blog berichtete). Sie interviewten auch zahlreiche Dschihadisten und Warlords. Ihre sachlichen Berichte suggerierten zwar unabhängigen Journalismus, allerdings mit offenkundigen Sympathien für den Dschihad in Syrien. Für Aufsehen sorgten dementsprechend Vorwürfe der drei Männer gegen die US-Regierung, denen zufolge zumindest Bilal K. auf einer "Kill List" der US-Armee gestanden haben soll. Mehrere Drohnenschläge hätten sie überlebt, so K. damals. Dieser verklagte schließlich erfolglos die USA, da aus Sicht des zuständigen Richters keine Beweise für dessen Vorwürfe vorgelegen hätten.
Nach der Belagerung Aleppos trennten sich die Wege der drei Freunde 2019 einvernehmlich. Samet D. zog eigene Projekte auf. Mit dem inzwischen aufgegebenen Projekt "Insight" übernahm er immer mehr eine zentrale Rolle in der internationalen Öffentlichkeitsarbeit der HTS. Er veröffentlichte Interviews mit hochrangigen Kadern der Dschihadistengruppe, darunter auch mit dem Anführer al-Jolani. Nebenbei arbeitete er kurioserweise für die türkische Nachrichtenagentur "Anadolu Agency". Während D. sich also zunehmend der HTS zuwandte, blieben S. und K. deutlicher auf Abstand zu ihr. Denn sie hatten zunehmend Kenntnisse über die Unterdrückungspraxis der Gruppe erlangt. 2019 berichtete Bilal K. auf OGN über einen zu Tode gefolterten Mann in HTS-Haft. Daraufhin entstanden nun innerhalb des Trios Spannungen. In Gesprächen will K. schließlich an D. appelliert haben: "Bruder, du kannst diese Leute nicht unterstützen". Doch D. blieb der HTS offenkundig weiterhin treu und warf den beiden Freunden vor, Lügen über die Gruppe zu verbreiten.
Samet D. und Bilal K. |
2020 tauchten schließlich Nachrichten auf, denen zufolge zunächst Tauqir S. und anschließend Bilal K. von der HTS verhaftet worden seien. Was die Terrorgruppe den beiden genau vorwarf, war damals unklar. Bilal K.'s Ehefrau und seine Unterstützer warfen während dessen Haft der HTS allerdings Willkür und Folter vor. Mutmaßlich aus HTS-Kreisen wurden im Gegenzug Nacktbilder von K. verbreitet, die auf dessen Handy gefunden worden waren. Erst nach der Entlassung der sichtlich ausgemergelten Männer auf Druck der Öffentlichkeit, offenbarte sich eindeutig, dass die beiden wegen ihrer zunehmenden Kritik an der HTS verhaftet und gefoltert worden waren. "Meine Hände waren hinter meinem Rücken gefesselt. Meine Beine wurden fixiert. Ich wurde dann mehrere Male geschlagen. Die Schmerzen waren unerträglich", berichtete S. kürzlich im katarischen Fernsehsender al-Dschasira.
In dieser Zeit blieben Solidaritätsbekundungen von Samet D. gegenüber den beiden Freunden aus. Es schien so zu sein, dass er K. und S. im Stich gelassen und sich auch zum Eigenschutz auf die Seite der HTS geschlagen hätte. Während K. und S. in das türkisch kontrollierte Azaz flüchteten, gründete D. stattdessen neue Projekte im Internet. Dort veröffentlichte er bislang Interviews mit HTS-Größen, mit ausländischen Kämpfern wie dem Niederländer Zakariyya D., sowie mit seinem Jugendfreund Marvin D., der inzwischen hierzulande durch mehrere Podcasts tingelte. Beobachter merken vielsagend an, dass Samet D. im Vergleich zu vielen anderen ausländischen "Auswanderern" und den hungernden Einheimischen offenkundig ein sehr auskömmliches Leben in Syrien führe. Haus, Auto, mehrere Frauen und Kinder sowie ein teures Equipment inklusive einer hochwertigen Studioeinrichtung weisen darauf hin, dass D. eine priviligierte Stellung in Idlib einzunehmen scheint. Auch sein Netzwerk und sein Einfluss auf den Sicherheitsapparat der HTS sollen beachtlich sein.
Fragile Lage
Doch all das droht in Gefahr zu geraten, sollten die zivilen Proteste gegen die herrschende Gruppe in der syrischen Provinz weiter zunehmen. Zwar sicherte al-Jolani Reformen zu, doch viele Syrer glauben seinen Versprechungen nicht mehr. Es scheint sich eine Wiederholung eines Szenarios anzubahnen, bei der eine Islamistengruppe das Gewaltmonopol in einem Gebiet ergreift und sich schließlich mit überzogenen Gewaltmitteln selbst ins Wanken bringt. Eine erneute Aufstandsbewegung droht, die den Norden Syriens in ein Machtvakuum stürzen könnte, das sowohl Bashar al-Assad, als auch andere Gruppen füllen könnten. Soweit ist es allerdings bislang nicht gekommen, weil auch der Nachbarstaat, die Türkei, Einfluss auf die Entwicklungen nimmt und die ein Interesse an Stabilität in Idlib hat, um eine erneute Flüchtlingswelle über die eigenen Grenzen zu vermeiden.
Sollte die Macht der HTS aber bröckeln, würde das auch für die zahlreichen Deutschen vor Ort drastische Veränderungen bedeuten. Einige Frauen sind inzwischen aus den IS-Gefangenenlagern im kurdischen Gebiet in Richtung Idlib geflohen. Dort scheinen sie ein relativ stabiles Leben unter Duldung der HTS führen zu können. Bislang haben sie vermieden, sich über die türkische Grenze abzusetzen und sich den Behörden zu stellen. Auch die Kämpfer haben sich mit der Situation arrangiert, auch wenn sie überwiegend ein deutlich prekäreres Leben führen sollen. Zu den Protesten und zur Gewalt hat sich bislang kaum jemand von ihnen öffentlich geäußert. Zu groß wird auch die Angst sein, bald auf der Liste der HTS zu stehen.