Das österreichische Da'wa-Projekt "IMAN" expandiert zunehmend nach Deutschland. Dabei versucht der Verein vor allem das intellektuelle und akademische Milieu in seine Arbeit einzubinden. Ein neuer Wein in alten Schläuchen?
Stillstand in der Da'wa
Das Koran-Verteilprojekt "Lies!" war für die Salafisten Anfang der 2010er Jahren ein großer Erfolg. In vielen Städten organisierten sich Gruppen meist junger Männer, die in den Straßen Menschen ansprachen und sie für den Islam zu begeistern versuchten. Aus dem Projekt entstand zudem ein riesiges Kontakt-Netzwerk, durch das sich viele Salafisten kennenlernen und ein nicht kleiner Teil von ihnen auch Eingang in militante Strukturen finden konnte. Die Forschungsstelle des Bundeskriminalamt stellte 2016 in einem Forschungsbericht über die damals behördlich erfassten Ausgereisten nach Syrien fest, dass 24 % von ihnen zuvor auch an Koran-Verteilaktionen teilgenommen hatten.
Seit dem Verbot von "Lies!" 2016, dem vorläufigen Stillstand von dessen Nachfolger "We Love Muhammad" und der Einstellung seines Pendants "Siegel des Propheten" von Erol S. in Hamburg, gibt es heute keine vergleichbaren und bundesweiten Projekte dieser Art. Vor ein paar Monaten riefen militante Salafisten via soziale Netzwerke noch zu dezentralen Da'wa-Aktionen auf. Das Ergebnis davon - Bildnachweise gibt es lediglich für Hamburg und Frankfurt - war bescheiden. Die Krise hält also an. Denn vor allem die Koran-Verteilaktionen boten den Salafisten viele Spielräume: Medialität, Mobilität und Vernetzung. Spendenvereine sind die einzigen Plattformen, die diese Potenziale heute noch ansatzweise ausschöpfen können.
Nun scheinen österreichische Salafisten diese Lücke zunehmend hierzulande ausfüllen zu wollen. Das Da'wa-Projekt "IMAN" (Glaube) aus Österreich expandiert seit einigen Jahren nach Deutschland. Und sie bringen eine neue Strategie mit: weg vom "Lumpenproletariat" - sozial Benachteiligte mit krimineller Vergangenheit, die bei Lies! u.a. noch zur Zielgruppe gehörten - und hin zur intellektuellen Avantgarde. Modernität, Seriosität und bürgerlicher Charme scheinen dabei die Schlüsselfaktoren zu sein.
Zwei Akademiker im Mittelpunkt
IMAN soll 2014 in Wien gegründet worden sein. Zwei junge Männer stehen dabei schon lange im Vordergrund: Sertaç O., Leiter von IMAN, und Amir E.-S., seit 2017 Generalsekretär der Gruppe. Besonders letzterer sorgte bereits 2017 als "roter Salafist" für einige Schlagzeilen in Österreich, weil er parallel zu seinen Da'wa-Aktivitäten Mitglied der Jusos und der SPÖ war sowie in mehreren staatlich anerkannten Gremien wie dem "Bundesvorstand der Islamischen Glaubensgemeinschaft" saß. In seiner Jugendzeit soll er bereits große Ambitionen und Fähigkeiten als Führungsperson gezeigt haben. Er war Schulsprecher, organisierte Veranstaltungen und er wollte später Politiker werden. Doch dann kam der Schwenk in Richtung Salafismus während seines Studiums der Politikwissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation. Nach öffentlichen Protesten trat er aus der SPÖ aus und konzentrierte sich ab dahin voll auf IMAN.
Sertaç O. bezeichnet sich selbst als "Eventmanager, Blogger über vergleichende Religionen, internationaler Referent und Outreach Specialist". Er lässt sich zudem als "Gelehrter" ausbilden und gibt an Arabistik zu studieren mit dem Ziel ins Fach Islamwissenschaft zu wechseln. Seit Anfang 2019 scheint er auch bei einer britischen Organisation offiziell angestellt zu sein. Sie nennt sich iERA, "Islamic Education and Research Academy", und wird von dem britischen Salafisten Abdur Raheem Green geleitet. Er gilt neben Bilal Philips und Zakir Naik als Star-Prediger der internationalen Salafisten-Szene. 2011 trat er auch in Deutschland neben Pierre Vogel und Ibrahim Abou Nagie bei einer Kundgebung in Koblenz auf.
Dem Kölner Sabri B. A. gab er zudem ein Interview. Er wolle das nicht kommentieren, antwortete Green damals auf die Frage des Deutschen hin, was er denn von den "islamischen Revolutionen in der arabischen Welt" halte. Sein Verhalten ähnelt dabei sehr dem von Marcel Krass. Smarte Erscheinung, sanfte Stimme und eine Wortwahl mit Bedacht. Green's finanziell exzellent ausgestattetes Unternehmen iERA hat seit 2008 ein globales Netzwerk aufgebaut, bei dem die Missionierung, Kampagnenarbeit und das "Dawa-Training" forciert werden sollen. Zu diesem Kreis gehört offenkundig auch IMAN. Ein Missionierungskonzept steht dabei besonders im Vordergrund.
Es wird im deutschen mit "GOPAS" übersetzt: Gott, Offenbarung, Prophetentum, Akhira und Sinn des Lebens. Es handelt sich dabei letztlich um ein Gesprächsleitfaden, wie die "Kuffar" in "persuasiven Gesprächen" (ein gern genutztes Schlagwort bei IMAN) zur Konversion gebracht werden sollen. Weiterhin seien Empathie, Toleranz, Liebe und Gerechtigkeit zentral, um Ungläubige zu "dekonstruieren" und den Islam beizubringen.
In Großbritannien gilt iERA trotz dieser Schlagwörter als radikal und diskriminierend. Auch wenn die dortigen Verantwortlichen wie bei IMAN den Anschein intellektueller und akademischer Exellenz vermitteln möchten. Versuche der Organisation an Bildungseinrichtungen wie Universitäten Fuß zu fassen scheiterten teilweise, weil Fachbereiche und Studentengruppen Predigern der Gruppe Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit vorwarfen. Denn egal, wie freundlich man sich gibt. Die verfochtene Glaubenspraxis von iERA und IMAN ist salafistisch ausgerichtet, sie berufen sich auf die wortwörtliche Auslegung des Koran und setzen prinzipiell auf Gegensätze zwischen Religionen, Gesetzen und Geschlechtern. Anfang 2019 begleitete eine Journalistin des ORF den Konvertiten Martin W. und zeigte auf beeindruckende Weise die Denkweisen und Strategien der bei IMAN handelnden Akteure.
"Dschihad kam da in keinem Wort vor"
IMAN hat in den letzten zwei Jahren erhebliche Expansionsbestrebungen und Netzwerkarbeit unternommen. Vor allem Sertaç O. scheint viel Zeit im europäischen Ausland zu verbringen: Neben Großbritannien reiste er auch durch den Balkan und Osteuropa. "Reconnecting the hearts in Europe to God", ist sein erklärtes Ziel. Und auch in Deutschland war O. und IMAN vor allem im letzten Jahr oft unterwegs. In Frankfurt am Main, Bremen, Bremerhaven, Hamburg und München zog die Organisation bereits hunderte meist junger Menschen an, darunter viele Studenten und Studentinnen. Meistens handelt es sich um ganztägige Blockseminare im Stil einer Lehrveranstaltung, in denen die Missionierungsstrategien vermittelt werden sollen. Männer in den vorderen Sitzreihen, die Frauen ganz hinten.
Das ist möglich, weil IMAN in Deutschland viele Ansprechpartner hat, die bereits über ausreichendes Know How verfügen. Zahlreiche Prediger und Akteure haben bereits in den vergangenen Monaten und Jahren mit dem Verein zusammengearbeitet. Darunter ist der Stuttgarter Abu Mikail sowie die Braunschweig-Connection Muhamed Cifti, Marcel Krass und Stef Keris. Bei allen vier handelt es sich um eher pragmatische und gemäßigtere Akteure der Szene mit universitären Abschlüssen. Vor allem Krass pflegt seit Jahren Kontakte zu IMAN und beteiligte sich mit seinem "Dex-Institut" an der internationalen iERA-Kampagne "Ist das Leben nur ein Spiel?". Aber auch Studentenvereinigungen wie die Hamburger "HCMS Hafen City Muslim Students" sollen mit IMAN kooperieren.
Für die praktische Arbeit versucht IMAN junge Leute bei den Seminaren zu rekrutieren, die Verantwortung bei der Da'wa-Arbeit in ihren jeweiligen Wohnorten übernehmen wollen. Wie Bilder belegen wurden hierfür bereits im Sommer 2019 mehrere Männer ausgewählt. Im August traf sich eine etwa 20-köpfige Gruppe aus Deutschland, der Schweiz und Österreich zu einem "iERA New Muslim Retreat"-Event in Salzburg. Darunter waren auch Personen aus Berlin, München und Bremen mit teilweise langjährigen Verbindungen in der Szene. Bilder und Videos dokumentieren gemeinsame Aktivitäten wie Fußballspiele, Wanderungen, Gebete und Vorträge. Auch Interviews mit den Teilnehmern wurden später auf Youtube und Facebook veröffentlicht.
Wie ein Teilnehmer wenig später dem Blog berichtete, würden dort vor allem gemeinsame Aktivitäten im Vordergrund stehen. "Man sitzt zusammen, man lernt und betet". IMAN sei "eine Nummer beim Thema Da'wa" und sei professionell aufgestellt. Die Aufmerksamkeit österreichischer Medien für die Organisation sei überzogen. "Dschihad kam da in keinem Wort vor. Dieses aus dem Zusammenhang reißen, selber etwas erfinden, was nicht ist, macht die Medien nicht sonderlich glaubwürdig." Besonders die rechtspopulistische FPÖ hatte sich angesichts lokaler Medienberichte über das Treffen als "Teil des globalen Dschihads" erbost gezeigt und stellte in der Folge sogar eine parlamentarische Anfrage an den österreichischen Innenminister, die aber aus Geheimnisgründen unbeantwortet blieb.
Die Frage nach der Militanz ist aber natürlich zentral bei der Beurteilung salafistischer Aktivitäten. Nicht nur, aber vor allem aus der Perspektive der Sicherheit. Und die Risiken, die durch Plattformen mit großen Kontakt-Netzwerken entstehen können sind hinlänglich bekannt. Unter den neuen deutschen Gesichtern von IMAN erkennt man auch ehemalige Lies!-Aktivisten und Kontaktpersonen von späteren deutschen Dschihadisten. Da hilft dann auch keine "Anti-Extremismus-Erklärung", ganz unabhängig davon, ob die betroffenen Personen selbst eine Rolle gespielt haben mögen.
Ausblick
IMAN expandiert mit hoher Geschwindigkeit auch in Deutschland. Wie ein Bericht des Berliner Verfassungsschutzes vom 19.05.2020 zeigte, ist die Bewegung nach ersten Stationen in Süddeutschland auch in der Hauptstadt mit eigenen "Info-Ständen" angekommen. Diese Entwicklung könnte sich in den kommenden Monaten und Jahren fortsetzen.
Die Gründe liegen offenkundig am Fehlen von bundesweiten Alternativen. Insbesondere nach dem Verbot des Lies!-Projekts brachen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und Kontaktaufnahme für viele Salafisten weg. IMAN versucht mit Intellektualität und akademischer Zielgruppe gleichzeitig als Aushängeschilder mehr Akzeptanz im öffentlichen Raum zu gewinnen. Akteure der deutschen Salafisten-Szene scheinen das offenkundig als Chance zu bewerten, um mit der Vergangenheit zu brechen. Denn das Lies!-Projekt sorgte durch die Inkorporation zahlreicher militanter Hooligans für einen gewaltigen Image-Verlust in der Öffentlichkeit wie auch unter den friedlichen Puristen.
Bei der Rekrutierung von HelferInnen mit Verantwortungsbereichen für Info-Stände und Netzwerkbildung verfolgt IMAN dagegen offenkundig einen internen Auswahlprozess. Möglichst gebildete und/oder intellektuelle Menschen werden in die Arbeit eingebunden, die Gespräche zur Missionierung professionell führen und auch in der Medienarbeit einen sympathischen Eindruck erwecken sollen. Auch gegenüber Medienvertretern verfolgt man die Strategie sich als konservative ("praktizierende") Muslime darzustellen, deren Glaubenspraxis nicht radikal sei.
Doch problematisiert muss die Tatsache, dass auch die Vorgänger-Projekte in Deutschland die selbe Strategie am Anfang verfolgten. Nur dass IMAN den abschreckenden (ehemaligen) Ganoven durch nette Studenten oder Doktoranden ausgetauscht hat. Doch auch ein Akademiker kann durch persönliche Zufälle mit militanten Gruppen in Kontakt kommen. Generell gilt mithin, dass IMAN trotz ihren friedlichen Absichten nicht nur Ziele verfolgt, die mit der Demokratie unvereinbar sind, sondern auch eine potenzielle Plattform darstellt, die gewaltbereite Islamisten anziehen könnte.