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Freiburger "Hinterhofmoschee": In den 1990er Jahren ein salafistischer Hotspot (Quelle: google maps) |
„Ich bin nicht als gebrochener Mensch dorthin gekommen, habe was gesucht, um mich aufzuwerten.“
Vogel: Herr Krass, gab es einen Verbindungsmann, der Sie nach Freiburg gelotst hat?
Krass: Den gab es, klar. Es gab einen türkischen Bruder in Münster und der wusste das eben. Mit dem bin ich dann mal runtergefahren und ich habe mich dann mit dem damaligen Chef der Moschee zusammengesetzt.
Vogel: Sie sind dann regelmäßig dorthin gefahren?
Krass: Zu Beginn war ich die ganze Woche da, von Montag bis Freitag. Ich habe sogar die ganzen Weihnachtsferien dort verbracht. Nur am Wochenende war ich zu Hause. Dann irgendwann, als es meiner Familie ein bisschen zu viel wurde, bin ich nur noch wochenends runtergefahren. Freitag hin und am Sonntag oder Montag wieder zurück. Das ging über einige Monate so.
Vogel: In der Moschee predigte damals der Ägypter Dr. Yahya Y., der mit der früheren Terrororganisation Dschamaa al-Islamiyya verbunden und für den Dschihad in Bosnien geworben haben soll. Haben Sie damals bei Ihren Moscheebesuchen bemerkt, dass sich dort Islamisten trafen?
Krass: Ja. Als ich dorthin gekommen bin, war ich erstmal „geflasht“. Ich dachte: „Oh wow, das ist der ‚wahre Islam‘. Wenn da was unterrichtet wird, dann hörst du immer einen Beweis. Das ist so, weil der Prophet das so gesagt und gemacht hat.“
Das erste Buch, das ich dort gelesen habe, war von Nasiruddin al-Albany (ein Gelehrter, der großen Einfluss auf die Salafisten ausübt), „Das Gebet des Propheten“. Vom Thema her völlig harmlos. Aber das, was mich so fasziniert hat, war, dass jede Handlung im Gebet, selbst die banalsten Dinge, beschrieben wurde und diese mit Überlieferungen bzw. Authentizitätsprüfungen belegt war. Ich dachte „Wow, was haben wir für eine tolle Religion. Hier bin ich richtig. Das ist es endlich!“.
Ich bin zur Quelle des Islams direkt vorgestoßen, konnte zu dem Zeitpunkt aber noch kein Wort Arabisch sprechen. Das hat mich einfach wahnsinnig beeindruckt.
Vogel: Yahya Y. predigte damals auf Deutsch?
Krass: Ja, er hat in deutscher Sprache unterrichtet. Es gab noch einen anderen ägyptischen Imam dort, dessen Reden im Unterricht übersetzt wurden.
Vogel: Haben Sie auch Reda Seyam getroffen, der sich in der Moschee radikalisiert haben soll und später zum internationalen Terroristen wurde?
Krass: Nicht bewusst, da er mir namentlich nicht bekannt war. Es kann sein, dass er zur gleichen Zeit in der Moschee war, aber er wurde mir nicht vorgestellt. Erst viel später erfuhr ich, dass er auch in Freiburg war.
Vogel: Wie kann man das nachvollziehen, dass Sie als friedfertiger Mensch in so wenigen Monaten in Freiburg zu einem radikalen Islamisten geworden sind? Lag das an der geschlossenen Community vor Ort?
Krass: Definitiv. Aber ich hatte von dem, was ich später als „Larifari-Islam“ bezeichnet hatte, zuvor keinen Input bekommen. Es war nicht so, dass ich eine feste ideologische Basis durch eine andere ausgetauscht hätte, sondern ich war vorher einfach nur einfacher Muslim und habe gebetet, das war‘s. Ich wollte den Islam lernen.
Ich hatte damals nach fünf Tagen das Gefühl, dass das, was gelehrt wurde, der „wahre Islam“ sei. Zu Yahya Y. sagte ich damals: „Ich habe in diesen paar Tagen mehr gelernt als in den fünf Jahren davor.“ Natürlich war es auch der entsprechende Habitus, sich gegenüber anderen Muslimen überlegen zu fühlen. Viele strenge Meinungen zum Islam habe ich sofort übernommen. Ich habe mir den Bart auf Faustlänge wachsen lassen und die entsprechende Kleidung angezogen. Du bekamst das Gefühl, Teil einer erretteten Gruppe zu sein.
Yahya Y. erzählte zum Beispiel, dass es 73 Gruppierungen im Islam gebe. Alle, bis auf eine von ihnen, würden im Höllenfeuer landen. Wer war die gerettete Gruppe demnach? Wir natürlich. „Woher wissen wir das genau?“ – „Guck mal, hier haben wir doch alle Beweise und zwar für jede Gruppierung. Wenn wir es nicht sind, wer soll dann überhaupt gerettet werden?“ Du hast also nicht nur die „wahre Religion“, sondern innerhalb dieser sind 99 % der Gläubigen verloren. Aber du gehörst zu den ein Prozent, die errettet werden.
Das Ganze habe ich im Alter von 23 Jahren gelernt – und es war Balsam für das Ego.
Vogel: Obwohl Sie damals ein junger Mann waren, der auf Grundlage Ihrer biografischen Schilderung kein eingeschränktes Selbstbewusstsein hatte. Warum hatten Sie dann dieses Bedürfnis?
Krass: Das hatte ich eigentlich nicht. Trotzdem war das einfach angenehm. Ich bin nicht als gebrochener Mensch dorthin gekommen, habe was gesucht, um mich aufzuwerten. Ich hatte ein normales Leben, aber plötzlich die Chance auf die Pole Position. Du fährst nicht im Rennen mit und bist dabei, sondern du bist jetzt an der Spitze.
Das war nicht die einzige Sache, die mich angezogen hat, aber es spielte in den Jahren eine große Rolle für mich.
Vogel: Demnach hatten Sie durchaus eine gewisse Sehnsucht nach Bedeutung oder Bedeutungszuwachs?
Krass: Sagen wir es so: die Sehnsucht wurde geweckt oder man hat diesen Bedeutungszuwachs gekostet und festgestellt, dass es sich gut anfühlt.
„Wir wollten sie 'salafisieren': 'Wir gegen die' "
Vogel: Hatten Sie auch einen Prediger, mit dem Sie sich identifizieren konnten, eine Art Vorbild, das Sie damals geprägt hat?
Krass: Ja. Aber bekannte deutschsprachige Prediger gab es damals noch kaum. Natürlich hat auch Yahya Y. damals Einfluss auf mich ausgeübt. Er wurde mir als Schüler eines sehr bekannten Gelehrten in Ägypten vorgestellt. Bei letzterem hatte er zeitweise auch gewohnt. Dieser Prediger war unter den ägyptischen Salafisten auch kein Unbekannter. Das war also allein schon mal etwas, was Y. nach außen hin ausgezeichnet hat.
Dann seine Unterrichte: Es wurde nicht nur einfach etwas gesagt, sondern auch Beweise und Quellen für Aussagen herangezogen. Auch sein Wesen wirkte angenehm ruhig, große Emotionen zeigte er kaum.
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Prediger in Freiburg und Neu-Ulm: Dr. Yahya Y. (Quelle: ARD) |
Vogel: Übte er vielleicht auch die Rolle eines Lebensberaters Ihnen als jungen Menschen gegenüber aus?
Krass: Nicht unbedingt in privaten Situationen, aber was die Religion betraf. Also ein Mufti (islamischer Rechtsgelehrter), den ich anrufen und an den ich mich wenden konnte. „Wie mache ich dies? Wie mache ich das?“
2002 nahm ich an der Bundestagswahl teil. Das habe ich ihm dann erzählt und er hat dann natürlich davon abgeraten. Dann wusste ich Bescheid.
Vogel: Sie waren damals selbst noch kein Prediger, sondern erstmal aus Ihrer Perspektive „gläubiger Muslim“. Sie haben dort sicher auch Know-How erlernt, Netzwerke erschlossen und Freundschaften geschlossen.
Krass: Ja, das war eben die Zeit des Lernens in Freiburg. Danach sind keine großen Kontakte mehr dahin entstanden. Aber als ich als „frisch gebackener“ Salafist aus Freiburg nach Münster zurückkam, bin ich automatisch in die dortige Salafi-Community hineingeraten, obwohl ich sie gar nicht kannte. Das waren hauptsächlich Leute aus Marokko – einer davon ist später mein bester Freund geworden. Das passte damals zusammen.
Vogel: Ging es dann in Münster dann gleich auch los, dass Sie Ihre Gefährten geprüft haben, wie diese religiös tickten und wo sie von Ihnen abgewichen sind?
Krass: Ja. Ermahnungen zum Beispiel. Man achtete darauf, bestimmte Dinge, die den Salafis zugeschrieben werden, entsprechend zu befolgen. Wir waren die Einzigen, die die Hosenbeine hochgekrempelt haben – kein anderer tat das.
Ich hatte im Vorgespräch erzählt, dass ich mitten im Studium einen guten Job angenommen hatte. Einmal sollte ich da gemeinsam mit den Kollegen zu einer Messe fahren. Es gab eine Kleiderordnung: Anzug, Hemd und Krawatte. Das brachte mich in einen großen inneren Konflikt. Ich bin hingefahren und habe so getan, als hätte ich die Anzughose vergessen – und bin dann in Jeanshose rumgelaufen, weil ich diese hochkrempeln konnte.
Ähnliches beim Gebet: Es wurde darauf geachtet, dass die Hände weit oben auf der Brust liegen. Das sieht man in keiner anderen Rechtsschule so – das machen nur die Salafis. Ein Bart, der kürzer als die Faust ist, wird außerdem, übertrieben gesagt, als „Hochverrat“ aufgefasst.
Vogel: Sie haben sich also in Münster der salafistischen Szene angeschlossen, folgten strengen religiösen Regeln. Inwiefern waren Sie damals schon „politisch“ aktiv?
Krass: Wir haben Anfang der 2000er Jahre in Münster die Szene gerockt. Wir wollten in der Moschee, in der wir beten gingen, einen Umsturz planen. Wir wollten sie „salafisieren“: „Wir gegen die“. Wir waren „die eine“ unter den 73 Gruppen und wir wollten ideologisch gewinnen. Der Rest hatte mit dem Höllenfeuer zu rechnen.
Ich war also in wenigen Monaten radikal geworden. Wir bekamen es aber mit viel Opposition zu tun, und spalteten uns dann ab, indem wir eine eigene Moschee gründeten.
Hinzu kam das Internet. Ich hatte ja nun einen inneren Kompass, welche Internetseiten ich ansteuern sollte, die auf dem „Manhadsch“ (richtige Weg) waren. Ich kannte die „richtigen“ Gelehrten und die „richtigen“ Meinungen und konnte so entsprechend auswählen. Und dadurch bin ich auch an das entsprechende Material gelangt.
Vogel: In deutscher Sprache?
Krass: In deutscher und hauptsächlich englischer Sprache. Deutsches Material gab es noch nicht so viel. Aber die Salafis waren damals sehr aktiv und boten viele Inhalte an, Viele Lektüren waren von Mohammed ibn Abd al-Wahhab (ein Gelehrter, auf den der heutige Wahhabismus zurück geht und der in der Salafismus-Szene verehrt wird) und alles, was danach kam. Ich wusste, Ibn Abd al-Wahhab war auf Manhadsch, und das reichte mir.
Die erste Internetseite, auf die ich ging, hieß: Al-Wala wal-Baraa (Loyalität und Lossagung). Daran sieht man, welche neuen Chancen das Internet bot, sich selbstständig in die salafistischen Inhalte einzuarbeiten.
Vogel: Waren Sie in Münster schon zum Wortführer geworden? Sie hatten schließlich mehrere intensive Monate in Freiburg verbracht und hatten Wissen gesammelt.
Krass: Ja. Ich habe auf Deutsch Vorträge gehalten – der erste Vortrag war über den Tauhid (Einheit Gottes), der zweite über Al-Wala wal-Bara. Da sehen Sie schonmal, was Programm war. Die Vorträge wurden privat gehalten und noch nicht gefilmt. Im Internet konnte man ohnehin noch nicht so einfach Videos hochladen.
Vogel: Sie wollten also nicht nur lernen, sondern auch lehren.
Krass: Ja, das waren die Anfänge meiner Predigerkarriere. Ich höre oder schaue meine eigenen Vorträge nicht an – ich denke mir immer: Wie kann sich jemand das Gesabbel anhören?
Aber heute unterstellen mir einige ein gewisses rhetorisches Geschick und das hat mit Sicherheit auch mit sehr viel Erfahrung zu tun, weil ich früh da reingekommen bin. Zumindest auf lokaler Ebene konnte ich so ein paar Akzente setzen.
Weiter zu Kapitel 3: „Kompromisse mit dem Kufr machen? Um Gottes willen!"