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Verbrannter Pass von Attentäter Ziad Jarrah (Quelle: FBI) |
„Wir waren in seiner Wohnung, haben gesessen, gequatscht und Nummern ausgetauscht – nichts Großes.“
Vogel: Herr Krass, als Sie in Münster mit Ihrem „Salafisierungsprojekt“ scheiterten, was geschah dann?
Krass: Wir haben eine eigene Moschee gegründet. Und jetzt kommt einer der Punkte ins Spiel, der mir das Verfahren im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 einbrockte – obwohl die Moschee damit nichts zu tun hatte.
Ein Freund meines besten Freundes hatte Kontakt zu einem Prediger namens Usama A., und wir luden ihn nach Münster ein. Die Jugendlichen waren begeistert von ihm und seinen Vorträgen. Deshalb machten wir ihn schließlich zum Sheikh unserer Moschee und zum ersten Vorsitzenden unseres dazugehörigen Vereins ("Islamisches Zentrum Münster e.V."). Ich war zweiter Vorsitzender.
Was ich erst später erfahren habe: Der Mann soll ein hochrangiger Funktionär der afghanischen Mudschahedin gewesen sein. Er kam aus Ägypten, soll dort der Dschihad-Bewegung angehört haben, ging dann nach Pakistan und erhielt später in Deutschland Asyl.
Vogel: Der internationale Dschihad war also in Ihrer Moschee angekommen?
Krass: Ja. Aber ich muss dazu sagen, dass er diese Themen weder im Privaten noch in der Moschee angesprochen hat. Im Gegenteil: Er vertrat uns gegenüber sehr glaubhaft die Meinung, dass Dschihad-Aktionen und Regierungsstürze mittels Attentaten nichts bringen würden. Stattdessen müsse man die nächste Generation islamisch erziehen. Die Vorträge, die er gehalten hat, waren durchaus ansprechend.
Vogel: Und dann kam der 11. September 2001, als al-Qaida-Terroristen in den USA Flugzeuge entführten und zum Absturz brachten. Mehrere von ihnen, darunter Mohammed Atta und Ziad Jarrah, hatten zuvor in Deutschland gelebt. Sie standen im Verdacht, mit dem Terrorkomplott zu tun gehabt zu haben?
Krass: Drei größere Umstände führten zu diesem Verdacht: Erstens war es die Moschee in Münster, die wir mit Usama A. gegründet hatten. Zweitens, weil ich in Freiburg war. Und drittens die Tatsache, dass ich mich mit Ziad Jarrah, einem der Attentäter, bereits 1999 in Hamburg getroffen hatte – ein paar Monate, bevor ich nach Freiburg ging.
Es gab aber keinen Zusammenhang zwischen Hamburg und Freiburg. Niemand hat mich dorthin vermittelt, und auch die Personen in Freiburg, mit denen ich zusammenkam, hatten nichts mit Hamburg zu tun. Das waren zwei separate Ereignisse, aber im gleichen Zeitraum.
Vogel: Also noch vor Beginn Ihrer Radikalisierung in Freiburg? Wie passt das zusammen?
Krass: Ich bin über einen Freund nach Hamburg gekommen, der dort regelmäßig Vorträge hielt. Das war ein Afghane, und Hamburg hatte schon immer eine große afghanische Community. Dort lud mich Ziad Jarrah zum Abendessen ein. Wir waren in seiner Wohnung, haben gesessen, gequatscht und Nummern ausgetauscht – nichts Großes.
Einige Wochen später traf ich ihn noch einmal, als er in der Nähe von Münster seine Ehefrau besuchte.
Vogel: Wann genau fand das zweite Treffen mit Jarrah statt?
Krass: Etwa sechs Wochen später. Er rief mich an: „Hey, ich bin gerade in Bochum, und das ist nicht so weit von Münster – komm mal vorbei.“ Ich besuchte ihn dann zu Hause.
Vogel: Wollen Sie berichten, was Sie besprochen haben? War es ein freundschaftliches Treffen?
Krass: Tatsächlich, ja.
Vogel: War das so üblich, dass man sich so einfach einlädt?
Krass: Das war es tatsächlich. Damals waren deutsche Konvertiten etwas Exotisches. Dieser Kontakt zu Jarrah war wohl eher diesem Umstand geschuldet: „Hey, das ist ein deutscher Konvertit.“ Vielleicht dachte er auch langfristig und hatte Pläne in eine bestimmte Richtung. Einige Monate später brach er nach Afghanistan auf. Vielleicht hatte er die Idee: „Vielleicht bringe ich einen Konvertiten mit.“ Keine Ahnung.
Vogel: Sie haben dennoch nichts bemerkt? Auch nicht anhand seiner Ansichten?
Krass: Ich habe ihn damals als relativ normalen und durchschnittlichen Muslim wahrgenommen. Er war nicht auffällig in irgendeiner Weise.
Vogel: Wie kam er dann auf Sie, als er in Bochum war? Haben Sie sich in Hamburg so gut verstanden?
Krass: Ja, schon. Das kann man sagen.
Eva Krass (im weiteren Verlauf des Gesprächs mit "E. Krass" abgekürzt): Marcel war auch auffällig als Konvertit. Häufig hieß es: „Ey, da ist ein Deutscher, der konvertiert ist.“
Krass: Das war damals selten, bevor daraus eine Bewegung wurde. Wenn du überhaupt konvertieren wolltest, war es schon schwierig, an den Islam zu kommen. Wir haben uns gut verstanden. Dass wir Nummern austauschten, war normal.
In den 1990er Jahren gab es zum Beispiel Treffen deutschsprachiger Muslime – Wochenendtreffen, zu denen viele aus ganz Deutschland kamen. Da tauschte man viele Nummern aus.
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Feuerwehrmänner am World Trade Center (Quelle: Courtesy of the Prints and Photographs Division. Library of Congress) |
„Ich habe mich gefreut, dass die Amerikaner eins auf den Deckel bekommen haben.“
Vogel: Wie haben Sie, Herr Krass, auf die Terroranschläge vom 11. September persönlich reagiert?
Krass: Ich habe mich gefreut, dass die Amerikaner eins auf den Deckel bekommen haben.
Vogel: Warum, obwohl Sie nicht zu einer dschihadistischen Gruppierung gehörten?
Krass: Das lässt sich psychologisch erklären. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und hatte das Gefühl, dass man hier früh eine moralische Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt vermittelt bekommt – ein Eurozentrismus: „Der Rest der Welt muss sich an uns messen.“
Wir können in andere Länder einmarschieren, über richtig und falsch entscheiden, über das, was anderen guttut oder nicht. Und wenn wir Kriege führen, geschieht das im Namen der Menschlichkeit und des Völkerrechts.
Als ich Muslim wurde, hörte ich zum ersten Mal die andere Seite. Wir waren in Münster eine Studentenmoschee, die von 30 Nationen besucht wurde. Ich hatte Kontakte zu Algeriern, die unter den Massakern in den 1950er Jahren durch die Franzosen litten. Ich hatte Freunde aus Palästina, die von ihren Erfahrungen berichteten.
Ich werde nie vergessen, wie die Tagesschau über einen Luftangriff in Gaza berichtete, bei dem ein Wohnhaus einstürzte. Eine ganze Familie kam ums Leben – es war die Familie eines meiner besten Freunde. Abends kondolierten wir in der Moschee. Das prägt.
Insofern lässt sich meine Genugtuung im Zuge der Anschläge 2001 erklären.
Vogel: Sie waren 2001 demnach schon hoch politisiert?
Krass: Ja. Man muss auch sagen, dass zuvor in Freiburg und später auch in der Moschee in Neu-Ulm Anschläge auf westliche Zivilisten legitimiert wurden.
Vogel: Das wurde so auch offen gesagt?
Krass: Ja klar – zumindest unter denjenigen, die sich privat unterhalten haben.
Vogel: Gegen Sie wurde dann nach den Anschlägen vom 11. September wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Auch eine Razzia gab es bei Ihnen. Wie reagierten Sie darauf?
Krass: Wissen Sie, wie unbedarft ich damals war? Ich fragte mich, wie das alles sein kann. Die kamen um sechs Uhr morgens, die Standardzeit für Hausdurchsuchungen. Unser Sohn war damals 16 Monate alt und ich war zum Morgengebet in der Moschee.
Es hämmerte gegen die Tür und meine Frau war noch im Schlafanzug. „Sofort aufmachen! Polizei! Machen Sie auf, sonst kommen wir rein!“ Sie warf sich noch schnell das Kopftuch über, machte die Tür auf – und im Nu standen zehn bewaffnete Polizeibeamte mit Sprengstoffhunden in der Wohnung.
Vogel: Wie reagierten Sie auf diese Ereignisse? Hat Ihre Ehefrau Ihnen Vorwürfe gemacht?
Krass: Nein. Sie wurde durch die Razzia traumatisiert und reagiert noch heute erschrocken auf bestimmte Klingeltöne, weil sie ans Sturmklingeln erinnert wird. Das war hart. Solche Folgen zu sehen, ist einer der Gründe, warum ich heute mehr Rücksicht auf die Familie nehme und anderen rate, genau zu prüfen, mit wem sie Kontakt haben.
Natürlich litt sie unter Beobachtungen, negativer Berichterstattung und den Auswirkungen auf mein Berufsleben – das führte auch zu Konflikten.
Vogel: Wie reagierten Ihre Eltern auf Ihre schnelle Radikalisierung?
Krass: Die haben das gar nicht so mitbekommen – aber, dass mein Bart sehr lang war.
Vogel: Sie haben sie nicht bedrängt, zu konvertieren, oder sich islamisch korrekt zu verhalten, wie es viele Salafisten tun?
Krass: Nein. Ich war sechs Jahre zuvor mit meinen Missionierungsversuchen gescheitert. Das Verhältnis zu meinen Eltern blieb stabil, auch wenn die Razzia und die Medienberichte Konflikte verursachten. Aber sie hielten immer zu mir. Sie glaubten mir, dass ich mit dem 11. September nichts zu tun hatte, auch wenn sie schockiert waren.
Vogel: Haben Ihre Eltern nicht versucht, Sie vom radikalen Milieu zu lösen?
Krass: Doch, natürlich, mehrmals. Aber Sie erinnern sich: „Es gibt nur eine von 73 Gruppen, die ins Paradies kommt. Kompromisse mit dem Kufr (Unglaube) machen? Um Gottes willen!“ Dafür gab es damals keinen Spielraum.
Ich hatte eher Angst davor – weshalb ich auch eine Zeit lang wie Osama bin Laden herumlief, im pakistanischen Dress und mit Turban-Band.
Vogel: Bin Laden haben Sie dann auch bewundert und als „Freiheitskämpfer“ angesehen?
Krass: Ja, absolut. Ich muss das aber kontextualisieren: In meiner Jugend wurden die Mudschahedin in Afghanistan öffentlich eher positiv wahrgenommen – als Helden, die ihr Land gegen die Sowjetunion verteidigten.
Das Gleiche galt für Bosnien und Tschetschenien in den 1980er und 1990er Jahren. Begriffe wie „Dschihad“ und „Mudschahedin“ waren im Mediendiskurs positiver besetzt.
In Freiburg traf ich Leute, die am Bosnienkrieg teilgenommen hatten – einer war Protagonist in vielen Propagandafilmen, die in unserer Moschee kursierten. Er war in Militärkleidung und bei Kampfoperationen zu sehen. Das galt als normal.
Erst Mitte der 1990er Jahre, als al-Qaida den Krieg in den Westen trug, änderte sich das Bild. Man nahm es trotzdem nicht ernst. Erst mit dem 11. September änderte sich alles – und auch die Videokassetten verschwanden.