Issa stürzte nach der Eroberung der syrischen Großstadt Aleppo in eine persönliche Krise. Der damals 22-jährige IT-Student war zuvor jahrelang in der Salafisten-Szene aktiv gewesen. Auch an die Ausreise in den Jihad nach Syrien hatte er damals gedacht. Am Ende zog er sich jedoch ganz zurück. Ein Gesprächsprotokoll.
"Zuckerbrot und Peitsche"
Issa ist in Süddeutschland aufgewachsen, erzählt er. Seine Mutter ist Deutsche,
sein Vater entfloh den politischen Repressionen in Syrien. Beide lernten sich
in den 1980er Jahren in Deutschland kennen. Issas Vater, ein Akademiker aus syrisch-mittelständischen
Verhältnissen, begann in der Autoindustrie zu arbeiten, weil sein Abschluss
keine Anerkennung gefunden hatte. Seine Mutter kümmerte sich mit der Geburt der
Kinder um den Haushalt. „Es war eine klassische Rollenverteilung“, so Issa.
Das Umfeld der Familie beschränkte sich überwiegend auf
konservativ-migrantische Milieus: Araber, Türken, Kurden und Menschen vom
Balkan. Die Eltern verfolgten eine autoritäre Erziehung. Die Mutter selbst
hatte nach der Bekanntschaft mit Issas Vater angefangen sich an die
Kleidervorschriften und die „Ibadah“ (Anm.: gottesdienstliche Verrichtungen im
Islam) zu halten. Issa und seine Brüder wurden verpflichtet am Koranunterricht
teilzunehmen. „Am Wochenende und am Abend gingen wir in die Moschee und in den
Koranunterricht. Natürlich hielten wir uns auch an das Salāt, fünf Mal am
Tag beten. Wir standen immer zum Fajr-Gebet (Anm.: Morgengebet) auf und beteten
gemeinsam. Zusammengefasst haben wir die fünf Säulen des Islam eingehalten.“
Die Familie verkehrte vor allem in Moscheen von Mili Görüs und Diyanet
(Ditib) sowie in arabischen Gemeinden. „Man spricht auch despektierlich von
Hinterhofmoscheen“, erklärt Issa. Extremistisch seien seine Eltern aber nicht
gewesen. Moralverletzungen oder Verfehlungen seien aber durch sie auch
sanktioniert worden. „Der Kopf ist noch dran. Niemand wurde gesteinigt“,
erzählt Issa selbstironisch. Man sei aber geschlagen worden. Besonders
einprägsam sei für ihn das Schlagen mit dem Gürtel gewesen.
Trotz konservativer Erziehung und des elterlichen Umfelds besuchten Issa und
seine Geschwister ganz normale Kindergärten, knüpften auch Kontakte zu
deutschen Kindern und spielten in örtlichen Fußballvereinen. Mit sechs Jahren
wurde Issa schließlich eingeschult. Es sei eine schöne Zeit für ihn gewesen,
erinnert er sich. Einzig der Verzicht auf Schweinefleisch habe ihn von den
Gleichaltrigen unterschieden. Trotz manchen Auseinandersetzungen mit anderen
Schülern bekam er aufgrund guter Leistungen die Gymnasialempfehlung.
Die Eltern seien trotz ihres grundsätzlichen Elitarismus mit ihm zufrieden
gewesen. Issa vergleicht diese Einstellung im Kontext der strengen Erziehung
mit „Zuckerbrot und Peitsche“. Man sei auch belohnt worden für Leistung. Seine
Eltern hätten den Wert von Bildung verstanden und wie sie dabei „Prozesse“ bei
ihm und seinen Geschwistern „forcieren“ könnten. Eine Hauptschule mit 90
Prozent Ausländeranteil hätte für ihn vielleicht unterhaltsam sein können,
scherzt er. Für die Eltern wäre das jedoch ein Alptraum gewesen.
Issa kam nach der Grundschule auf eine katholische Privatschule. Warum? Seine
Eltern hätten wohl die christliche Erziehung der „staatlichen Anarchie“
vorgezogen, erklärt er. Der Ausländeranteil sei an Privatschulen niedriger
gewesen und auch so hätten sie sich eine bessere Vermittlung von
Leistungsprinzipien, Disziplin und konservativen Weltbildern versprochen. Als
„pragmatisch“ bezeichnet er die Haltung der Eltern. Doch besonders wohl fühlte
sich Issa in diesem Umfeld nicht. „Da waren elitäre Kinder und Eltern. Ich
gehörte nicht dazu", berichtet er. Nur ein türkischer Junge sei mit ihm in
der Klasse gewesen. Das Verhältnis zu Lehrern und Mitschülern sei „suboptimal“
gewesen.
„Für meinen türkischen Freund und mich war das eine fremde Welt. Ich war vorher
mit stabilen Deutschen befreundet und das waren fast alle „Almans“. Wir waren
in der Klasse relativ laut, haben uns auf Türkisch unterhalten und ich habe
dort – wirklich nur dort – Rassismus erleben müssen.“ Wie er das meint? Das
schulische Umfeld hätte sich sehr für sein Privatleben interessiert. Zudem
seien ihm Vorwürfe gemacht worden. Lehrkräfte und Schüler hätten Sätze fallen
lassen wie: „Das ist bei euch in Istanbul so, hier läuft das anders“ oder „Geh
dorthin zurück, woher du gekommen bist." Die Eltern der Mitschüler hätten
nur ungern gesehen, dass er mit ihren Kindern befreundet gewesen sei. Issa und
sein türkischer Mitschüler hätten sich das nicht gefallen lassen.
„Auseinandersetzungen wurden auch gerne schulisch wie außerschulisch mit osmanischen
Tokats (Anm.: Ohrfeigen) geklärt“, erläutert er. Gleichermaßen sei er auch
hyperaktiv gewesen. Er habe sich in der Schule unterfordert gefühlt und sich im
Unterricht mit anderen Dingen beschäftigt.
Schließlich wurde er im Alter von 13 Jahren zu einer Schulpsychologin
geschickt. Die Lehrkräfte hätten ein ADHS vermutet, eine
Aufmerksamkeitsdefizitstörung, wie es im medizinischen Fachjargon heißt. Seine
Eltern hätten versucht ihn zu unterstützen und seien oft zu Elterngesprächen
erschienen, erzählt er. „Sie konnten mein Unwohlsein und meinen Frust auch
verstehen.“ Es folgten Besuche bei einem Psychiater, der neben anderen
Untersuchungen auch einen Intelligenztest mit ihm durchführte. Auf was er kam?
Issa zögert. Es scheint ihm peinlich zu sein: „Ein IQ-Wert von 138.“ Der Arzt
habe ihm schließlich zu einer Psychotherapie geraten und ihm später
Methylphenidat verschrieben, das speziell gegen ADHS eingesetzt wird. Die
Eltern hätten ihn bei der Behandlung immer unterstützt und dazu angehalten.
"Ich wollte es verstehen"
Mit dem Umzug der Familie in eine Großstadt in Baden-Württemberg, sei er
schließlich an eine öffentliche Schule gewechselt, an der er sich zunehmend
wohler fühlte. „Die Mitschüler waren keine Petzen. Es waren total durchmischte
Schichten. Ethnisch, wie auch der gesellschaftliche und soziale Hintergrund.
Der Ausländeranteil war hoch und man konnte zu den Pausen auch beten.“
Gleichermaßen sei er auch mit verbotenen Dingen in Berührung gekommen. „Ich
habe z.B. gebrannte CD's verkauft. Andere haben Stoff vertickt.“ Zwar sei es
ihm dabei um Geld gegangen, doch auch sein wachsendes Faible für Informatik
hätte eine Rolle dabei gespielt. Er habe an Playstations und PCs herum
geschraubt. Erst für sich und seine Freunde, dann habe er auch Nachhilfe dabei
gegeben und die „finanziellen Aspekte“ seiner Arbeit erkannt. „Das waren keine
tausende Euros, aber es hat sich dennoch gelohnt.“ Und was sagten seine Eltern
dazu? Die hätten sein Interesse erkannt, meint Issa. Mit seinem Bruder hätte er
PC-Systeme zusammengebaut, Komponenten ausgetauscht und damit auch Familien und
Freunden weitergeholfen. Im Laufe des Gymnasiums habe er „freie Ressourcen“ für
sich genutzt und sich mit Programmiersprachen beschäftigt, Mitschülern in Mathe
und Physik geholfen und viele Bücher gelesen.
Doch neben dieser Entwicklung als delinquenter Überflieger schien es auch noch
einen anderen Issa gegeben zu haben. Der Glaube sei ihm stets wichtig gewesen,
beteuert der heute 24-Jährige. Als Schüler besuchte er viele unterschiedliche Moscheen
in Süddeutschland. „Ich habe mir selbst ausgesucht wohin ich gehe. Meist aus
Interesse bzw. weil ich dort Bekannte hatte.“ Mit etwa 16 Jahren sei er
schließlich auch in Berührung mit dem Salafismus gekommen. Warum? „Ich habe
bereits Jahre zuvor in Freunden Negativbeispiele gesehen. Der türkische
Nationalismus zum Beispiel oder die Verehrung von Kuffar wie Atatürk haben mich
verstört“, erklärt er. Ihm sei die Praxis entlang der islamischen Gesetze
wichtig gewesen, die er zu Hause auch vermittelt bekam. „Ich wollte es aber
verstehen. Der Kern des Islam ist der Monotheismus - der Tawhid. Allein die
Frage: Warum mache ich dies alles? Wofür und zu welchem Zweck? Ich suchte nach
dem kohärenten in sich logischen System - nach der rationalen Erkenntnis."
Seine Geschwister seien dagegen weniger an solchen Fragen interessiert gewesen.
Und die Eltern? Zwar hätten diese starke Vorbehalte gegenüber dem westlichen
Lebensstil gehabt und auch davor gewarnt. Mit der Dichotomie von Kufr (Anm.:
Unglauben) und Iman (Anm.: Glaube) hätte das aber weniger etwas zu tun gehabt,
sondern mit kulturellen Vorstellungen. „Die meisten Kuffar sind keine Christen.
Die Christen im Nahen Osten gehen nicht fremd und konsumieren Drogen“, führt er
aus und knüpft mit einer rhetorischen Frage an: „Fragen sie einen muslimisch
stämmigen Drogenkonsumenten nach Juz' im Koran (Anm.: Teil im Koran) oder Surat
al-Fatiha (Anm.: erste Sure des Koran) und fragen sie dann einen
Durchschnitts-Deutschen nach Mose. Bei wem wird es wohl eine befriedigende Antwort
geben?“ Er und seine Eltern hätten eben nicht verstehen können, warum sich
Paare voneinander trennten, warum Eltern sich nicht um ihre Kinder zu kümmern
schienen oder warum der „promiskuitive Lebenswandel“ und der „omnipräsente“ Alkoholkonsum
in der Gesellschaft so große Akzeptanz gefunden hätten. „So etwas werden sie im
christlichen Stadtteil von Damaskus oder Beirut nicht sehen“, ist Issa
überzeugt.
Und dennoch hätten die Eltern und die Moscheegemeinden, in denen die Familie
verkehrte, ihm seine eigenen Fragen nicht beantworten können. Mit etwa 15
Jahren suchte Issa die Antworten in Predigten im arabischen Fernsehen, dann in
verschiedenen Moscheen Aber auch im Internet sei er rastlos gewesen, berichtet
er. „Ich sah mir Vorträge zu haram und halal Politik an und las Sayyid Qutbs
Biografie. Er wurde zu einem Vorbild für mich, auch wenn ich ihn damals noch
nicht verstand und von ihm überfordert war.“ Qutb sei ein großer Lehrer
gewesen, in dem er für etwas ausgezogen und dafür gestorben sei. Issa vergleicht
ihn mit einem Staatstheoretiker auf der Ebene eines Max Webers. Mit seinem
Vater und den Brüdern habe er zudem politische Diskussionen geführt. Palästina
sei dabei immer wieder ein „Über-Ich-Thema“ gewesen, wie er es in Anspielung an
Sigmund Freud nennt. Zur Vertiefung seiner Sein-Fragen hätte die Familie sich
aber aufgrund mangelnder Zeit sowie „fehlender Muse und Wissens“ nicht
geeignet. Sein Vater wie auch die Autoritäten in den Moscheen und Seminaren
hätten ihn nicht ernst genommen.
"Many-to-many-Netzwerke nennt man das"
„So machte ich mich dann selbst auf die Suche nach einem Mentor“, schildert
Issa. Er besuchte viele unterschiedliche Moscheen in Süddeutschland. „Ditib,
Mili Görüs, bosnische, marrokanische und pakistanische Moscheen.“ Insbesondere
bei den türkischen Gemeinden sei ihm die „Unbildung, der Rassismus und die
Dogmatik“ aufgefallen. Seinen Mentor habe er schließlich in einer primär
arabischen Moscheegemeinde gefunden. Ein Mann, Mitte 30, Diplom-Ingenieur, des
Arabischen mächtig und stets hilfsbereit gegenüber jüngeren Muslimen. Warum
Issa von ihm in den Bann gezogen wurde? „Es war sein Charisma, sein Charakter.
Er kannte auch Nietzsche. Er hat mit mir auch über Albert Camus philosophiert.“
Außerhalb der Moschee sei der Mann aber nicht bekannt gewesen. Er sei es
zumindest gewesen, der Issa in die Salafismus-Szene eingeführt habe, erläutert
er. „Er hat gefragt, ob ich Interesse habe. Er hat mich oft in der Moschee
gesehen. Da lernt man sich kennen, isst und spricht miteinander über profanes
wie islamisches.“
Schließlich habe er den Mann im Alter von ungefähr 16 Jahren zu salafistischen
Einrichtungen begleitet. Darunter sei auch das "Islamische
Informationszentrum" (IIZ) in Ulm gewesen, ein Hotspot der
salafistischen Szene in Baden-Württemberg. Was er dort machte? „Es ging um
Wissensvermittlung und Lebensberatung“, sagt Issa zögernd. Genauer? „Zum
Beispiel gab es eine Unterrichtsreihe zu den Bedingungen des Tawhid,
Erklärungen wie man einen Ehepartner auswählt usw. Oder auch über die persönliche
Da'wa zu Muslimen, die nicht oder nur wenig praktizierten.“ Neben Predigern wie
Said el-Emrani alias Abu Dujanah aus dem Rhein-Main-Gebiet, hätte auch sein
Bekannter, der Ingenieur, dort gelegentlich Unterrichtsstunden abgehalten.“
Nicht nur in Ulm, sondern im gesamten süddeutschen Raum war Issa anschließend
unterwegs.
Mit Fahrgemeinschaften reiste er zu Vorträgen und Seminaren, übernachtete auch
in Moscheen und bei „Brüdern“. In Pforzheim lauschte er in der salafistischen
al-Baraka Moschee Predigern wie Abul Baraa, Said el-Emrani und Brahim Belkaid
alias Abu Abdullah. Wie er seine Kontakte zur Szene knüpfte? „Naja, man hat
eben an den verschiedenen Orten Brüder kennengelernt. Many-to-many-Netzwerke
nennt man das. Man hat sich gegenseitig eingeladen und über WhatsApp Termine
ausgetauscht.“ Aber auch in der Freizeit traf sich Issa mit den neuen Freunden.
Sie spielten zusammen Fußball, grillten oder betrieben Kampfsport-Training.
„Zum Beispiel im Ramadan ist man, wenn man Zeit dafür hatte, von Stadt zu Stadt
gefahren, um dort Iftar gemeinsam zu begehen.“ So habe man später auch Kontakte
zu anderen Moscheen herstellen können. Bei Ditib und Mili Görüs seien die
Verbindungen enger gewesen. Pierre Vogel sei den Jungen und auch den Älteren
ein Begriff gewesen und auch empfohlen worden.
Auch äußerlich veränderte sich Issa. „Als mir ein Bart gewachsen ist, habe ich
diesen wachsen lassen. Beim Barbier habe ich ihn aber stutzen lassen. Ich bin
aber nicht in der Jalabiya herumgelaufen. An der Schule waren Jogginghosen
quasi unsere Schuluniformen. Zuhause, in der Moschee und zu Festtagen habe ich
die Jalabiya aber getragen. Das war durchaus auch normal bei uns“, führt Issa
aus. Seinen Eltern oder Lehrern seien seine neuen Kontakte aber nicht
aufgefallen. „Das war eine Kanakenschule. Wenn da nicht die Polizei mit einem
Haftbefehl gekommen wäre, hätte dies niemanden interessiert. Meine Eltern haben
aber öfters gefragt, wo ich bin, weil ich viele Absenzen in der Schule hatte.
Ich sagte es ihnen dann einfach.“ In der Schule habe er sowieso den Lernstoff
beherrscht, autodidaktisch gearbeitet und gute Noten bekommen.
Da'wa als Legitimationsgrundlage
Doch zu diesem Zeitpunkt, als Issa sich der „Salaf“ zuwandte, hielt er sich
noch nicht an alle Regeln der Fundamentalisten. An der Schule habe er heimlich
eine deutsche Freundin gehabt, erzählt er. „Es hat Zeit gekostet. Und
irgendwann gab es Ärger, weil ich im Verheimlichen semi erfolgreich war.“ Er
sei schließlich von einer Freundin seiner Schwester verpfiffen worden. Die
Beziehung wäre daraufhin beendet worden. „Ich wollte keinen Ehrenmord riskieren“,
erzählt Issa mit einem Augenzwinkern. Wie sich das mit seinem konservativen
Lebenstil vertrug? „Schule gab es ja auch noch. Regelmäßig bin ich zur Moschee
gegangen und habe Vorträge angesehen. Ansonsten habe ich nebenbei Geld
verdient, schwarz auf dem Bau gearbeitet, Nachhilfe gegeben und am Computer
Netzwerke eingerichtet“, begründet er seine unterschiedlichen Lebenswelten.
Im Alter von 18 Jahren schaffte Issa schließlich sein Abitur. Es sei gut
gewesen, meint er. Für Medizin hätte es dennoch nicht gereicht. In dieser Zeit
– zwischen dem Schulabschluss und der Universität -, kam er auch erstmals in
Berührung mit der „Lies!“-Kampagne des Predigers Ibrahim Abou Nagie, das 2011
gestartet wurde und vor allem Korane an Passanten in den deutschen Städten
verteilte. Durch Freunde in der Moschee sei er auf sie aufmerksam geworden,
erzählt er. „Man kannte sich schon vorher und hat die selben Moscheen besucht.
Ich habe danach gefragt und wurde auch eingeladen.“ Er begann sich dort zu
engagieren, nahm an Verteilaktionen in süddeutschen Städten teil und verbrachte
auch die Freizeit mit den „Lies!“-Anhängern. „Wir trieben gemeinsam Fitness wie
Kampfsport, halfen uns gegenseitig beim Lernen und auch bei anderen Dingen wie
der Job-Vermittlung.“ Die meisten der Aktivisten seien nicht älter als Mitte 20
gewesen.
Mittels Messengerdiensten wie WhatsApp und Facebook seien sie miteinander in Kontakt gestanden, hätten hierüber auch Gelder gesammelt und weitergereicht. Zu Verteil-Schichten an den Koranständen hätte sich jeder selbst verpflichtet. Für die Aktionen wurden die Gruppen instruiert, sich nicht auf Diskussionen mit Passanten einzulassen. „Themen wie Ehrenmord, Zwangsheirat oder Beschneidung sollten unterbunden werden. Uns wurde gesagt, dass wir nur hier seien, um den Nicht-Muslimen den Koran näher zu bringen. Wir sollten immer freundlich bleiben, in Gruppen auftreten, um für Sicherheit zu garantieren und auch auf mögliche Maßnahmen des Ordnungsamtes sowie der Polizei vorbereitet zu sein“, erklärt Issa.
Eine leitende Funktion habe er aber nie ausgeübt, beteuert er. „Es gab
Verantwortliche an jedem Standort bzw. in jeder Region.“ Wer das genau war,
wolle er nicht sagen. Niemand solle in Schwierigkeiten gebracht werden. Die
Führungsfiguren hätten die Gruppen und ihre Aktionen jedenfalls koordiniert,
Spenden verwaltet und Material wie Korane und Flyer transportiert. Sie seien
meist ältere und verheiratete Leute gewesen, die den direkten Draht zum
Kampagnen-Chef Ibrahim Abou Nagie gehabt hätten und von diesem wiederum
instruiert worden seien.
Die Prediger spielten eine zentrale Rolle bei „Lies!“, wenngleich die
Präferenzen der jungen Aktivisten aufgrund ihrer multikulturellen
Zusammensetzung unterschiedlich gewesen seien. So hätten auf asiatische
Anhänger Ikonen wie der Inder Zakir Naik erheblichen Einfluss ausgeübt, für die
Araber religiöse Autoritäten wie der Saudi Mohamad al-Arefe. Geeint worden
seien sie aber alle durch die deutschsprachigen Prediger wie Pierre Vogel, Sven
Lau, Abul Baraa, Abou Nagie und Brahim Belkaid. Sie kamen auch regelmäßig für
Vorträge und Seminare nach Süddeutschland, an denen viele „Lies!“-Anhänger
teilnahmen. Issa nennt die „Deutschland-Tour“ von Abul Baraa im Jahr 2011 als
Beispiel, an der er selbst teilgenommen habe. Die Prediger seien Motivatoren
für ihre Arbeit gewesen, sagt er. „Da'wa wurde als Legitimationsgrundlage für
unseren Aufenthalt als Muslime in der BRD genannt“.
Islamisten im akademischen Umfeld
Nach dem Abitur arbeitete Issa ein halbes Jahr bei einem Zulieferunternehmen,
ehe er dann an die Universität ging, um technische Informatik zu studieren.
Dort habe er sich ganz auf sein Studium und seine Aktivitäten bei
salafistischen Organisationen konzentriert. Er fand an der Uni aber auch viele
neue Freunde - türkische Kommilitonen, die mit ihm gemeinsam an der Uni gebetet
hätten, erzählt er. „Das waren überwiegend Sufis und Gülen-Muslime.“ Wieso
freundete er sich mit ihnen an? „Sie waren gebildet, ehrgeizig und konnten die
deutsche Sprache flüssig sprechen. Viele haben an der gleichen oder einer
verwandten Fakultät studiert.“ Die Gülen-Anhänger seien sehr nationalistisch
gewesen und hätten sich wie Sektenmitglieder verhalten, so Issa. Er sei dann
von ihnen auch zu Treffen der Bewegung eingeladen worden und irgendwann aus
Interesse mitgegangen. In den Weihnachtsferien nahm er an einem ihrer
„Bootcamps“ teil.
Elitär sei es dort zugegangen. Jugendliche ohne höheren Bildungsgrad wären dort
abgewiesen worden. Als „Lichthäuser“ oder „Kulturzentren“ seien solche
Bildungseinrichtungen bekannt, die vor allem im Bereich der Nachhilfe arbeiten
würden. Was im Ausbildungslager passierte? „Man steht zu Qiyam al-Layl (Anm.:
Nachtgebet) auf, danach Fajr-Gebet, Frühstück, danach Lernen fürs Abitur oder
Studium, Mittagessen, wieder Lernen, danach Pause, Islam-Unterricht, bei dem
die Aqida von Gülen gepredigt wurde, Abendessen und dann wieder Lernen.
Dazwischen wurde immer wieder gebetet. Das alles wurde kontrolliert und
beaufsichtigt, WLAN gab es auch nicht.“
Was Issa denn dort von Gülens Aqida mitnahm? Sein türkisch sei zu schlecht
gewesen, dass er die Reden verstanden habe, antwortet er. Die Alten hätten
irgendwas von Charakter erzählt, der Atheismus sei gegeißelt, Bildung dem
islamischen Ibadat quasi gleichgestellt, der Takfir verboten und Bärte, wie er
ihn einen trug, seien gar nicht gerne gesehen worden. Abends hätten die
Anhänger in den etwa 10-tägigen Ausbildungslagern häufig Videos mit Predigten
und Vorträgen von Fethullah Gülen angeschaut. „Dieser alte Mann weinte oft
darin. Das war eine kafkaeske Situation für mich“, erinnert sich Issa. „Am Ende
des Seminars dachte ich mir: Nichts für mich. Ich konnte meine Klappe auch
nicht halten und habe angefangen mit ihnen über ihre Aqida zu diskutieren. Ich
wurde von den Älteren nicht wirklich wohlwollend empfangen. Ich war für sie ein
Wahabi, der ihnen etwas auf Arabisch erklären wollte.“
Ansonsten engagierte sich Issa intensiv für die "Da'wa" der
„Lies!“-Kampagne. Auch an der Universität. „Ich und andere verteilten
Koran-Übersetzungen in den Fakultätsgebäuden und in den provisorischen
Gebetsräumen im Keller.“ Er und seine Mitstreiter hätten Schüler an die
Bibliothek der Hochschule mitgenommen und mit ihnen für Abschlussprüfungen
gelernt. Auch seine Freunde, die bei Gülen aktiv waren, versuchte er von dem
Projekt zu überzeugen. Zu Hause in seiner Wohnung nahm er während des Studiums
immer wieder Studenten aus Asien und aus dem arabischen Raum bei sich
auf.
„Zwischenzeitlich hatte meine Wohnung den Status einer Asylunterkunft für
ausländische Studenten eingenommen“, scherzt er. Warum? Die meisten hätten wie
er naturwissenschaftliche Studienfächer studiert. Er sei von ihrer Gottesfurcht
und ihrem kulturellen Background beeindruckt gewesen, so Issa. Er habe sie
umworben, sich auch bei den Salafisten zu engagieren, um zu verhindern, dass
sie sich dem westlichen Lebensstil anpassen würden. „Du kommst als 25-Jähriger
aus Karachi nach Deutschland. Das kann schlechte Folgen haben“, doziert er.
„Ich habe ihnen geraten vom Studenten-Lifestyle wie Alkohol, Parties und Frauen
Abstand zu nehmen.“
Die gemeinsame Freizeitgestaltung sei von ihm entsprechend „modelliert“ worden.
„Wir haben zusammen deutsch gelernt, gekocht, gefastet und ich habe sie in die
islamische Welt meiner Stadt eingeführt. In den Semesterferien arbeiteten wir
im selben Unternehmen, spielten Cricket und verbrachten auch den Urlaub
gemeinsam.“ Sie seien unter anderem nach Sarajevo, Mostar und Srebrenica gereist,
Orte an denen Serben und Bosniaken sich in den 90er Jahren heftige Kämpfe
lieferten und denen viele Menschen zum Opfer gefallen waren. Aber auch andere
Orte wie die Alpen, Berlin oder Paris hätten sie bereist. Seinen Mitbewohnern
habe Issa gleichermaßen salafistische Projekte wie die „Lies!“-Kampagne
vorgestellt und sie dazu animiert dort mitzumachen.
Die Kommilitonen aus islamisch konservativen Ländern wie Pakistan und
Afghanistan hätten nicht gewusst, dass es solche Zusammenschlüsse und Strukturen
in Deutschland gegeben habe. Seine pakistanischen Freunde hätten aber von einer
vergleichbaren Missionierungsbewegung in ihrem Land geschwärmt, die „Tablighi
Jamaat“, die mit der „Lies!“-Bewegung vergleichbar sei und auch in Deutschland
aktiv ist. „Bei uns mitgemacht hat von meinen Mitbewohnern aber eigentlich
niemand. Sie waren alle viel zu sehr mit dem Studium beschäftigt.“ Und auch
sonst habe er nicht nur mit Muslimen zu tun gehabt: Auch Christen aus dem
Ausland zählten zu seinem Bekanntenkreis, mit denen er diskutierte und sich
austauschte.
"Jeder, der gegen Assad gekämpft hat, war für mich ein Mujahid"
Mit dem syrischen Bürgerkrieg, der in der Salafisten-Bewegung enorm
emotionalisierte und mobilisierte, veränderte sich auch Issa mit der Zeit. Er
sah die Kriegsberichterstattung im Fernsehen und im Internet, die Gräueltaten,
die durch Milizen an der Zivilbevölkerung begangen worden waren. „Syrien wurde
überall thematisiert. In den Moscheen, selbst bei den Bozkurts und den
Erdoganern. Es wurden viele Analogien zu den Geschehnissen in Bosnien,
Tschetschenien, Afghanistan, Mali und Algerien gezogen.“ Die Assads seien ihm
aufgrund seiner familiären Wurzeln aber bereits schon länger vor dem
Bürgerkrieg ein Begriff gewesen.
„Die Massaker in Hama, das Gefängnis in Sednaya, vor allem die Verfolgung der
Muslimbrüder hatte ich im Kopf. Genauso die Rolle der Assads im Libanon und die
Ermordung des damaligen Premiers Rafiq al-Hariri durch den syrischen
Geheimdienst. Verwandte von mir mussten sich während des libanesischen
Bürgerkriegs auf dem Gelände des internationalen Flughafen Beiruts verstecken.“
Bashar al-Assad sei dennoch anfangs als Hoffnungsträger und Friedensstifter
wahrgenommen worden. „Mein Vater hielt den Sohn von Hafez für das Gegenteil
seines Vaters. Hafez war der Prototyp eines Tyrannen, Bashar galt als
Reformer.“ Bis der Krieg ausbrach. Auch da habe Issas Vater noch beschwichtigt,
dass es wie in Ägypten einen überwiegend friedlichen Übergang geben würde.
Einen Bürgerkrieg habe er sich nicht gewünscht. Und doch passierte genau das.
Die darauffolgenden Aufrufe zur Unterstützung der syrischen „Mujahideen“ hätten
bei Issa und seinen Freunden einen bleibenden Eindruck hinterlassen, erzählt
er. „Man hat zuerst einmal versucht sich ein Koordinatensystem über die Lage zu
schaffen, Informationen zu sammeln, was und wo passiert, durch wen verursacht
wird.“ Er nennt u.a. "Ugarit" als Quellenfundus, eine Videoplattform
syrischer Aktivisten, die seit 2011 fast minütlich Videos ins Internet stellte.
Zu welchem Ergebnis kam er? „Egal, welche Katiba oder Jamaa: Jeder, der gegen
Assad gekämpft hat, war für mich ein Mujahid.“ Er habe es auch richtig
gefunden, dass es „Muhajirun“ (Anm.: ausländische Dschihadisten) gab, die die
Revolution unterstützten, „sei es humanitär, logistisch, finanziell oder
militärisch“. Und der IS? Die Gruppe habe ihn verstört, meint er. Auch als er
Foltervideos auf „al-Jazeera“ gesehen habe, in denen FSA-Rebellen, aber auch
Alawiten von IS-Kämpfern gepeinigt worden seien. Ohnehin habe er den ersten
Chef der ursprünglich im Irak entstandenen Gruppe, Abu Musab az-Zarqawi,
aufgrund seines Auftretens und seiner "Selbstgerechtigkeit"
verachtet. Er und seine Truppe seien "Khawarij" (Anm.: eine Sekte)
und „Monster“ durch und durch gewesen.
„Es lief ja am Anfang in Syrien alles sehr gut. Bis al-Baghdadi kam. Ich dachte
wirklich ein, zwei Jahre und dann ist Syrien befreit.“ Seine Hoffnung sei
gewesen, dass in Syrien ein „islamisches System“ eingeführt werden würde. „Es
könnte der Aufbruch in ein neues Zeitalter sein. Man hatte Träume. Ich selbst
hätte in einem islamischen Imarat gerne eine Rolle gespielt.“ Er meine damit
aber nicht den Terror. „Ich meine damit die Idee als Konzept. Keine AKP, kein
Nationalismus, sondern ein Banner unter welchem sich alle vereinen und in
dessen Rahmen auch Christen oder Juden Platz gehabt hätten.“ Alawiten hätte er
aber verbannt, schiebt er noch nach.
An seinen Gedanken schien aber auch die Omnipräsenz von Syrien in den Moscheen
und in Issas Umfeld eine Rolle zu spielen. Überall riefen Gemeinden zu Spenden
(Zakat) auf. Ob in Hinterhofmoscheen oder in den nationalistischen
Einrichtungen von Ditib. Auch Issa beteiligte sich daran. „Ich habe teilweise
gefastet, um Geld für Syrien zu sparen. Ich habe zum Beispiel bei Mama und in
der Moschee gegessen, anstatt Lebensmittel einzukaufen.“ Jeder habe in seinem
Umfeld von Syrien gesprochen und auch von der Möglichkeit, Hilfsorganisationen
zu gründen, Transporte zu organisieren oder Geld in die Türkei zu überweisen
für Medikamente und Nahrungsmittel.
Und Issa spendete viel. Auch für dubiose Netzwerke wie dem Verein „Organisation
für Frieden und Hilfe“ (OPH), der vorher noch „Muslimisches Hilfswerk“ hieß. An
der Spitze stand ein Türke namens Regaip O., der gemeinsam mit dem Kölner Sabri
B. A. und Mirza T. B. in Syrien Propagandavideos drehte. Später stellte sich
heraus, dass Mirza T. B. der Kopf eines Netzwerks von Dschihad-Unterstützern in
NRW war und Gruppen wie dem IS und Ahrar al-Sham Hilfe zukommen ließ. „Sie
haben unter anderem mit Nahrungsmittelpaketen für 100 Euro geworben. Ich hatte
OPH allein ungefähr 500 Euro gespendet. Dafür habe ich nebenher gearbeitet und
spartanisch gelebt.“ Ob auch OPH Gelder zweckentfremdete, wisse er nicht. Er
habe sich nach der Verhaftung von Mirza T. B. aber getäuscht gefühlt.
Spielte der bewaffnete Dschihad auch bei ihm eine Rolle? Gedanken über die Ausreise seien immer wieder bei ihm vorgekommen, gesteht er ein. Als der Prediger und Dschihadisten-Rekrutierer „Sheikh" Abdullah al-Muhaysini 2016 in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien eine viel beachtete Rede gehalten habe, sei er ernsthaft ins Grübeln geraten. „Was sitzt ihr noch rum? Ihr Helden, habt ihr Angst vor dem Märtyrertum? Neue Mujahideen werden kommen und das Land von Sham mit dem Blut der Russen und der Iraner fluten“, hatte Muhaysini damals unter anderem gerufen. Die im Internet veröffentlichte Rede habe er „hunderte Male“ angeschaut, schildert Issa. „Danach saß ich gedanklich schon im Flugzeug.“
Statt aber diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, habe er psychische
Zusammenbrüche erlitten. Warum er nicht ausreiste? „Ich war zu feige, zu sehr
verankert in dieser Dunya (Anm.: Diesseits), das Studium, die Eltern und so
weiter“ Die Bindung zur Familie, am Leben und an der Zukunft? „Ja“, antwortet
Issa. Das Studium sei für ihn eine Stütze gewesen, seine „zweite Passion“. Er
habe sich zur Ablenkung wochenlang in Projekte zu Mikrocontrollern vertieft.
„Neben dem Islam“. Er betont aber, dass er nie Straftaten geplant oder an
solchen beteiligt gewesen sei.
Ob Issa Ausreisen von anderen Islamisten mitbekam? „Flüchtig. Man hörte hin und
wieder etwas. Aber niemand aus meinem unmittelbaren Kreis.“ Die Leute seien
einfach verschwunden. Im Umfeld der Militanten will er sich selbst aber nie
verortet haben. Er und seine „Lies!“-Kollegen seien aber darin geschult worden
bei Koranverteilungen kritischen Nachfragen zu Syrien auszuweichen oder zu
ignorieren. Militante Gruppen wie Millatu Ibrahim mit Mohamed Mahmoud und Denis
Cuspert hätten ohnehin in der Salafisten-Szene keinen guten Ruf gehabt, meint
er. Issa bezeichnet Mahmoud dabei als „Fettsack“, „Drachenlord“ und
„Dummschwätzer“, über den auch in Wien gelacht worden sei, weil er sich mit
seinen Kontakten „nach ganz oben“ profiliert und doch nur „geschnorrt“ und
betrogen habe. „Er war omnipräsent und stellte sich RTL und SpiegelTV als
Deutschland-Vertreter von Gruppe XY dar.“ In Wirklichkeit sei Denis Cuspert das
Zugpferd der Militanten gewesen. Er habe offenkundig Kontakte in Nordafrika
gehabt, vermutet Issa.
Er selbst aber habe nie zu den „Daesh-Typen“ den Kontakt gesucht. Und dennoch
hatte Issa nach eigener Aussage in dieser Zeit Predigten ambivalenter
Szene-Charismatiker wie Abul Baraa, Sven Lau, Hassan Dabbagh, Said el-Emrani
und Abou Nagie besucht. Zu einigen habe er persönliche Kontakte gepflegt, um
sich Ratschläge zu holen. Und auch im Ausland sei er vernetzt gewesen. In Wien
habe er Moscheen besucht. Er schwärmt von Farhad Q. alias „Abu Hamzah
al-Afghani", der in Österreich im Verdacht stand für den Dschihad geworben
zu haben, später aber durch ein Gutachten des deutschen Islamwissenschaftlers Guido Steinberg weitgehend
entlastet wurde.
Farhad Q. hatte in Schriften den IS-Anhänger Mohamed Mahmoud heftig angegriffen
und "Ibn Shawqi", wie Mahmoud sich in der Jugendzeit genannt haben
soll, vorgehalten ein Wichtigtuer zu sein. Mahmoud, der sich als
IS-"Sheikh" im Internet mit zahlreichen Ijazahs (Lehrbefugnisse)
namhafter Gelehrter gerühmt hatte, habe über seine Referenzen quasi gelogen bis
sich die Balken bogen. Vor allem Q. habe ihn durch seine Schriften sehr
beeinflusst, auch in Bezug auf die Rädelsführer in Solingen, so Issa. Aber ebenso
den Reden von Mirsad O. alias „Ebu Tejma“, der in Graz wegen
Terrorunterstützung zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und dem IS
nahegestanden haben soll, will er gelauscht haben. „Er konnte die Menschen
mitreißen“, erzählt er. Dass er Sympathisant des IS gewesen sei, könne er heute
immer noch nicht glauben. „Ich hatte einen anderen Eindruck. Aber ich weiß
nicht, ob und was abgelaufen ist.“Aufällig sei aber gewesen, dass er in seinen
Predigten vor allem Schiiten in den Fokus genommen habe.
"Mit Aleppo starb die Revolution"
Issas „Zustand“ verschlechterte sich vor allem zeitgleich mit den
militärischen Entwicklungen in Syrien. Er habe mit Anfang 20 unter Depressionen
gelitten, erzählt er. „Ich war extrem aufgedreht, wurde als schizophren
beschrieben. Ich hatte Probleme aufzustehen und konnte meine Angelegenheiten
immer weniger selbstständig klären. Es war ein Wechselspiel. Ich war
lethargisch, magerte ab, habe Termine nicht mehr wahrgenommen und kämpfte auch
mit Suizidgedanken. Dann war ich wieder hyperaktiv und neigte zu extremen
Wutausbrüchen.“ Irgendwann sei das auch seiner Familie aufgefallen. Issa ging
wieder zum Psychiater, der ihn zur Diagnostik an eine ambulante Psychiatrie
verwies. „Ich wollte Hilfe“, betont er. Und die Diagnose? „Eine bipolare
Störung, eine Erkrankung, bei der sich Depressionen und Manie ständig
abwechseln.“
Er bekam Medikamente verschrieben und wurde auch von seiner Familie und
Freunden unterstützt. Rückzugsorte habe er in den Moscheen gefunden, um
„Abstand zu schaffen“, Ruhe zu finden und auch sein Umfeld vor ihm zu schützen.
„Ich war genervt und bin auf und ab gelaufen, eine Art Hypochonda.“ Auch eine
neue Freundin habe er in dieser Zeit gehabt, ein „Mädchen mit Tattoos“. Er
suchte Rat bei Predigern wie Abul Baraa, wie er mit seiner Krankheit umgehen
sollte. Issa vertraute dem Berliner Prediger. Er sei nie „Daesh-Anhänger“
gewesen, habe nie zu Gewalt aufgerufen und sei ein „grundehrlicher,
sympathischer Mensch“ gewesen, begründet er dies. „Er versteht die Jugend.“
Abul Baraa sei zudem der erste Prediger gewesen, der öffentlich wirksam und
frühzeitig vor dem IS gewarnt habe, „im Gegensatz zu Abou Nagie und Pierre
Vogel“, fügt er hinzu. Was Abul Baraa ihm wegen seiner Erkrankung geraten habe?
Er solle sich seiner Familie anvertrauen, erzählt er.
Die „Zäsur“, wie er es nennt, kam für Issa Ende 2016, als die schwer
umkämpfte Großstadt Aleppo von der syrischen Armee eingenommen wurde. „Ich
konnte nicht mehr weiter machen, konnte keine Bilder mehr sehen. Es ist alles
zusammengebrochen. Mit Aleppo starb die Revolution“, erzählt er. „Es war für
mich ein psychischer Zusammenbruch. Ich habe angefangen an der Existenz von
allem zu zweifeln. Ich fühlte Sinnlosigkeit und Leere.“ Syrien sei für ihn ein
Generationenkonflikt gewesen, weil das Land eine große Bedeutung im Islam habe.
„Wenn die Leute von Shaam korrupt sind, dann ist nichts Gutes in euch“, zitiert
Issa dabei eine Hadith von at-Tirmidhi, die Überlieferung einer Aussage des
Propheten Mohammed. Für ihn sei der Fall Aleppos ein „Urteil Allahs“ gewesen
und der Beweis, dass „wir alle verdorben sind. Von Bosnien bis nach
Indonesien“. Mit dem syrischen Aufstand habe sich nach all den politischen
Systemversuchen im Nahen Osten – ob Kommunismus, Panarabismus oder
Nationalismus -, die entweder von ihren Vätern und Großvätern geduldet worden
seien oder sie zur Flucht gezwungen hätten, eine Chance zur Korrektur ergeben.
Für viele Eltern sei das aber ein Tabu-Thema gewesen, sonst seien sie selbst
mit ihrem Glauben und mit ihrem Leben in „Darul Kufr“ (Anm: Land der
Ungläubigen) in einen Konflikt geraten. „Und dennoch haben sie es alle getan“,
so Issa. „Unsere Eltern haben uns hier im Westen eine Existenz aufgebaut, uns
erzogen erfolgreich zu werden, Ingenieure, Ärzte usw.“ Doch der persönliche
Erfolg würde die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und der Suche nach den eigenen
kulturellen Wurzeln nicht ausgleichen können. Den Wünschen der Eltern
entsprochen zu haben, „aber für was das alles?“ Was für ihn folgte, sei das
Gefühl der „Verlorenheit“ und des „Weltschmerzes“ gewesen. Mit dem Fall von
Aleppo hätte der Nimbus der Helden für ihn seinen Glanz verloren. „Man fühlte
sich verraten. Man dachte, wir wären auf der richtigen Seite.“ Ob er heute
anders denken würde, hätten die Rebellen Aleppo stattdessen erobert? „Schwierig“,
antwortet er. „Welche Rolle hätte dann Daesh gespielt? Die hätten die Rebellen
und das Regime besiegt.“
Gab es noch andere Gründe, warum er anfing zu zweifeln? „Auch Sie hatten
Einfluss auf mich“, meint Issa in Richtung des Interviewers. „In Bezug auf
Syrien und die Dynamiken bei „Lies!“, ergänzt er. Inwiefern? Issa erklärt, dass
der Autor des Blogs schon früh auf die ambivalenten machtpolitischen
Konstellationen in Syrien hingewiesen hätte. „Es kann sein, dass ich damals
etwas realitätsfern war“, sagt er. Er habe den Blog mit seinen Berichten und
Analysen wie viele andere Salafisten über die letzten Jahre mitverfolgt. Mit
vielem sei er nicht einverstanden gewesen. Vor allem habe er nicht glauben
können, dass viele Rebellengruppen durch andere Staaten wie die Türkei
beeinflusst worden seien und dass sie nicht die homogene und avantgardistische
Einheit bildeten, die sie öffentlich suggerierten.
Durch die Geschehnisse in Syrien wendete sich Issa von der Salafisten-Szene
langsam ab. Er habe seine Sim-Karte gewechselt und seine Kontakte allmählich
ausschleifen lassen, erzählt er. Er ging nur noch zum Freitagsgebet in die
Moschee, spendete und fastete aber nicht mehr. Eine Zeit lang ging er noch zu
einer Psychologin, die ihm riet, früh aufzustehen und den Tag systematisch zu
planen. Doch es sei für ihn sinnlos gewesen, so Issa. Die psychotherapeutische
Behandlung habe er als Demütigung und Zeitverschwendung empfunden. Als Mann
Schwäche zu zeigen und sich selbst zu konfrontieren, sei ohnehin für ihn schwer
gewesen. Zudem habe er sich die Frage gestellt, wie die Therapeuten auf seine
Lebensgeschichte reagieren würden und ob sie seinen Kontext überhaupt
einzuordnen wüssten. Seine Ärzte hätten ihn aber nachdrücklich gewarnt, dass
sich seine Krankheit verschlimmern würde, wenn er sich nicht in Behandlung
begeben würde.
"Ich habe es aufgegeben zu suchen"
Stattdessen entschied er sich nach dem Studium umzuziehen, sich selbstständig
zu machen, andere Menschen kennenzulernen und auf Parties zu gehen. Parallel
habe er sich ohnehin anderen Themen zugewendet. „Die philosophische Suche
durchzieht mein ganzes Leben. Ich habe versucht etwas anderes zu finden. Statt
in Moscheen war ich nächtelang in Bibliotheken und habe Bücher gelesen. Später
habe ich auch den Kraftsport disziplinierter betrieben.“ Die neue
Lebensphilosophie fand er schließlich im Libertarismus.
Issa zitiert im Gespräch immer wieder Autoren wie Nietzsche, Hayek, Descartes
und Ayn Rand. Letzteres, eine Ikone und Vordenkerin der Libertären in den USA,
nennt er als einflussreichste Frau in seinem heutigen Leben. Sie sei seine
wirkliche Therapeutin gewesen, ist er überzeugt. Ihre Lehre vom Objektivismus,
dass es keine objektive Moral gebe, die „Sezierung“ des Kollektivismus und des
Sozialismus sowie die Lehre des rationalen Egoismus hätten ihn „tief
beeindruckt“. Dem Islam stellte er sie gegenüber. Er begann seine Religion in
Frage zu stellen. „Ich sah nur noch eine intellektuelle Armut, ein Leugnen von
Logik, vor allem aber das selbst verschuldete Übel in der islamischen Welt.“ Er
knüpft dabei mit einem Beispiel zu Pierre Vogel an. Dieser habe bei der
Verurteilung des Terrors die möglichen Folgen für die Muslime überbetont und
damit vor allem Opferstilisierung betrieben.
Stattdessen habe er sich selbst in den Mittelpunkt seines Lebens und der
eigenen Verantwortung gestellt. „Rationaler Egoismus. Ich muss mich zuerst um
mich kümmern“, erläutert er. In der Sprache des Informatikers: „Mit der Empirie
und der Operation Research Entscheidungstheorie fahre ich einen besseren
Erwartungswert ein.“ Sein Eigentum sei seine Sache, er schulde niemanden etwas.
Was ein Mensch tue, sei ihm egal, solange er nicht die Konsequenzen daraus
tragen müsse. Den Wert der Freiheit habe er daher an der angelsächsischen Philosophie
zu schätzen gelernt. Intelligenz sei dort der stärkste Faktor für Erfolg. Sie
ermögliche Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
Ob Issa heute glücklich ist? „Indifferent. Ich habe es aufgegeben zu suchen“,
antwortet er zögernd. Trotzdem sei die Zeit in der Salafisten-Szene seine
glücklichste gewesen. Inwiefern? „Vom Aufstehen bis zum Schlafen gehen war ich
voller Energie und Freude.“ Weil er Struktur hatte? Issa greift zu einem
heiklen Vergleich: „Denken Sie Deso (Anm.: Denis Cuspert) ist glücklich
gestorben? Was waren seine letzten Gedanken? Er hat für das gelebt und ist für
das gestorben, für was er ausgezogen war und an das er glaubte. Jeder Schluck
Wasser, jede Gebetseinheit war besser für ihn, als wir es uns vorstellen
können. Es ging bei mir auch um Erlösung, Antrieb, Vision, Schönheit im Leid zu
erkennen. Und ein Teil davon habe ich gespürt. Ich hatte keine Angst außer vor
Allah.“
Heute sei er aber nicht mehr abhängig von einem „fordernden Gott“. „Gott ist
tot, ich brauche keinen Gott mehr, ich nehme mir auch keinen Gott mehr.“ Und
dennoch denke er heute mit Wehmut an seine Zeit bei den Salafisten zurück.
„Hätte ich früher die Wahl zwischen einem einfachen Bauernleben in einem
islamischen Land oder einem Chefarztposten im Westen gehabt, so wäre für mich
ersteres die Wahl gewesen“, sagt er. Damals, als er mit den Salafisten die Zeit
zusammen verbracht habe, hätte er Frieden mit sich geschlossen gehabt. „Jung,
wild im Kopf, ein Löwe. Wir wollten die Welt verändern und sind daran gescheitert
- und ich wäre beinahe daran zerbrochen.“