Im irakischen Gefängnis Rusafa nahe der Hauptstadt Bagdad sind seit Ende April zahlreiche inhaftierte Frauen aus dem ehemaligen sog. "Islamischen Staat" (IS) in einen Hungerstreik getreten. Vorwiegend Staatsangehörige aus dem Kaukasus, Russland und Kleinasien sind dort seit Jahren untergebracht. Knapp 500 Frauen sollen in dem Gefängnis insgesamt ausharren. Der Grund ihres Protests ist die Forderung nach einer Rückkehr in ihre Heimatländer und die Beendigung der strafrechtlichen Verfolgung ihrer mutmaßlichen Verbrechen durch die irakische Justiz. Auch die Trennung der Mütter von ihren Kindern im Gefängnis soll ein wichtiges Motiv der Aktion sein.
Seit Ende April rufen deshalb zahlreiche Kanäle salafistischer Akteure zu Solidaritätsbekundungen auf, viele darunter mit Nähe zum IS. Als Antreiber der Medienkampagne fungieren offenbar auch mehrere international bekannte Prediger wie Ahmad Musab Jibril. Mit Hashtags wie "#ChildrenMissTheirMoms" und "#Rusafa" soll am kommenden Freitag ein vorläufiger Höhepunkt der Aktionen erreicht werden, um die Begriffe auch außerhalb der eigenen Kommunikationsräume in den sozialen Medien wie Twitter sichtbar zu machen. Offenkundiges Ziel der Aktivisten ist es, die Heimatländer zu einer Rückführung der Inhaftierten zu bewegen - einem Anliegen, für das sich auch zahlreiche westliche Organisationen und politische Entscheidungsträger einsetzen.
Die Argumente der Aktivisten für eine Rückführung sind demnach nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Westliche Beobachter bemängeln seit langem, dass in den Gefangenenlagern insbesondere für die Kinder katastrophale Lebensbedingungen herrschten. Nahrung und medizinische Versorgung seien knapp. Zahlreiche Insassen litten unter schwerwiegenden körperlichen und seelingen Erkrankungen, die nicht ausreichend behandelt würden. Vor allem verstetige sich die Hinwendung der Gefangenen zum IS aufgrund der sozialen Kontrolle in den Lagern sowie der weit verbreiteten Desillusionierung und der damit einhergehenden Bestärkung von Gefühlen der Entrechtung. Die Bundesregierung hatte deshalb bis zum letzten Jahr über 80 deutsche Kinder und mehrere Dutzend Frauen aus Syrien nach Deutschland zurückgeholt.
Aufruf zum "Twitterstorm" (Telegram) |
Genauso wie al-Hol und Roj nehmen die Gefangenenlager in Syrien und im Irak einen hohen symbolischen Stellenwert in der islamistischen und dschihadistischen Propaganda ein. Die teilweise katastrophalen humanitären Bedingungen der Inhaftierten sowie ihre Hoffnungslosigkeit auf eine Rückkehr in die Heimatländer nach inzwischen über einem halben Jahrzehnt der Gefangenschaft, liefern terroristischen Organisationen wie dem IS zweifellos Nahrung, das Narrativ der "Unterdrückung und Knechtschaft der Muslime" durch die "ungläubigen" Staaten und "seiner Vasallen" glaubhaft zu verbreiten.
Es führt auch dazu, dass sich zwischen Mileus und dem IS, die nicht mit letzterem unmittelbar assoziiert sind, thematische Schnittpunkte bilden. Der aus dem hessischen Hanau stammende und inzwischen zu einem bekannten Medienmann in Syrien aufgestiegene Samet D., forderte beispielsweise, dass "die Muslime" aufwachen und handeln müssten, um die "Schwestern" aus der Gefangenschaft zu befreien. Generell stellt die Gefangenenhilfe eines der wichtigsten Aktionsfelder in der Szene dar, das auch breiten Zuspruch und inhaltliche Kongruenzen bietet. Denn das Thema löst leicht Emotionen aus und fördert idealistischen Aktivismus.
Das zeigen auch Pilot-Auswertungen zur Verbreitung des Hashtags "#Rusafa" auf Twitter. Bislang wurden tausende Tweets unter diesem Begriff veröffentlicht und weiterverbreitet. Dabei zeigt sich eine klare Dominanz türkischsprachiger Kanäle, daneben aber auch einzelne Cluster mit offenkundig deutschen Akteuren, die in türkischer Sprache zu Rusafa Inhalte veröffentlichen. Doch auch in deutscher Sprache wurden bereits knapp 700 Tweets zum Thema veröffentlicht bzw. reproduziert. "Leben? Was bedeutet es zu leben? Reicht es aus zu atmen? Ein Leben getrennt von seinen Kinder? Wir möchten unsere Kinder, wir möchte nicht länger ohne sie sein!!", heißt es beispielsweise in einem Tweet.
Explorative Netzwerkanalyse mit einzelnen Clustern zum Hashtag "#Rusafa" auf Twitter |