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Krisengespräch auf TikTok: Prediger Abul Baraa und Pierre Vogel reagieren auf Marcel Krass (Quelle: YouTube) |
Vogel: Herr Krass, blicken wir weiterhin auf die Gegenwart. Sie wollen mit der FIU als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden. Sie wollen auch weiterhin politisch aktiv bleiben. Wie sieht es mit der salafistischen Szene aus? Haben Sie noch Kontakte zu dortigen Akteuren? Wenn ja, warum?
Krass: Nein. Das ist nach dem ersten Podcast 2024 vollkommen eingebrochen. Es gab nur zwei, drei Rückmeldungen, die positiver ausfielen – und die mich selbst überrascht haben. Darunter waren ein älterer und ein jüngerer Prediger.
Der ältere sagte zu mir: „Hey, ich wollte dir nur sagen: Lass dich nicht unterkriegen. Du machst Dawa und rufst die Leute zum Engagement auf.“ Er lebt seit einiger Zeit im Ausland, hat die malikitische Rechtsschule studiert und vertritt diese auch in vielen Fragen. Sie erinnern sich: Das war ja auch bei mir einer der Schritte, die meine Sichtweisen verändert haben. Deshalb hatte ich die Hoffnung, dass es bei diesem Prediger ähnlich war – und er mich deshalb verstand.
Vogel: Und die zweite Rückmeldung?
Krass: Ein bekannter TikTok-Prediger schrieb mir, dass ich mein Ding machen solle und er verstanden hätte, was ich sagen wollte. Das war zwei, drei Wochen nach dem Podcast.
Es könnte zwei Gründe gegeben haben: Erstens hatte ich im Podcast die Namen und Eigenschaften Gottes angesprochen, und er meinte, er könne das so unterschreiben. Zweitens – und vielleicht war das der eigentliche Auslöser für seine Solidarität – hatte er mich einige Zeit zuvor kontaktiert, als die Fußballeuropameisterschaft in Deutschland stattfand.
Er berichtete, dass er eine polizeiliche Auflage erhalten habe: An jedem Tag, an dem irgendwo in Deutschland ein Public Viewing stattfand, müsse er sich bei der Polizei melden. Ich habe den Fall an die FIU weitergegeben, und wir haben uns darum gekümmert.
Vogel: Inwiefern?
Krass: Er schickte uns die Unterlagen. Darin stand lediglich, dass er dem salafistischen Spektrum zugerechnet werde – und das reichte für diese Auflage.
Wir haben mit einem Anwalt gesprochen, der meinte, dass das unzulässig sei. Ihm wurde keine Gewaltbereitschaft unterstellt, man traute ihm auch keine konkreten Handlungen zu. Dass man pauschal bei jedem, der dem salafistischen Spektrum zugerechnet wird, von einer Anschlagsgefahr ausgeht, war uns zu weitgehend.
Das ging dann auch vor Gericht – und wenn ich mich richtig erinnere, wurde diese Verfügung in seinem Fall auch aufgehoben.
Vogel: Warum haben Sie und die FIU diesem Mann geholfen, obwohl Sie ihn offensichtlich kritisch sehen?
Krass: Ja, ich sehe ihn kritisch. Aber bei Diskriminierung mache ich keinen Unterschied – das würde ich auch öffentlich vertreten.
Wenn heute Pierre Vogel religiös diskriminiert würde – so groß die Differenzen zwischen uns sind – würde ich mir seinen Fall genauso anschauen. Wir arbeiten strömungs- und schulübergreifend. Wenn jemand aus dem salafistischen Spektrum diskriminiert wird, ist es immer noch eine Ungerechtigkeit – auch wenn ich persönlich vielleicht denken würde: „Naja, schade wäre es um ihn nicht.“ Aber darum geht es nicht.
Vogel: Also eine rein formale Sache und keine persönliche Verbindung?
Krass: Genau. Die Sache mit dem TikTok-Prediger war letztes Jahr im Sommer. Ich hatte mit ihm ausschließlich im Zuge seiner Reaktion auf den Podcast und dieser Auflage während der Fußballeuropameisterschaft zu tun. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Unter „Kontakt“ verstehe ich generell eine Beziehung, die über ein einmaliges Feedback hinausgeht – und die gibt es bei mir nicht mehr zu Leuten in der Szene.
Vogel: Wie haben Sie auf die Solidaritätsbekundungen der beiden Prediger reagiert?
Krass: Das kam in einer Zeit, in der gefühlt die ganze Welt mich zum Feind erklärt hatte. Ich habe dem einen geantwortet, dass mich seine Nachricht überrascht habe, dass mich die Reaktionen schon mitgenommen hätten, und ich habe mich bedankt.
Vogel: Das war’s?
Krass: Ja, mehr nicht.
„Wenn du einmal als Feind markiert bist, kannst du nicht auf beiden Hochzeiten gleichzeitig tanzen.“
Vogel: Halten Sie sich bewusst von solchen Leuten fern, oder nehmen Sie Freundlichkeit einfach an?
Krass: Ja.
Vogel: Glauben Sie, dass auch heute noch Salafisten zu Ihren Seminaren kommen könnten? Die Szene ist bekanntlich sehr heterogen.
Krass: Ich glaube nicht, dass Leute aus dem Umfeld der klassischen Figuren wie Pierre Vogel oder Abul Baraa zu mir kommen würden.
Vogel: Die Reaktionen aus diesem Spektrum waren im letzten Jahr einfach zu heftig?
Krass: Ja. Das erinnert mich an 2008, als Pierre Vogel und Ibrahim Abou Nagie sich stritten. Ich war damals noch eng mit ihnen verbunden und bekam den Ego-Konflikt hautnah mit. Abou Nagie warf Vogel Arroganz vor, letzteres ging auf Konfrontation und gründete daraufhin den Konkurrenzverein „Einladung zum Paradies“.
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Marcel Krass: "Einladung zum Paradies" (2009) (Quelle: Muslime Aktiv TV) |
Plötzlich musste man sich entscheiden: entweder die DWR von Abou Nagie oder „Einladung zum Paradies“ von Vogel. Beides ging nicht. Das ist heute ähnlich: Wenn du einmal als Feind markiert bist, kannst du nicht auf beiden Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Loyalität zu einer Person ist wichtiger als Inhalte.
Ich war sogar auf einer Umrah-Reise, als Abul Baraa mit seiner Gruppe vor Ort war. Einer seiner Teilnehmer wollte mich treffen – ihm wurde gesagt: „Spinnst du? Zum Krass kannst du nicht hingehen!“ Er kam trotzdem und erzählte mir, dass er uns beide möge, aber dieser Konflikt ihn zerreiße.
Vogel: Wann war das?
Krass: Im November 2024. Es kommt öfter vor, dass man gleichzeitig in Mekka oder Medina ist.
Ich habe mich mit dem Mann getroffen und er hat mir sein Leid geklagt. Ich habe über Umwege von vielen gehört, dass sie im selben Zwiespalt seien. Sie denken, sie müssen zu jemandem loyal sein – entweder oder. Ich höre übrigens viele Prediger aus dem englischsprachigen Raum – die haben auch ihre Streitereien. Aber ich höre mir den einen an, profitiere davon, und dann höre ich mir den anderen an. Ich kann das voneinander trennen. Aber in unserer Szene geht das kaum – da ist Loyalität zu Personen wichtiger als Inhalte.
Um aber Ihre Ausgangsfrage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass viele aus diesen Umfeldern noch unter meinen Zuhörern sind. Ich habe mal ein kleines Experiment gemacht: Ich habe vor ein paar Tagen ein Video gepostet, und nur nebenbei erwähnt, dass ich mit meinen Kindern Animes geschaut habe.
Vogel: Animes? (japanische Zeichentrickserien)
Krass: Ja. Ich habe nicht darüber referiert, sondern sie nur erwähnt. Das ist eine Sache, über die Prediger wie Ibrahim al-Azzazi auf TikTok sagen würden, dass das haram wäre. Es gab daraufhin keinen einzigen Follower, der sagte: „Animes sind haram.“ Da habe ich gedacht: „Okay, die üblichen Verdächtigen aus der Bubble sind wohl nicht mehr bei mir aktiv.“
Allerdings gibt es Leute auf YouTube, die mir in der Folge Philosophie vorwarfen.
Vogel: Weil Sie Vernunft oder rationalistisches Denken in Ihren Gedanken miteinbeziehen?
Krass: Exakt.
Vogel: Ist das ein Vorwurf, den man persönlich nimmt? Oder ist das tatsächlich ein Verstoß gegen die eigene Glaubenslehre, der man folgt?
Krass: Nein.
Frau Krass: Der Vorwurf zeigte mir zumindest, dass diese Leute das Video von meinem Mann nicht verstanden haben.
„Es gibt Menschen, die lesen etwas und daraus resultieren Fragen. Zu denen kann ich nicht einfach sagen: „Lass das.“
Vogel: Wir kommen darauf zu sprechen. Auf was ich abziele, ist die Frage: Wenn Sie sich dem Atharismus (arab. Athariyya/ eine theologische Strömung im Islam) zugehörig fühlen, der in Bezug auf die Glaubenslehre sehr dogmatisch bzw. fundamentalistisch ist, ist Rationalismus oder vernunftgeleitetes Denken im religiösen Kontext damit vereinbar?
Krass: Die Atharisten lehnen das sehr stark ab, wenn es um die Eigenschaften Gottes geht. Ich persönlich sage: Ich neige zum Atharismus, weil ich es einfacher finde. Gott beschreibt sich auf bestimmte Weise und ich lasse das so stehen. Das ist für den normalen Muslim einfacher zugänglich. Du liest den Koran und fertig. Du brauchst dir keine großen Gedanken machen. Aber ich kann verstehen, dass das nicht alle erreicht.
Es gibt Menschen, die lesen etwas und daraus resultieren Fragen. Zu denen kann ich nicht einfach sagen: „Lass das.“ Und darauf haben andere theologische Strömungen wie die Aschʿariten (arab. Aschʿariyya) und Maturiditen (arab. Maturidiyya) versucht, Antworten zu finden.
Die Atharisten sagten damals: „Der Prophet und seine Gefährten haben solche Fragen nicht gestellt – warum sollten wir das tun?“ Die anderen entgegneten: „Damals war der Islam in Mekka und Medina und hat sich nun stark verbreitet. Heute ist er in Kontakt mit vielen anderen Strömungen, Kulturen, Religionen – mit griechischer Philosophie, mit Christen, mit allem. Also entstehen diese Fragen unweigerlich. Wenn wir sie ignorieren, verlieren wir die Menschen, weil sie denken: "Was ist das für eine Religion, die auf zentrale Fragen keine Antwort hat?"
Deshalb verstehe ich, dass einige gesagt haben: Wir müssen diese Fragen beantworten. Ob man das heute noch braucht – hier, in Deutschland – ist eine andere Frage. Viele dieser klassischen Fragestellungen sind gar nicht mehr so präsent. Sie entstehen eher, wenn man wirklich tief gräbt – oder wenn man sich mit Philosophie oder Geschichte beschäftigt.
Wenn zum Beispiel im Koran steht: „Am Tag der Auferstehung werden die Menschen vor Gott versammelt.“ Das versteht jeder – das klingt einfach. Aber: Wenn dir jemand sagt, dass du vor jemanden versammelt wirst, dann bedeutet das, dass du vor ihm und er dir gegenübersteht. Also befindet sich das jeweilige Gegenüber einer bestimmten Richtung zugewandt. Dieser Jemand kann also nicht überall sein. Wenn aber jemand überall ist, kann er nicht nur einer Richtung zugewandt sein. Jetzt ist Gott nicht durch Grenzen zu erfassen. Was bedeutet das jetzt?
Das sind klassische Fragen, die damals gestellt wurden – für viele heute wirken sie fremd. Aber das waren ernsthafte theologische Fragen. Ich glaube, den einfachen Muslimen muss man das heute nicht mehr aufbürden. Die Atharisten haben gesagt: „Das ist leicht zu verstehen. Du stehst vor Gott und fertig.“ Andere sagen: „Nein, wir müssen diese Fragen durchdenken.“
Vogel: Also transzendentale Fragen, ähnlich wie Menschen heute über den Urknall nachdenken oder was davor geschah? Die Frage ist, wie man damit umgeht, oder? Etwas, was als gegeben hingenommen wird und das andere, bei dem etwas zusätzlich verstanden werden will oder einer Überprüfung unterzogen wird.
Krass: Exakt. Manche nehmen die Aussagen des Koran einfach so an. Andere sagen: „Ich kann das nicht einfach so akzeptieren – ich brauche eine Erklärung.“ Wenn du tiefer gräbst, läufst du irgendwann Gefahr, etwas über Gott zu sagen, das nicht passt. Und genau aus dieser Motivation heraus haben zum Beispiel die Ashʿariten und Maturiditen versucht, Antworten zu finden, die den Aussagen des Koran treu bleiben – sprachlich, inhaltlich – aber zugleich philosophisch erklärbar sind. Damals war das notwendig, denke ich.
Heute – vor allem im akademischen Kontext – kann das immer noch hilfreich sein. Weil es Leute gibt, die fragen: „Wie kann ich mir Gott vorstellen, ohne ihn zu begrenzen?“ Und dann ist es hilfreich, wenn es theologische Antworten gibt, die das berücksichtigen.
E. Krass: Diese Diskussionen werden an einfache Muslime herangetragen – viele macht das nur wirr. Wenn ich selbst über solche Fragen grüble: Ganz ehrlich, es bringt mich Allah kein Stück näher. Es hilft mir nicht in meiner Religion.
Krass: Das ist auch so eine Frage: „Wie komme ich Allah näher“? Wenn man Allah näher kommt, dann war man vorher von ihm weiter entfernt.
E. Krass: Ich finde diese Diskussion heute sehr künstlich.
Vogel: Es handelt sich also nur um akademisch-theologische Debatten?
Krass: Ja. Das haben früher nur die Gelehrten debattiert. Das waren nicht wir – kein Marcel Krass mit Elektrotechnik-Studium und auch kein x-beliebiger TikTok-Prediger. Die Gelehrten haben sich getroffen, die Tür hinter sich zugemacht, und draußen hat niemand etwas mitbekommen. Sie haben diskutiert in der Absicht: „Vielleicht hat mein Gegenüber etwas verstanden, was ich noch nicht verstanden habe. Vielleicht kann ich von ihm lernen.“
Und das war der Punkt: Sie wollten lernen, nicht gewinnen. Heute geht’s oft nur noch um Rechthaberei und persönliche Aufwertung. Ich finde das zum Kotzen – und die Muslime werden da hineingezogen. Wenn du in dieser Bubble bist, saugst du das auf wie Gift.
„Wir sind die Auserwählten“ oder „Wir haben die richtige Methodik“ – das ist toxisch. Atharismus bedeutet für mich: „Mach dein Ding, und gut ist. Aber lass andere in Ruhe; wir müssen miteinander klarkommen.“ Wir stehen am Ende alle vor Gott. Jeder kann falsch liegen – wir hoffen nur, dass wir, falls wir falsch lagen, es aufrichtig für richtig hielten. Dann wird Allah uns verzeihen. Fertig. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
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