![]() |
Marcel Krass: "Ich gehe nicht auf die Straße, um LGBTQ zu bekämpfen" (Quelle: Föderale Islamische Union/YouTube) |
„Inhaltlich bin ich bei den Atharis, aber ich gehe entspannt mit anderen Richtungen um“
Vogel: Herr Krass, inwiefern sind die malikitische Schule und die Athariyya miteinander vereinbar?
Krass: Die Malikiyya ist eine Rechtsschule und Athariyya ist eher eine Aqida, also Glaubenslehre. Die Rechtsschulen konzentrieren sich im Wesentlichen auf die praktische Ausführung: Wie verrichte ich mein Gebet? Wie wasche ich mich dafür? Hier gibt es leichte Unterschiede zwischen den Schulen. Die Glaubenslehre, um die es bei der Athariyya geht, betrifft den theologischen Teil: Wie stelle ich mir Gott vor? Was sage ich über Ihn? Was ist richtig, was ist falsch?
Traditionell neigen die malikitischen Gelehrten eher zur Ashʿariyya. Viele bedeutende Gelehrte der Malikiyya waren Ashʿariten. Deshalb halte ich es für falsch zu sagen: „Ashʿariten sind keine Sunniten.“ Das würde ja bedeuten, dass die meisten Gelehrten meiner eigenen Rechtsschule keine Sunniten waren – was nicht passt. Das war für mich einer der Punkte, an denen ich sagte: Inhaltlich bin ich bei den Atharis, aber ich gehe entspannt mit anderen Richtungen um. Ich kann nachvollziehen, wo sie herkommen, und respektiere das.
Vogel: Der Vorsitzende des Gelehrtenrates der FIU, Sheikh Ibrahim Hourani, bekennt sich demnach ebenfalls zur Athariyya?
Krass: Ja, das muss er auch.
Vogel: Gibt es zwischen Ihnen und dem Vorsitzenden Widersprüche?
Krass: In Glaubensfragen sind wir einer Meinung, aber wir haben Meinungsverschiedenheiten bei anderen Themen.
Vogel: Kann man die Athariyya regional eingrenzen?
Krass: Schwierig. Eigentlich sind sie in den Golfstaaten verbreitet.
Vogel: Aber es sind keine Wahhabiten?
Krass: Nein, die kann man nicht gleichsetzen.
Vogel: Zwischen Salafisten und Athariyya gibt es aber Verbindungen. Besteht der Unterschied darin, dass Athariyya eine frühe theologische Richtung und Salafiyya eine Bewegung ist?
Krass: Genau. Die Salafiyya ist eher eine Bewegung, die im postkolonialen Kontext entstanden ist – also viel später. Den modernen Begriff Salafiyya gab es vor 500 Jahren gar nicht. Athariyya hingegen schon – ebenso wie Ashʿariyya oder Maturidiyya. Diese klassischen Begriffe gibt es seit über tausend Jahren. Sie waren oft bestimmten Rechtsschulen und Regionen zugeordnet: Ashʿariten fand man häufig bei Malikiten und Schafiʿiten, Maturiditen klassisch bei den Ḥanafiten, und die Athariyya vor allem bei den Hanbaliten. In alten Büchern findet man sogar, dass „Hanbalit“ und „Athari“ synonym verwendet werden.
Die Salafiyya beansprucht, dass die Athariyya ihr theologischer Hintergrund sei. Aber sie ist mehr als das. Bei den Salafis werden Sie kaum jemanden finden, der Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhab nicht verehrt – daher nennt man sie auch Wahhabiten. Aber ibn ʿAbd al-Wahhab lebte vor nur 400 Jahren – für die klassische Athariyya spielte er keine Rolle. Man kann also Athari sein und ibn ʿAbd al-Wahhab ablehnen. Als Salafi ist das schwierig, weil er integraler Bestandteil der Bewegung ist.
„Die Liste wurde bereinigt“
Vogel: Wie lässt sich mit Blick auf die FIU und auf Sie eine Vermischung von Athariyya und Salafiyya vermeiden? Der Verfassungsschutz rechnet die FIU weiterhin dem Salafismus zu.
Krass: Ja, wobei ich vom Verfassungsschutz erwarten würde, dass er sauber arbeitet.
Vogel: Der Verfassungsschutz hat sicherlich auch islamwissenschaftliche Experten, die sich intensiv mit der Materie befassen.
Krass: Eben. Und ein Islamwissenschaftler weiß das – er muss es wissen. Wenn er es anders darstellt, dann vermutlich aus anderen Motiven.
E. Krass: Hinzu kommt, dass die FIU nach Marcels Podcast im letzten Jahr eine Kündigungswelle erlebt hat.
Krass: Es sind bestimmt 100 bis 200 Leute ausgetreten.
E. Krass: Das war auffällig. Einige schickten ziemlich böse Briefe.
Krass: Nachdem wir die DMG in Braunschweig im Zuge des Verbotsverfahrens rechtlich nicht vertreten haben, sind noch einmal etwa 100 Leute ausgetreten.
![]() |
Vorsitzende der FIU, Marcel Krass (l.) und Dennis Rathkamp (r.): "Sind wir Salafisten?" (Quelle: Föderale Islamische Union/YouTube) |
Vogel: Wie viele Mitglieder hat die FIU heute?
Frau Krass: Wir haben jetzt rund 5.000 bis 6.000 Mitglieder.
Vogel: Kann man also von einer kleinen „Selbstreinigung“ der FIU sprechen?
Krass: Ja. Die Liste wurde bereinigt – auch von Leuten, die ohnehin Probleme gemacht hätten. Mit solchen Personen kann man keine politische Arbeit machen. Wenn man sich als Muslim in Deutschland engagieren will, muss man offen mit anderen Muslimen umgehen. Wenn man wegen so etwas wie „Der ist Maturidi!“ ausflippt – wie will man dann hier etwas erreichen?
Vogel: Die besagte Handlungsunfähigkeit.
Krass: Genau. Mit so einer Haltung kann man sich in eine Hinterhofmoschee setzen und seinen Unterricht machen – dafür reicht’s. Aber wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man auf andere zugehen. Viele Salafis schwärmen von Großbritannien mit seinen islamischen Schulen und Institutionen – aber mit dieser Engstirnigkeit kommt man da nie hin.
Vogel: Inwiefern lässt sich das auf die politische Dimension übertragen? Akzeptieren Sie die Demokratie? Lässt sie sich mit Ihrer Glaubenspraxis vereinbaren?
Krass: Demokratie ist für mich kein religiöses Thema. Ich sehe zwischen ihr und dem Islam keinen Widerspruch. Sie ist eine Herrschaftsform, ein Staatssystem. Der Islam hat uns kein festes Staatssystem vorgegeben. In den ersten 100 Jahren nach dem Propheten gab es viele Veränderungen in Staatsform und Herrscherbestimmung. Es gibt Prinzipien wie Gerechtigkeit, aber keine festgelegte Methode zur Wahl des Herrschers.
Vogel: Muslime müssen sich auch im demokratischen System bewegen können?
E. Krass: Natürlich.
Krass: Genau. Wenn im Grundgesetz steht „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, bedeutet das nicht, dass das ganze Volk regiert, wie einige Salafis behaupten, sondern dass das Volk eine Regierung wählt. Demokratie heißt: Derjenige an der Spitze ist nicht dort, weil er der Sohn des Königs ist oder einen Putsch gemacht hat, sondern weil das Volk ihn gewählt hat.
Man könnte es so sehen: Nach dem Tod des Propheten hätten sich Abu Bakr und ʿUmar zur Kalifenwahl gestellt – jeder mit eigenem Programm. Die Muslime stimmten ab, 60 % für Abu Bakr, 40 % für ʿUmar. Das wäre schon Demokratie gewesen – und kein Widerspruch zum Islam. Demokratie bedeutet, dass jeder sich politisch beteiligen kann. Wenn du Ideen hast und Menschen findest, die sie teilen, kannst du dich engagieren.
Vogel: Gehen Sie denn wählen?
Krass: Ja.
E. Krass: Wieder.
„Natürlich ist das eine sehr konservative Auffassung“
Vogel: In welchen Glaubensfragen oder Weltanschauungen – zum Beispiel bei Homosexualität – könnte es zwischen Ihnen und der Zivilgesellschaft Differenzen geben? Wie gehen Sie mit Kritik um?
Krass: Wahrscheinlich ist LGBTQ das Topthema. Wobei ich sagen würde: Homosexualität und Heterosexualität – beides ist in unserer Religion grundsätzlich verboten. Für Heterosexualität gibt es nur eine Ausnahme: die Ehe. Das ist die einzige Ausnahme vom Verbot. Natürlich ist das eine sehr konservative Auffassung. Dafür muss man nicht nur in die 1990er Jahre zurückgehen – sondern in die 1950er Jahre.
Meine Eltern haben 1973 geheiratet; ohne Trauschein hätten sie keine Wohnung bekommen. Das ist meine religiöse Auffassung, aber keine, von der ich denke, dass man sie in der Gesellschaft etablieren müsste. Das ist meine moralische Überzeugung. Dazu gehört auch: Gott hat die Menschen in zwei Geschlechtern geschaffen, und das ist bei der Geburt festgelegt. Das würde ich auch als jemand mit naturwissenschaftlichem Hintergrund so sagen. Ich weiß, dass das dem Zeitgeist widerspricht, aber ich gehe nicht immer mit.
Vogel: Sie planen aber nicht, aktivistisch gegen solche gesellschaftlichen Gruppen vorzugehen oder zu fordern, dass diese Menschen in ihren Freiheiten eingeschränkt werden?
Krass: Genau. Ich gehe nicht auf die Straße, um LGBTQ zu bekämpfen. Wir haben dazu bei der FIU auch ein Video auf unserem Kanal gemacht, weil das Thema in den letzten Jahren immer wieder aufkam. Unsere Position ist klar: Es gibt viele Dinge, die wir ablehnen.
Mir wurde einmal ein Video aus Marokko gezeigt, in dem ein Mann in Frauenkleidern unterwegs war – und ein Tumult ausbrach. Die Leute packten ihn und schlugen mit Schuhen auf ihn ein. Daraufhin habe ich ein Video gemacht, um klarzustellen: Nur weil wir eine moralische Überzeugung vertreten, heißt das nicht, dass wir einem anderen das Menschsein absprechen dürfen.
Das Video hieß, glaube ich, „Hör nie auf, den Mensch zu sehen“. Das ist die Gefahr, die ich sehe – selbst wenn man es sachlich macht, wie ich es tue –, dass Menschen so ein Bild von anderen entwickeln, dass die Hemmschwelle sinkt, ihnen etwas anzutun. Oder dass sie es sogar als legitim empfinden.
So wie teilweise über diese Menschen geredet wird, werden sie entmenschlicht. Und Entmenschlichung führt dazu, dass man eher bereit ist, Gewalt gegen sie auszuüben – das ist psychologisch völlig normal. Und das darf nicht sein.
Eine Sache darf man nicht vergessen, die ich sehr wichtig finde: Wir leben hier in einer Gesellschaft, in der wir unsere Positionen vertreten dürfen. Aber den Rahmen des Akzeptablen definieren nicht wir. Diesen Rahmen gibt das Grundgesetz vor. Wir dürfen unsere Position vertreten – so wie andere Religionsgemeinschaften auch. Aber wir dürfen nicht glauben, dass wir hier unsere moralischen Vorstellungen durchsetzen können.
Das muss man auch Muslimen ab und zu ins Gedächtnis rufen – und das gilt sogar innerhalb der Familie. Ich bekomme häufig Fragen wie: „Mein Sohn glaubt, er sei meine Tochter – was soll ich tun?“ Sie können sich vorstellen, was manchen Eltern aus tief orientalisch geprägten Kulturen da in den Kopf kommt.
Da sage ich klar: „Du kannst nicht so mit so etwas umgehen.“ Oder: „Meine Tochter hat den Islam verlassen – was soll ich tun?“ Dann antworte ich: „Versuche, das Gespräch zu suchen. Rede mit ihr. Aber wenn sie dabei bleibt, ist es eben so. Du kannst sie nicht zwingen.“ Manchmal muss man da bremsen.
Für mich, mit deutschem kulturellem Hintergrund, ist das selbstverständlich. Meine Eltern waren auch geschockt, als ich Muslim wurde – mein Vater hielt damals alle Muslime für Terroristen –, aber sie wären nie auf die Idee gekommen, Konsequenzen zu ziehen. Sie mussten damit leben. Manche muslimischen Eltern, so wie ich es erlebe, gehen da weiter. Da muss man sie zurückholen.
Vogel: Herr Krass, Frau Krass – ich bedanke mich für das Gespräch.