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TikTok-Prediger Ibrahim al-Azzazi |
„Das Problem heute ist die Debattenkultur auf TikTok“
Vogel: Herr Krass, wie würden Sie die Szene in ihrem aktuellen Zustand beschreiben? Lässt sie sich überhaupt mit früheren Zeiten vergleichen?
Krass: Ich glaube, es gab eine Zeit, in der ein gewisser Hype da war – besonders in den Jahren 2007 bis 2009. Auch in der Anfangszeit, als wir noch in allen Moscheen unterwegs waren. Das ist dann zurückgegangen.
2011 gab es eine große Kundgebung in Frankfurt am Main, an der 2000 Menschen teilnahmen und bei der 17 Leute zum Islam konvertierten. Aber auch das hat sich irgendwann verlaufen.
Ich glaube, einer der Gründe ist, dass das Internet sehr brüchig ist. Das ist keine große Community, die man aufbaut. Jemand, der dir im Internet folgt, entfolgt dir morgen wieder. Das ist keine Freundschaft oder Bindung zwischen einem Gelehrten und einem Schüler. Es ist alles sehr brüchig, weil es nur noch im Internet stattfindet.
Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Szene an Strahlkraft verloren hat. Sie ist ein Schatten ihrer selbst.
Vogel: Hat der sog. "IS" deshalb auch heute noch so ein leichtes Spiel, junge Menschen anzusprechen?
Krass: Das glaube ich. Im traditionellen Islam in Marokko hast du deinen Gelehrten, zu dem du gehst und fragst, ob du sein Schüler werden kannst. Wenn du den Koran nicht auswendig kannst, musst du sofort wieder nach Hause gehen.
Das ist in der hiesigen Szene nicht so – und das hat es dem sog. „IS“ leicht gemacht, auch aus anderen Gründen. Da wäre der fahrlässige Umgang mit dem Takfir (Handlung, einem anderen Muslim den Glauben abzusprechen), den man in der Szene kennt.
Die Takfiris übertreiben zwar, aber Takfir findet auch in der Szene praktische Anwendung, selbst unter den Mainstreampredigern. Zum Beispiel die Frage: „Ist derjenige, der nicht betet, ein Kafir (Ungläubiger) oder nicht?“ Dann werden die verschiedenen Meinungen durchgegangen, und es heißt: „Die Mehrheit der Gefährten hat damals gesagt, er sei ein Kafir, und in der Rechtsschule von Ahmad ibn Hanbal …“ (ein islamischer Theologe und Gründervater der hanbalitischen Rechtsschule).
Ich denke mir: „Junge, du redest zur Generation TikTok. Willst du ihr wirklich erklären, was das Rechtsurteil Takfir in der praktischen Anwendung bedeutet und wie man es vollzieht? Das ist nicht dein Ernst!?“
Vogel: Sie meinen also die Mainstreamisierung rein akademischer Debatten, die ohnehin die Lebenswirklichkeit der jungen Menschen gar nicht berührt?
Krass: Absolut. Es gibt in unserer Religion Kriterien für die Frage, ob man Muslim ist oder nicht – wie in der katholischen Kirche oder in anderen Religionen. Die findet man meist in klassisch-historischen Büchern.
Aber das waren Gelehrte und Richter, die noch mal eine Stufe höher standen und spezielle Befugnisse hatten. Wenn überhaupt der Verdacht bestand, dass jemand die Religion verlassen hatte, gab es aufwendige Untersuchungen. Das war kein Internetding und nichts, was man in die Hände von Laien gelegt hätte. Das verbietet sich eigentlich.
Das, was der „IS“ gemacht hat, war: „Jo, was wir in der Theorie gelernt haben, setzen wir jetzt in die Praxis um.“ Trotz der Tatsache, dass viele meinten, die Umsetzung sei „ziemlich“ übertrieben, lautete die Antwort der „IS“-Leute: „Wieso denn? Das steht doch so in den Büchern.“
Das war die gefährliche Nähe, weshalb man uns in der Szene vorher nicht voneinander unterscheiden konnte. Wir haben diese Theorie hierzulande unterrichtet. Wir haben alle Muhammad ibn Abd al-Wahhab gelehrt. Der „IS“ sagte: „Ja, wenn ihr das so sagt, dann machen wir das.“ Die Reaktion der Prediger war dann: „Nein, so darf man das nicht machen.“
Aber die theoretische Grundlagenarbeit für den "IS" wurde unbestritten von der Szene geleistet.
Vogel: Auch von Ihnen?
Krass: Auch von mir. Weil man sich von den Gelehrten entkoppelt hat. Der Beweis gibt dir die „richtige“ Meinung: Jemand erzählt dir etwas, zitiert einen Vers aus dem Koran – und zack, wird es angenommen.
Das ist heute sehr leicht geworden, egal, ob jemand akademisch dafür qualifiziert ist oder nicht. Ich würde doch auch nicht zu irgendeinem Typen auf der Straße gehen und mir einen Ratschlag über die Statik meines Hauses holen. Ich gehe zu jemandem, von dem ich weiß, dass er studiert hat und Ahnung besitzt.
Vogel: Ist denn das Studium der Islamwissenschaft eine Absicherung, um gesicherte Antworten auf komplexe religiöse Fragen zu geben?
Krass: Es gibt eine Reihe theologischer Fragen. Zum Beispiel: „Hat Gott eine Hand?“ – das sind Themen, die früher Gelehrte in geschlossenen Kreisen diskutiert haben.
Das Problem heute ist die Debattenkultur auf TikTok, die alles simplifiziert und ein schlimmes Bild unserer Religion abgibt.
Vogel: Weil es noch einmal eine gewisse Pervertierungsstufe bei der Behandlung von religiösen Inhalten darstellt, die in fünf Sekunden abgeräumt wird?
Krass: Genau. Auch diese Fragerunden auf TikTok: Derjenige, der dir eine Frage stellt, ist ein Mensch mit einem bestimmten sozialen Umfeld – Familie, Kultur, Privatleben.
Was für ihn richtig ist, kann für jemand anderen falsch sein. Mit verunsichernden Antworten treibst du ihn möglicherweise in den Ruin. Das sind Befindlichkeiten, auf die man Rücksicht nehmen muss – aber das findet gar nicht statt.
Früher, vor 500 Jahren, konnte unsere Religion so etwas leisten. Da ging jemand in Andalusien zu einem Mufti mit einer Frage. Der Mufti fragte zunächst: „Woher kommst du?“ – Antwort: „Aus dem Irak.“ Darauf der Mufti: „Dann geh zurück in den Irak und frage dort den Mufti. Der kennt deine Umgebung, deine Familie, deine Kultur. Was soll ich dir jetzt sagen?“
Das fehlt heute. Wenn dir also irgendein Typ aus dem Internet etwas sagt, dich aber gar nicht kennt – das ist doch falsch.
„Wir haben viel Leid verursacht, auch gegenüber anderen Muslimen.“
Vogel: Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, selbst junge Menschen radikalisiert zu haben oder gar weiterhin zu radikalisieren?
Krass: Viele Inhalte, die ich heute kritisch sehe, sehe ich nicht aus einer Distanz kritisch, sondern ich sehe sie kritisch, weil ich das auch vertreten habe. Das sind die Dinge, die am meisten wehtun.
Wir haben das – also ich sage immer wir, aber ich kann meine Augen davor nicht verschließen, ich zumindest nicht – ich habe damals schon gesehen, wie durch unsere Ideen sehr viele Konflikte innerhalb von Moscheen und Familien hervorgerufen wurden. Wir haben eine Moschee nach der anderen für die Jugendlichen eröffnet, die nach Hause kamen und ihren Eltern erklärten, wie die „richtige“ Religion zu funktionieren habe. Wir haben viel Leid verursacht, auch gegenüber anderen Muslimen. Das sind Dinge, die kann man nicht ungeschehen machen. Ich versuche mit dieser Schuld umzugehen, indem ich die Themen von damals auch heute kritisch anspreche und auch Videos darüber drehe.
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Marcel Krass 2013 (Quelle: Marcel Krass) |
Dass ich mich verändert habe, hatten deshalb einige schon Jahre vor den Podcasts gemerkt. Da gab es einige Themen, die ich aufgegriffen habe – vor allem zur Meinungsvielfalt im Islam. Der Umgang mit Nichtmuslimen war häufiger ein Thema, nicht zuletzt ausgelöst durch ein Video eines Berliner Predigers, in dem ein Junge ihn fragt, ob man mit Nichtmuslimen Freundschaften schließen dürfe. Der Prediger antwortete knapp: „Nö“. Ich dachte mir dabei: „Erwartet ihr, dass die Gesellschaft euch so willkommen heißt?“ Denn ein Tag später jammert man wieder darüber, dass die Gesellschaft gegen „uns“ sei. Ich wollte solche Leute auch nicht haben wollen!
Vogel: Die erwähnte selbsterfüllende Prophezeiung.
Krass: Ja, genau. Aber das sind Themen, die ich vor den Podcasts kritisiert habe, auf die die Szene allergisch reagierte. Jetzt kann ich ohnehin sagen, was ich will. Das interessiert sowieso keinen mehr, weil ich von der Szene abgeschrieben wurde. Egal was ich jetzt sage: Schlimmer kann es nicht werden.
Ich hatte vor den Podcasts auch Themen wie Geschlechtermischung indirekt aufgegriffen: „Hör mal zu, wir leben jeden Tag hier. Wir gehen im Supermarkt einkaufen und wir gehen Eis und Döner essen. Und wenn wir das alles machen, wie kann man so einen Film fahren? Nur mal so als Denkanstoß.“ Und da gab es dann schon eine Empörungswelle.
Oder ich wurde einmal gefragt, ob das Feiern von Geburtstagen haram (Sünde) sei. Ich sage ja generell nicht, dass das erlaubt oder verboten wäre, aber ich habe daraufhin öffentlich geantwortet: „Das musst du die Leute fragen, die sagen, dass Geburtstagsfeiern haram seien.“ Andere merkten damals schon indirekt, wie meine Position dazu aussah, obwohl ich es nicht direkt gesagt habe. Es geht mir gar nicht um die Frage an sich, sondern es geht mir darum, den Leuten zu sagen: „Es gibt mehr als das, was nur aus einer Richtung kommt.“
Vogel: Es ist ein abschreckender Gedanke, wenn fremde Menschen sich permanent in einen so persönlichen Bereich wie den Umgang mit dem eigenen Glauben einmischen und versuchen, individuelle Alltagsprobleme zu vergemeinschaften. Es kommt doch darauf an, ob Ratschläge unterstützend oder schädigend sind. Religion soll eigentlich eine Ressource für das Leben in der heutigen Welt sein – und nicht in die Verzweiflung treiben.
Krass: Ich habe vor ein paar Tagen ein Video von Yasir Qadhi gesehen, in dem er sich mit mehreren wissenschaftlichen – also säkularen – Studien zu den Vorzügen einer Religion für eine Gesellschaft auseinandergesetzt hat. Das hat mich nachdenklich gemacht.
Bekommen unabhängige Beobachter einen positiven Eindruck von Religion, wenn sie die TikTok-Videos sehen, in denen behauptet wird, die Religion zu repräsentieren? Das bezweifle ich.
Deswegen mache ich es heute anders und sage zu denen, die mir zweifelnd Fragen stellen: „Unsere Religion ist lebensbejahend und praktikabel. Wenn du sie nicht so erlebst oder sogar das Gefühl hast, dass sie dich zerstört, wurde dir vielleicht im Internet etwas Falsches vermittelt.“
„Wir leben in einer Demokratie; hier sollen sich alle einbringen.“
Vogel: Kann man daraus schließen, dass Sie auch etwas gutmachen wollen – sich vielleicht sogar selbst in einer Art Präventionsbewegung sehen? Sie haben mit der „Föderalen Islamischen Union“ (FIU, ein Verein, in dem Krass zum Vorstand gehört) sogar einen Workshop entwickelt, in dem unterschiedliche Berufsgruppen Inhalte zu Radikalisierung und Präventionsstrategien vermittelt werden sollen. Wie lässt sich das verbinden mit einem Marcel Krass, der sicherlich auch politisch unbequem ist und das auch bleiben wird?
Krass: Ich beobachte in den letzten Jahren, dass die politische Stimmung in Europa immer weiter nach rechts rückt. Das sind Entwicklungen, die mir Sorgen machen. Aber ich denke, dass man daran etwas ändern kann.
Deshalb hoffe ich, dass sich Muslime auf allen Ebenen politisch engagieren – dass sie an Wahlen teilnehmen, taktisch vorgehen, um diesen Rechtsruck zu verhindern, sich in politischen Parteien einbringen oder Parteien gründen und mitgestalten. Wir leben in einer Demokratie; hier sollen sich alle einbringen. Dafür werbe ich nachdrücklich.
Allerdings: Wenn ich für so etwas werbe, kommt vielleicht der Verfassungsschutz und verdächtigt mich der politischen Unterwanderung.
Vogel: Der Verdacht, dass Sie heute ein „legalistischer Islamist“ sind?
Krass: Genau. „Die Muslimbruderschaft, die die Scharia einführen möchte, indem sie die Parlamente unterwandern.“ Das ist das Verhängnis.
Ich hatte schon befürchtet, bevor ich mich in Richtung politisches Engagement orientieren würde, dass der Verfassungsschutz mich so betrachten könnte.
Vogel: Ordnet der Verfassungsschutz Sie denn dem legalistischen Islamismus zu?
Krass: Ja – das hat mir zumindest ein Journalist gesagt. Die Polizeibehörden sollen mir gegenüber entspannter sein, aber der Verfassungsschutz soll mich in diese Schublade stecken.
Anmerkung: Der Verfassungsschutz Niedersachsen rechnet im aktuellen Verfassungsschutzbericht 2024 die FIU dem legalistischen Islamismus zu.
Vogel: Sie meinen also, ihr politischer Aktivismus wird als problematisch angesehen? Dass Sie beispielsweise im Rahmen der FIU Klagen vor Gericht einreichen?
Krass: Es scheint so zu sein, dass es immer darauf ankommt, „wer“ so etwas macht.
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Marcel Krass und die FIU: Legalistischer Islamismus? (Quelle: Screenshot/YouTube) |
Vogel: Wenn ich das richtig verstanden habe, planen Sie und die FIU mittelfristig als Körperschaft des öffentlichen Rechts im Sinne einer Kirche anerkannt zu werden?
Krass: Es ist ja nicht so, dass ich heimlich etwas gründen möchte.
Vogel: Unter Taqiyya (Täuschung) verstehe ich jetzt auch eher etwas anderes.
Krass: Ich bin auch Mitglied der BIG-Partei geworden.
Vogel: In der was?
Krass: BIG-Partei. Die wurde 2009 in den Bonner Stadtrat gewählt. Sie ist auf kommunaler Ebene aktiv, redet dort mit – und das finde ich gut.
Ich bin für die Partei im Kreisverband Hannover aktiv geworden. Das ist kein Geheimnis. Ich stehe dazu und habe das auch schon öffentlich kommuniziert. Ich sage: Wir sind selbst schuld, wenn wir in einem demokratischen Land mit fünf Millionen Muslimen es nicht schaffen, die Politik in eine andere Richtung zu steuern.
Vogel: Eine Art muslimische Union?
Krass: Die Partei hat kein wirkliches muslimisches Profil. Der Gründer ist Muslim. Im weitesten Sinne könnte man sie als „wertekonservativ“ beschreiben – die CDU der 1990er Jahre, aber nichts Radikales.
Es geht mir auch nicht um die Partei an sich, sondern um die Idee: „Hey, mach doch etwas!“ Jemand mit meiner Geschichte wird deshalb kritisch gesehen.
Vogel: Wenn ich das richtig sehe, verfolgt die Partei ein sehr konservatives Wahlprogramm, sodass sie es schwer haben dürfte, relevante Mehrheiten in der Gesellschaft zu finden. Ihr Vorsitzender soll einmal mit schwulenfeindlichen Aussagen aufgefallen sein.
Krass: Ja, das gab es. Die hatten mal eine Kampagne, die unglücklich aufgezogen war. Als sie in Berlin kandidierten, hängten sie Plakate mit Slogans wie „Schulfach schwul“ auf. Das ist schlechte Kommunikation – ganz klar.
„Ich stecke nicht zurück. Dafür bin ich nicht gemacht.“
Vogel: Wie gehen Sie also damit um, weiterhin problematisiert zu werden?
Krass: Ich stecke nicht zurück. Dafür bin ich nicht gemacht. Ich sehe im Rechtsruck eine Gefahr und bin überzeugt, eine Lösung zu kennen. Aber ich darf nicht auf diese demokratisch akzeptierte Lösung hinwirken, weil ich eine Geschichte habe und mich der Verfassungsschutz verdächtigt.
Fairerweise muss ich aber sagen, dass ich im Verfassungsschutzbericht zum Berichtsjahr 2023 nicht mehr auftauche.
Anmerkung: Im Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2024 wird Marcel Krass als Vorsitzender der FIU namentlich erwähnt.
Vogel: Gab es in der Zwischenzeit ein Gespräch mit dem Verfassungsschutz?
Krass: Ich habe mit denen noch nie gesprochen. Ich habe mich immer gefragt, ob der Verfassungsschutz mal Interesse an einem Gespräch hätte. Aber ich habe das Gefühl, dass sie das nicht machen, sondern mich nur von außen beobachten.
Vogel: Ein politisches Engagement könnte dazu führen, weiterhin beobachtet zu werden?
Krass: Ich bin am Überlegen. Ich habe meinen eigenen Kopf, wollte aber auch ein bisschen persönliche Ruhe. Und ich möchte nicht, dass es auf staatlicher Seite wie eine gezielte Provokation wirkt.
Das hat man in der Szene früher oft gemacht – etwa mit Aktionen wie einem Totengebet für Osama bin Laden oder der „Sharia-Polizei“. Das möchte ich eigentlich nicht mehr.
Vogel: Stichwort Sven Lau.
Krass: Er ist ja schon lange aus dem Gefängnis raus. Bei ihm hat es nicht so funktioniert, in der Gesellschaft Fuß zu fassen.
Vogel: Deswegen habe ich seinen Namen auch eingebracht. Der Drang, präsent zu bleiben, ist mit Sicherheit unter Predigern stärker ausgeprägt.
Weiter zu Kapitel 9: „Loyalität zu einer Person ist wichtiger als Inhalte“