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Marcel Krass 2024 im Podcast "Shura Zeit" (Quelle: Shura Zeit) |
„Wir sind froh, diese Leute endlich los zu sein.“
Vogel: Herr Krass, Sie haben sich 2024 in den erwähnten Podcasts auf YouTube sehr deutlich von der Szene distanziert und dabei auch Ihre eigene Rolle als Prediger kritisch reflektiert. Wie schwer fiel Ihnen die Entscheidung, in die Öffentlichkeit zu gehen und einen Schlussstrich zu ziehen?
Krass: Es gab da vor allem eines: Peer Pressure, also Gruppenzwang. Ich war sehr lange in der Szene unterwegs und wusste, was das auslösen würde. In der Heftigkeit hat mich das dann doch ein bisschen überrascht, weil plötzlich alle meinten, sich zu Wort melden zu müssen. Jeder musste etwas dazu sagen, auch wenn ich vermute, dass einige von ihren Leuten unter Druck gesetzt wurden.
Ich weiß ja, wie das in der Szene läuft: Es gibt irgendeinen Skandal, und dann bekommst du hundert Nachrichten von Leuten, die wollen, dass du dich gegen jemanden positionierst oder „schießt“. Das verschafft wiederum den Leuten Aufwertung.
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: 2020 veröffentlichten ein paar Schweizer – zwei Brüder und zwei Schwestern – ein Video, in dem sie vor einem Bordell in Amsterdam zu sehen waren. Sie referierten darin über Sexualpraktiken, die im Islam erlaubt seien und die man in der Ehe wieder aufleben lassen sollte.
Davon abgesehen, dass ich kein Fan von diesem Video war, brach daraufhin ein Skandal aus. Jeder Prediger wurde angeschrieben: „Was hältst du davon? Willst du nicht irgendetwas dazu sagen?“ Die Leute hätten deren Meinung eigentlich gar nicht benötigt, weil sie selbst über richtig oder falsch hätten entscheiden können.
Also warum forderten sie solche externen Reaktionen? Nämlich: „Ich schreibe einen Prediger an, damit er sich hinsetzt, einen Livestream macht und gegen diese Leute schießt, damit ich mir das angucke und denken kann: ‚Boah, wow‘.“
Dasselbe passierte bei mir. Das war ein „Skandal“. Einer hatte sogar in seiner Story gepostet: „Ey Leute, ich habe hunderte Nachrichten zu Marcel Krass bekommen. Ich weiß Bescheid.“ Ich bin mir sicher, dass einige Prediger auf eine Reaktion gar keine Lust hatten. Aber ihre Follower erwarteten es, und sie mussten etwas dazu sagen.
Vogel: Sie sagten, Sie seien nach den Podcasts im letzten Jahr von Behörden gewarnt worden, als die Emotionen in der Szene hochkochten?
Krass: Ja. Zwei Wochen nach dem ersten Podcast kamen sie zu mir und sagten: „Du, hör mal her, es sieht gefährlich aus. Deine Aussagen haben die Szene zum Kochen gebracht. Also pass ein bisschen auf, wie du dich bewegst.“
Sie warnten zwar nicht vor einer unmittelbaren oder konkreten Bedrohung, aber meinten, die Stimmung sei so, dass man nichts ausschließen könne.
Vogel: Haben Sie und Ihre Familie Drohungen erhalten?
E. Krass: Nichts Konkretes.
Vogel: Wurde durch die Reaktionen auch das Familienleben beeinträchtigt?
E. Krass: Es war ein absolut wichtiger Schritt, den Marcel gegangen ist. Wir sind froh, diese Leute endlich los zu sein. Wir möchten mit ihnen nichts mehr zu tun haben und auch nicht mit ihnen verglichen oder gleichgesetzt werden – so nach dem Motto: „Ach ja, die sind ja alle so. Der Marcel Krass gehört auch dazu.“ Nein, eben nicht. Und das musste klar gemacht werden
Vogel: Standen Sie, Herr Krass, früher unter demselben Erwartungsdruck, als Sie in der Szene noch Prediger waren? Wurden Sie auch von Ihren Followern aufgefordert, vermeintliche Abweichler fertig zu machen?
Krass: Ich habe mir das nie angetan. Als ich wegen den erwähnten Schweizer Nachrichten bekommen hatte, habe ich dem gar keine Beachtung geschenkt.
Vogel: Sie waren also nicht der Streitsüchtige.
Krass: Nicht mehr.
Vogel: Vorher waren Sie es.
Krass: In meiner Zeit, als wir die Moscheen gegründet haben, war ich ein solcher Streithahn. Da hätte ich mir vielleicht diese Gelegenheit auch nicht nehmen lassen.
Der Zeitpunkt, als ich zum ersten Mal der Auffassung war, dass etwas nicht so eindeutig war, fällt in das Jahr 2012. Da hatte das Salafi-Burnout schon eingesetzt, als ich mich dem Koran gewidmet und das Gefühl hatte, dass irgendetwas nicht stimmt.
Die Salafis waren damals trotzdem für mich die „wahre Gruppe“. Ich habe sie nicht infrage gestellt. Aber irgendetwas fehlte für die Perfektion.
Dann kam Marokko und mit ihm die Meinungsvielfalt. Da war ich schon viel entspannter. Da konnte man mich mit Konflikten und Aufforderungen, mich daran zu beteiligen, nicht mehr so leicht hinter dem Ofen hervorlocken. Ich habe so etwas ignoriert.
Vogel: Marokko war also für Sie eine entscheidende Zeit.
Krass: Ja, auf jeden Fall. Es gab drei sehr große Momente, die in diesem zehnjährigen Prozess eine Rolle spielten.
Der erste war das einsetzende Salafi-Burnout 2012, im Zuge dessen ich mich zum ersten Mal hingesetzt und reflektiert habe, dass ich irgendetwas falsch gemacht hatte.
Dann kam ab 2014 Marokko und die Öffnung, was die Meinungsvielfalt betraf. Denn die Argumentation der Salafis, die mich vorher so beeindruckt hatte, war in meinen Augen nun nicht mehr so simpel und überzeugend.
Der dritte Moment war die Verurteilung von Abu Walaa.
Vogel: Weil Sie von Abu Walaa schon einmal zu einem Vortrag eingeladen worden waren?
Krass: Ja. Vielleicht war das in der Rückschau sogar gut, weil es mich zum Nachdenken gebracht hat. Das war 2013, ein Jahr vor der Ausrufung des sogenannten „Kalifats“. Ich war zweimal auf seine Einladung hin nach Hildesheim gekommen.
Beim ersten Vortrag im Mai 2013 habe ich einen regulären Vortrag gehalten und saß auch neben Abu Walaa. Im Oktober desselben Jahres war ich zum Tag der offenen Moschee eingeladen worden, weil man meinte, ich könnte die Deutschen ganz gut erreichen.
Das Problem, das mich so nachdenklich gemacht hatte, war, dass ich wusste, dass er der Statthalter des „IS" in Deutschland war. Er war auf diesem Trip, hat die Leute dorthin geschickt und alles gefeiert, was dort passierte.
„Man hätte ab dem ersten Tag wissen müssen, was aus dem „IS“ werden würde.“
Vogel: Wie konnten Sie das wissen?
Krass: Dass er die Leute nach Syrien schickte, wusste ich erst seit seiner Verhaftung. Dass er dem „IS" nahe stand, eigentlich auch schon vorher.
Im Sommer 2014, kurz bevor ich nach Marokko auswanderte, gab es in Bonn ein großes Predigertreffen in Deutschland. Alles, was Rang und Namen hatte, fast alle – etwa 20 Leute, die aktiv oder schon länger aktiv waren – waren dort.
Wir haben uns darüber unterhalten, wie die Situation der Prediger sei, wie wir uns untereinander enger vernetzen und eine gemeinsame Agenda verfolgen könnten. Bei dem Treffen waren auch Abu Walaa und ein anderer Prediger aus Frankfurt am Main dabei, dem ebenfalls eine Nähe zum „IS" nachgesagt wurde.
Wir haben uns alle gut verstanden, eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet und sind dann lose miteinander in Kontakt geblieben. Wenig später wurde das sogenannte „Kalifat“ ausgerufen.
Danach bildeten sich in dieser WhatsApp-Gruppe drei verschiedene Fraktionen:
Die erste Fraktion distanzierte sich sofort von der Gruppe und bezeichnete die „IS"-Anhänger als „Khawarij“ (urspr. die Ausziehenden/mod. Abtrünnige), die ultragefährlich seien. Dazu gehörten etwa der Leipziger Hassan Dabbagh und sein Team, die ab Tag eins der Kalifatsausrufung klar Stellung bezogen.
Dann gab es die Fraktion, die sich abwartend äußerte – zu der zählte ich. Diese fand den „IS" zwar zu übertrieben, hoffte aber auf eine positivere Entwicklung im Kampf gegen Diktator Bashar al-Assad. Das war objektiv gesehen die „Mitte“ im Prediger-Meinungsspektrum – aber auch die war schon zu extrem.
Zur dritten Fraktion, die den „IS" feierte, gehörte unter anderem Abu Walaa. Er meinte, dass das „unsere Leute“ seien, die „Mudschahidin“ usw., und verließ anschließend unzufrieden unsere Chatgruppe.
Was mich danach so beschäftigte: Man hätte ab dem ersten Tag wissen müssen, was aus dem „IS" werden würde. Das waren Leute, die aus dem Irak kamen – und man wusste zumindest grob, was sie in den acht Jahren zuvor dort getan hatten.
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Prediger Abu Abdullah (l.), Abu Walaa (m.) (Quelle: Dawa FFM) |
Vogel: Das wundert mich. Sie haben abgewartet, was passieren würde, obwohl bekannt war, dass der Vorgänger des „IS“, der sog. „Islamische Staat im Irak“ unter Abu Mussab al-Zarqawi, tausende Menschen auf dem Gewissen hatte, dessen Brutalität selbst der al-Qaida-Führung zu weit gegangen sein soll?
Krass: Ja. Die irakische al-Qaida-Version war selbst der al-Qaida zu heftig. Wir wussten das eigentlich auch. Ich verstehe nicht, wie wir das damals nicht vom ersten Tag an erkannt haben.
Ich glaube, das lag daran, dass der Abstand zwischen der „normalen Salafiyya“ und ihnen nicht so groß ist, wie man denkt. Ich sage heute, dass das keine zwei unterschiedlichen Planeten sind. Es sind zwei Parallelstraßen, zwei Straßengangs, die zwar miteinander verfeindet sind, aber der ideologische Abstand zwischen beiden ist nicht so groß, wie man glaubt.
Es ist sonst nicht erklärbar, warum ich und viele andere nicht sofort erkannt haben, was das für Leute sind. Wir wussten zwar, wie Abu Walaa tickte, aber nichts davon, dass er undercover Leute aus seiner Moschee nach Syrien schleuste.
Mich hat das alles später sehr nachdenklich gemacht. Denn dass Abu Walaa mich zu sich eingeladen hatte – ein Jahr vor der Gründung des „Kalifats“, während er schon 2013 auf dem „IS"-Trip war – hat mich erschüttert. Das bedeutete, dass er mich damals als jemanden der ihren wahrgenommen hatte. Das war ich zwar nicht, aber so schien er mich gesehen zu haben.
Das ist übrigens ein weiteres Zeichen dafür, dass der ideologische Abstand zwischen uns nicht groß gewesen sein kann. Denn auch wir hatten Abu Walaa zu unseren Veranstaltungen eingeladen. Die DWR hat sich ja damals auch mit den Leuten von "Millatu Ibrahim" in Solingen gut verstanden (eine salafistisch-dschihadistische Hooligan-Gruppe, die Anfang der 2010er Jahre existierte).
Vogel: In der Szene war viel Bewegung drin.
Krass: Ja. Die haben dort Vorträge gehalten. Wenn Sie Abu Usama al-Gharib (Mohamed Mahmoud) gehört haben – ich bitte Sie, so etwas Irres! Aber die DWR-Leute dachten, das sei „ganz normal“.
Sie waren zwar nicht dasselbe wie "Millatu Ibrahim", aber so nah an ihnen dran, dass man das ganze Gerede von Abu Usama al-Gharib vorher nicht als Alarmzeichen erkannt hat.
Vogel: Das haben sie nicht?
Krass: Nein! Man dachte, die sind vielleicht etwas härter drauf.
Vogel: Obwohl beispielsweise Mitglieder der Gruppe, Robert B. und Christian E., wegen Terrorpropaganda in London in Haft gesessen hatten?
Krass: War völlig egal.
Vogel: Denis Cuspert?
Krass: Die DWR trat gemeinsam mit ihm in Solingen auf. Ich habe mir erst kürzlich einen Vortrag von ihm angehört. Wer in Gottes Namen war auf die Idee gekommen, diesem Typen eine Bühne zu geben?
Ich finde es schön, wenn ein Gangster den Weg zum Islam findet und mit dem Quatsch aufhört. Aber dem kann man doch nicht sofort eine Bühne geben! Ein Typ, der gestern über nichts anderes geredet hat, als Frauen aufzureißen und Leute abzuknallen – das soll heute der Repräsentant des Islams sein, der Jugendliche anziehen soll?
Das ist genau mein Kritikpunkt an der Szene, neben vielen anderen. Das ist hier Standard.
Ich wurde erst kürzlich in einer Fragerunde gefragt, ob ich nicht Lust hätte, einen amerikanischen Ex-Rapper als Vortragsredner einzuladen, der jetzt Muslim sei. Ich habe direkt darauf geantwortet: „Was qualifiziert ihn, um Vorträge zu halten?“
Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass niemand ohne theologische Ausbildung Vorträge halten dürfe. Aber die Idee, dass Gangster-Rapper die Jugendlichen erreichen würden – natürlich tun sie das – kann die Folge haben, dass im Ergebnis ein Deso Dogg (früherer Künstlername von Denis Cuspert) dabei herauskommt.
Und diese Öffentlichkeitsstrategie verfolgt die Szene heute immer noch: religiöse Analphabeten, die der Jugend teilweise aggressiv islamische Inhalte beibringen wollen.
„Ich hätte damals kritischer sein müssen.“
Vogel: Gab es Anhänger von Ihnen, die auch nach Syrien in den Dschihad ausgereist sind?
Krass: Ich bekam irgendwann Kenntnis davon, dass jemand, der sich mal in meinem Umfeld aufgehalten hatte, 2013 nach Syrien ausgereist war. Das war ein türkischer Konvertit, der sich auch meine Vorträge angehört hatte.
Vogel: Lebt er noch?
Krass: Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Ich vermute, nein.
Vogel: Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie von dessen Ausreise erfahren haben? Wahrscheinlich positiv, dass er sich dem Widerstand gegen Assad angeschlossen hatte?
Krass: Ja. Seine Ausreise war noch vor der Ausrufung des sogenannten „Kalifats“. Damals herrschte in der Szene im Allgemeinen eine positive Grundstimmung in Bezug auf Syrien und den dortigen Kampf. Auch die internationale Politik unterstützte die dortige Rebellion.
Vogel: Die Verteidigung der Syrer.
Krass: Richtig. Die Syrer wurden vom Regime haufenweise getötet. Irgendjemand musste etwas tun. Als der Mann nach Syrien gegangen war, habe ich es gefeiert.
Vogel: Die Frage ist doch, mit welchen Konsequenzen? Wofür ist der Mann möglicherweise gestorben? Die Situation Syriens ist elf Jahre später nach wie vor prekär. Viele Menschen sind in diesem Zeitraum gestorben, vor allem durch Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Dschihadistengruppen.
Krass: Ich sehe das heute auch so. Ich hätte damals kritischer sein müssen. Denn ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Die tonangebende Gruppe war in den Jahren 2012 und 2013 die Nusra Front – und die war damals ein offizieller al-Qaida-Ableger.
Und daran kommt man nicht vorbei. Das sollte immer zur Vorsicht mahnen. Al-Qaida vertritt eine Ideologie, und die Gruppe bestand in der Regel aus Opportunisten. Das Problem, das deren Führung mit al-Zarqawi hatte, war nicht, dass sie Mitleid mit den Schiiten hatte, sondern dass dessen Vorgehen ihrer Agenda nicht half. Hätte es ihrer Agenda geholfen, hätte sie auch kein Problem damit gehabt.
Und das muss man über al-Qaida wissen.
Im Vergleich zum irakischen Ableger hat sich die Nusra Front in Syrien dennoch halbwegs anständig benommen. Das war damals zumindest mein Eindruck. Ich kannte zwar die Details vor Ort nicht, aber das, was zu uns durchgedrungen ist, nährte diesen Eindruck.
Sie haben nicht eine Stadt erobert und sofort gefordert, dass alle Frauen sich von Kopf bis Fuß schwarz bekleiden müssen. Es schien so, als würden sie Rücksicht auf die Kultur nehmen und sich zunächst auf den Kampf gegen Bashar al-Assad konzentrieren.
Aber spätestens nachdem die Nusra Front im April 2013 offiziell al-Qaida die Treue geschworen hatte, hätte man sagen müssen: „Okay, wir treten einen Schritt zurück, das ist eine Terrorgruppe. Egal, wie sie sich benehmen – es bleibt eine Terrorgruppe.“
Ich glaube schon, dass wir Prediger insgesamt mitverantwortlich waren, dass Leute nach Syrien gegangen sind – nicht, weil wir sie direkt geschickt hätten, sondern weil wir sie bejubelt hatten.
Vogel: Abgesehen von der Tatsache, dass in der Tat einige Prediger Leute nach Syrien geschickt hatten.
Krass: Ja, zum Beispiel Abu Walaa. Aber in der Anfangszeit sind die meisten allein nach Syrien gereist, weil das damals noch einfacher war. Sie sind einfach in die Türkei geflogen, dann hat sie ein Auto zur Grenze gebracht, und das war’s.
„Was stimmt da menschlich nicht?“
Vogel: Damals schien es noch opportun zu sein. Die Amerikaner, die Türkei und die Golfstaaten lieferten Waffen. Und es war legitim, gegen das Regime zu kämpfen oder Hilfslieferungen zur syrischen Bevölkerung zu bringen. Entsprechend haben sich nach den von Ihnen geschilderten Entwicklungen unter den Gruppen auch Zuschreibungsprozesse verändert. Als der sog. „IS“ in eine barbarische Raserei verfiel und die Nusra Front Selbstmordattentäter einsetzte, änderte sich auch das öffentliche Bild von den Rebellen.
Krass: So funktioniert auch Politik. Das muss man wissen. Politik hat sehr viel mit dem Außenbild zu tun.
Was uns allerdings betrifft, finde ich es nach wie vor kritisch, wie wir damals über al-Nusra und deren Leute gesprochen haben. Die wurden als Helden bejubelt.
Vogel: Auch als sie sich zur al-Qaida öffentlich bekannt hatte?
Krass: Ja, klar. Nachdem die Nusra Front al-Qaida die Treue geschworen hatte, veröffentlichte ein Prediger ein Video, in dem er die Gruppe gegen die Kritik eines Zeitungsjournalisten verteidigte. In einem Artikel hatte dieser sie als Terrorgruppe bezeichnet.
Der Prediger meinte: „Nein, das sind keine Terroristen, sondern sie verteidigen die Zivilisten.“
Es herrschte also damals eine bestimmte Stimmung, die die Leute sicherlich auch motiviert haben dürfte, nach Syrien zu reisen.
Hinzu kommt: Wir sind Prediger und keine Wissenschaftler. Wenn wir sagen: „Du fastest im Monat Ramadan, dann werden dir deine Sünden vergeben“, dann müssen wir nicht hinzufügen: „Faste im Monat Ramadan.“ Das gute Bild, das wir vermitteln, reicht dafür aus.
Wenn ich sage: „Im letzten Drittel der Nacht ist es schön zu beten, weil Allah deine Bittgebete erhört“, dann muss ich nicht sagen: „Steh auf und bete.“ Denn allein, wie ich es beschreibe, motiviert die Leute.
Und das war dasselbe mit der Sympathie für die Nusra Front. Wenn man Tag und Nacht darüber redet, was für Helden das sind, dann ist klar, dass das Leute motiviert, nach Syrien zu reisen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Das sehe ich nach wie vor kritisch.
Vogel: Gab es überhaupt darüber irgendeinen kritischen Diskurs unter den Predigern? Es gab schließlich im Laufe der Zeit zahlreiche Nachrichten darüber, dass immer mehr Leute aus der Szene nach Syrien verschwanden.
Krass: „Die wurden von anderen radikalisiert“ – das ist bis heute das Narrativ. „Wir hatten damit nichts zu tun, sondern die wurden radikalisiert von Leuten wie Abu Usama al-Gharib, Abu Walaa und wie sie alle heißen. Es gab halt die zwei, drei 'IS'-Fahnenträger, die haben die Leute radikalisiert, und die sind runtergegangen, weil sie uns nicht mehr zugehört haben.“
Vogel: Also wenig Selbstkritik.
Krass: Die ist gar nicht vorhanden. Politisch ist die Szene eine Katastrophe. Ich denke mir immer wieder: Mit Situationen wie dem syrischen Bürgerkrieg, der zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat, darf man doch nicht so locker umgehen. Was stimmt da menschlich nicht? Das verstehe ich auch an dieser Szene nicht.
Vogel: Sind Sie rückblickend auf die Polarisierung in der Szene und die explodierende Gewaltbereitschaft im Zuge des syrischen Bürgerkriegs nicht ein hohes Risiko eingegangen, dass Sie mit so vielen Leuten die Nummern getauscht hatten? Manchen Predigern wurde das zum Verhängnis.
Krass: Ja. Unter den vielen Kontakten gab es leider auch einige, die während des Syrien-Konflikts auffällig wurden. Diese Leute stammten meist aus einer bestimmten Bubble.
Wenn man zehn Jahre lang nur in Moscheen von DITIB, Milli Görüş oder IGMG unterwegs ist – also türkische, eher traditionell-religiöse oder sufistische Gruppen – trifft man kaum jemanden, der irgendwann nach Syrien gegangen wäre.
Aber in meiner Bubble war das anders. Als ich auf Ihrem Blog Erasmus Monitor unterwegs war und all die Leute wieder sah, die ich kannte, hat mich das erschüttert.
Vogel: Wie sind Sie auf den Blog aufmerksam geworden?
Krass: Der war damals durchaus bekannt. Ich hörte öfter von Leuten: „Hast du das auf Erasmus Monitor gelesen?“ – manchmal sogar mit dem Zusatz: „Er ist jemand, der etwas neutraler ist.“ Man hat mir auch Links geschickt.
Vogel: Wie darf ich das verstehen? Meiner Beobachtung nach hat der Blog durchaus polarisiert in der Szene.
Krass: Der Blog war nicht sensationsheischend. Es war nicht wie bei einem BILD-Artikel, der aus allem eine Riesennummer macht. Das, was Sie schrieben, mochte nicht jedem gefallen, und sicher hatten Sie auch Ihre Hater. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie eine politische Agenda verfolgten.
Vogel: Sie haben sich also erst spät intensiver mit Ihren ehemaligen Weggefährten in der Szene auseinandergesetzt?
Krass: Ja. Das war vorher gar nicht so. Mit einigen hatte ich damals eigentlich ganz nette Abende zusammen verbracht. Ich kannte diese Leute ja persönlich. Sie waren bei uns in der Szene und haben bei vielem mitgemacht.
Weiter zu Kapitel 8: „Ich versuche mit dieser Schuld umzugehen“