Kapitel 6: „Hast du dir mal angehört, was diese Prediger sagen?“

Ehemalige TikTok-Seite der DMG Braunschweig (Quelle: archivierter Screenshot)
 

„Ich habe das damals noch nicht so kritisch hinterfragt“

Vogel: Herr Krass, warum sind Sie nach Ihrer Rückkehr aus Marokko trotz dessen, dass Sie – wie gerade erwähnt – schon viel früher Zweifel an der Szene hatten, zur inzwischen verbotenen Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) in Braunschweig gegangen und waren so lange dort aktiv?

Krass: Die DMG kam auf mich zu und hat mich eingeladen. Der Leiter damals von der DMG, Abdul Haqq, ist ein grundsympathischer und lieber Typ.

E. Krass: Ja, tatsächlich. Das haben wir beide so wahrgenommen.

Krass: Ein absolut lieber Mensch. Das waren die Leute, die uns zum Beispiel dabei halfen, eine neue Wohnung in Hannover zu finden. Unsere jetzige Wohnung war vorher ein Büro und musste komplett umgebaut werden. Abdul Haqq hat damals ein Projekt auf die Beine gestellt, das er „Umzug Marcel Krass“ nannte. Innerhalb von zwei Wochen stand ein ganzes Helferteam bereit. So waren die Leute der DMG auf der menschlichen Ebene.

Das war einer der Beweggründe, zur DMG zu gehen. Der zweite Grund war: Es war genau das Publikum, das ich erreichen wollte, um Impulse zum Nachdenken zu setzen. Ich selbst hatte gemerkt: Irgendetwas stimmt nicht. Einer meiner ersten Vorträge dort war 2019 zum Thema Meinungsverschiedenheiten. Schon damals habe ich Themen angesprochen, die auch salafikritisch waren – besonders der Umgang mit anderen Muslimen.

Hinzu kam, dass ich 2020 den Wunsch hatte, eine Serie über den Koran zu machen. Die erneute intensive Beschäftigung damit in den Jahren 2011/2012 hatte mich sehr verändert, und ich wollte das weitergeben. Die DMG sagte sofort: „Mach das doch bei uns in der Moschee. Wir haben Mikrofone, Kameras – alles da. Wir nehmen das auf.“ So hat sich das ergeben. Ich habe das damals noch nicht so kritisch hinterfragt.

Vogel: Gab es damals bereits nicht schon kritische Stimmen, die Sie und Ihren Auftritt dort hinterfragten?

Krass: Es war im Großen und Ganzen noch akzeptabel. Besonders die Koranserie wurde innerhalb der Moschee durchaus geschätzt. Ich habe dort immer wieder Akzente gesetzt – vor allem bei theologischen Fragen –, aber sehr indirekt. Ich habe es bei der DMG nie so konfrontativ gemacht wie später. Ich habe Perspektiven eingebaut, aber rein sachlich, ohne zu sagen: „Seht her, die Salafis sind so und so.“ Dieser Mittelweg wurde dort akzeptiert.

Vogel: Es ist aber bemerkenswert, dass gerade takfiristische Salafisten eine gewisse Feinsensorik besitzen und schon damals Ihre ideologische Umorientierung erkannten – trotz aller Sachlichkeit. In einschlägig bekannten Telegram-Kanälen tauchten früh kritische Beiträge zu Ihnen auf.

Krass: Das stimmt. Sie waren die Ersten, die sagten: „Irgendwas stimmt bei dem Typen nicht.“ Sie hatten diesen Alarmdetektor, der signalisierte: „Krass geht auf Abwege.“ Bei den meisten anderen war das noch nicht so – vermutlich, weil ich eine gewisse Reputation hatte.

Ich war zehn Jahre lang dabei, unterwegs mit den „Besten“. Ich habe Kundgebungen für Sven Lau gemacht. Ich war kein Neuling, der nach zwei Jahren etwas Ungewöhnliches sagt – ich war seit 2007 mit Vorträgen aktiv, schon bei der DWR. Ich gehörte zu den Ersten. Pierre Vogel begann 2005 – also fast ein Urgestein. Wenn einer wie ich dann zwölf Jahre später etwas sagt, das merkwürdig wirkt, geht das eher unter.

Anfangs habe ich es sogar positiv gesehen: Das sind die Leute, die ich erreichen will – warum sollte ich ihnen nicht etwas Gutes mitgeben? 2018/19 hatte ich nicht auf dem Schirm, wie viele aus der Szene, mit denen ich zu tun hatte – darunter Abu Walaa –, im IS verstrickt waren. Erst später wuchs meine innere Abwehr, bis ich dachte: „Du musst da raus.“ Das führte 2021 schließlich zum Bruch mit der DMG.

„Wenn ich in eine Moschee gehe – egal welcher Richtung –, halte ich mich an gewisse Regeln.“

Vogel: Sie hatten in einem Vorgespräch auch erwähnt, dass Ihnen die Vorträge in Braunschweig nicht mehr zugesagt hätten.

Krass: Braunschweig war lange durch Prediger wie Abu Raumaisa, Pierre Vogel und Abul Baraa geprägt. Ständig kamen neue Leute hinzu. Wir sprachen den Vorsitzenden der DMG darauf an: „Hast du dir mal angehört, was diese Prediger sagen?“ Er stellte sich jedoch demonstrativ hinter sie: „Wir stehen zu ihnen, weil sie Gutes tun. Sie erreichen die Jugend und holen sie von der Straße.“

Auch mich verteidigte er lange Zeit. Aber 2023, nachdem ich eine Sufi-Gemeinde besucht hatte, hagelte es Kritik – in Braunschweig und Hannover: „Wie kann man dort einen Vortrag halten?“

Vogel: Bei welcher Sufi-Gemeinde war das?

Krass: Es war die Osmanische Herberge in Kall-Sötenich.

Vogel: Das spricht durchaus für eine tolerante Einstellung gegenüber anderen Strömungen – auch wenn sich Ihre Glaubenspraxis von der der Sufis deutlich unterscheidet.

Krass: Es sind dennoch Muslime. Ich habe auch mit denen persönlich gesprochen und natürlich hat man auch verschiedene Ansichten, was das eine oder andere in der religiösen Praxis betrifft. Ich habe meinen Vortrag gehalten, wir haben zusammen gegessen und dann habe ich gesagt: „Okay, für heute ist gut gewesen, ich gehe ins Hotel.“

E. Krass: Niemand war böse, dass er sich abends zurückgezogen hat.

Krass: Nein. Ich war Gast und habe mich entsprechend verhalten. Jemand schrieb mir vorher: „Nutz die Gelegenheit und schieß gegen die Leute.“ Ich dachte: „Ernsthaft? Ich bin Gast!“

Wenn ich in eine Moschee gehe – egal welcher Richtung –, halte ich mich an gewisse Regeln. Wir laden auch mal einen Ashʿari ein, der kritisch zu bestimmten Dingen steht. Ich erwarte, dass er diese Themen außen vorlässt. Ich mache in einer Moschee mit anderer Glaubensrichtung keine Werbung für meine. Wir haben eine riesige Religion – über unzählige Themen kann man sprechen, ohne Streit zu provozieren, und den Leuten trotzdem etwas mitgeben.

Vogel: Der Vortrag bei der Sufi-Gemeinde war also ein erstes Vorbeben?

Krass: Ja. Für Salafis sind Sufis ein rotes Tuch. 2024 kam der Podcast. Danach schrieb mir jemand aus Braunschweig: „Unsere Prediger sind bereit, dir deine Fehler zu erklären.“ Meine Antwort: „Für ein normales Gespräch gern. Aber nicht, wenn es nur darum geht, mir meine Fehler vorzuhalten. Frag mich, warum ich etwas so sehe – ich erkläre es. Und du erklärst deine Sicht. Aber so? Nein, danke.“

Vogel: Sie sind also ausgeschert und sollten wieder eingefangen werden.

Krass: Wie bei der Inquisition: „Gestehe – oder es droht der Scheiterhaufen.“

E. Krass: Pierre Vogel schrieb emotional von „Krieg“.

Vogel: Gruppendruck wie in einer Sekte?

Krass: Ja. Er nahm es persönlich, fast wie eine Kriegserklärung.

Vogel: Worin genau?

E. Krass: Marcel hat ihn einmal namentlich erwähnt – das reichte.

Krass: Er soll gesagt haben: „Marcel war lange mit uns. Wenn er jetzt öffentlich so redet, fällt das auch auf uns zurück.“ Wenn ich sage: „Früher habe ich so und so gedacht – absolute Wahrheit, alle anderen liegen falsch“ – dann sehen die das nicht nur als meine Vergangenheit, sondern als Angriff auf ihre Gegenwart an. Deshalb hat er sich berufen gefühlt, sich zu äußern. Das empfand das offenbar als direkten Angriff auf ihn.

Vogel: Sie sprachen von Bandenmentalität.

Krass: Ja, aber „Sekte“ trifft es besser. Statt zu fragen: „Wie denkt er heute?“, kommt sofort: „Bekenne dich, sonst bist du raus.“

Pierre Vogel„Ich habe keine Leute radikalisiert“ (Quelle: YouTube) 
 

Vogel: Hatten Sie, Frau Krass, schon vor Ihrem Mann Zweifel an Ihrem Weg gehabt?

E. Krass: Ich habe das alles früher durchaus mitgetragen oder mitgemacht. Ich habe die Ideologie aber nicht wirklich gefühlt. Ich bin von meinem Wesen eigentlich anders. Ich bin eigentlich ein offener Mensch. Es war sehr einengend.

Allerdings bin ich argumentativ nie dagegen angekommen. Wenn wir mal darüber geredet haben, hatte Marcel meistens die besseren Argumente. Mir haben sie gefehlt, um zu sagen: „Vielleicht muss man das nicht so streng sehen.“ Ich habe eher auf der Gefühlsebene argumentiert – und da redete man bei ihm gegen eine Wand.

Krass: Wenn sie gesagt hat, sie hatte so ein Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt –
damit erreicht man mich nicht. Das funktioniert bei mir nur auf rationaler Ebene. Sie leidet manchmal darunter, dass sie einen rhetorisch starken Ehemann hat.

E. Krass: Absolut. Da komme ich nicht gegen an.

Vogel: Auch wenn Sie nicht so wirken, als stünden Sie rhetorisch ungleich.

E. Krass: Ich bin das vielleicht jetzt, aber nicht immer.

Krass: Ich könnte sie wahrscheinlich „rhetorisch niederringen“, weil ich Erfahrungen habe, nicht nur durch Vorträge, sondern weil ich seit 20 Jahren an Diskussionen beteiligt bin. Und ich habe das größere islamische Wissen – da kann sie gar nicht dagegenhalten.

In Auseinandersetzungen, besonders mit Missionaren oder anderen Religionen, hat man irgendwann einen Fokus darauf, Schwachstellen in den Aussagen des anderen zu entdecken. Man achtet automatisch auf Widersprüche.

Das bringt einem persönlich Vorteile – aber in einer Ehe ist das nicht immer gut. Denn in einer Ehe sind zwei Menschen auf Augenhöhe. Wenn ich jemanden rhetorisch „besiege“, ist das vielleicht ein persönlicher Erfolg, aber wenn mein Gegenüber merkt: „Ich spüre, hier stimmt was nicht, aber ich kann es nicht ausdrücken“, dann bringt das der Beziehung nichts.  

„Wie eine Frau zu sein hat – das ist bei diesen Predigten so präsent.“

E. Krass: Und was wichtig ist: Wenn man in dieser Bubble steckt, kriegt man das immer mit – selbst wenn man sich nicht ständig Vorträge anhört. Man kriegt mit, wie man sich als Frau zu verhalten hat, wie man zu leben hat, wie Geschlechtertrennung auszusehen hat. Wie eine Frau zu sein hat – das ist bei diesen Predigten so präsent.

Und dann ist im Hinterkopf immer dieses: „Vielleicht haben die ja doch recht? Vielleicht liege ich falsch?“ Diese Selbstzweifel spielen eine Rolle. Weil du denkst: „Die sagen das doch alle!“ Auch wenn es gar nicht alle sind – man weiß es einfach nicht besser.

Vogel: Diese Regeln galten bei Ihnen früher auch? Oder wurden zwischen Ihnen Konzessionen gemacht?

Krass: In den ersten Jahren war es durchaus so. Zumindest gedeckte Farben, Mantel und sowas.

E. Krass: Ich habe auch Abaya (klassisches Überkleid einer Frau) und sowas getragen. Ich bin aber immer rausgegangen. Ich habe ihn nie darum um Erlaubnis gefragt. Es war immer nur: „Ich geh dahin“, oder: „Brauchst du das Auto?“, oder: „Kann ich das Auto haben?“ Aber ich habe mich geweigert, ihn zu fragen, ob ich irgendwohin darf.

Krass: Das ist auch so ein Ding: „Die Frau verlässt das Haus nur mit Erlaubnis oder in Begleitung“.

E. Krass: Da könnte ich schreien. Das habe ich nie mitgemacht.

Krass: Ich hätte das auch gar nicht gewollt. Ich hätte das erstens komisch gefunden. Und zweitens hatte ich meinen eigenen Kram und hätte gar nicht die Zeit gehabt, mich darum zu kümmern.

E. Krass: Ich habe mich um die Kinder gekümmert, eingekauft, Haushalt gemacht – da frage ich ihn doch nicht, ob ich einkaufen gehen darf?

Vogel: Das ist nicht alltagstauglich.

E. Krass: Ja. Ich kenne aber auch Geschwister, das war irre: Da lebte ein Mann in Deutschland, die Frau war im Ausland, und sie fragte ihren Mann, ob sie irgendwohin durfte. Ich stand fassungslos da und fragte: „Geht’s noch?“

Krass: Es wirkt auch komisch.

E. Krass: Das wirkt auf mich wie gespielt, aufgesetzt und affektiert, wenn ich Schwestern höre, die sagen: „Ich frage meinen Mann, ob ich dorthin gehen darf“. Ich sage dagegen: „Ich sage meinem Mann Bescheid, dass ich dorthin gehe.“ Wenn er was dagegen hat, wird er mir das schon sagen. Aber warum überhaupt? Ich bin doch erwachsen. Ich weiß, wo ich mich sicher bewegen kann. Dass ich um ein Uhr nachts in Hannover nicht allein am Bahnhof herumrenne, versteht sich doch von selbst – wenn ich das nicht muss.

Krass: Das sind Dinge, die aus einem historischen Kontext erklärbar sind – und heute einfach komisch wirken.

Vogel: Hätten Sie dafür nicht auch Kritik einstecken müssen, wenn jemand gemerkt hätte, dass Sie, Frau Krass, einfach so rausgehen?

Krass: Nicht jeder in der Szene handhabt das so streng. Außerdem ist sie meine Frau – das schützt vor direkter Kritik.

E. Krass: Ja, meist höre ich nur indirekt davon.

Vogel: Konnten Sie beide trotz der Restriktionen von außen offen über kritische Themen sprechen? Sie lernten sich ja bereits sehr früh kennen, noch bevor Sie beide konvertiert sind.

E. Krass: Ja. Marcel ist zu Hause kein Prediger.

Der klassische Slogan war: „Liebe kommt danach.“

Krass: Bei anderen Predigern ist es oft so: Da heiratet eine Frau nicht irgendeinen Mann, sondern den Prediger XYZ. Das ist eine ganz andere Ebene. Wir waren lange einfach nur Mann und Frau. 2007 ging das bei mir mit dem Predigen los.

Vogel: Ihre Beziehung lässt sich also anders beschreiben als viele in der Szene? Viele lassen sich ja vermitteln. Auf Telegram gibt es beispielsweise Ehebörsen, in denen detaillierte Annoncen veröffentlicht werden. Dann gibt es immer wieder auch Berichte über Übergriffe in der Ehe, Missbrauchsfälle, Heiratsschwindler usw.

Krass: Ja. Leider ist das Thema Ehe in der Szene eine Katastrophe.

Vogel: Spielt das Thema Liebe eine Rolle?

Krass: Das weiß ich nicht. Der klassische Slogan war: „Liebe kommt danach.“
Den habe ich schon von einigen Prediger gehört. Das ist schlimm.

E. Krass: Oder solche Ratschläge, wenn Eheprobleme angesprochen werden: „Ja, dann nimm‘ dir eine zweite Ehefrau!“ Aber das kann doch nicht die Lösung sein! Wenn ich mit meiner ersten Frau nicht klarkomme – wie soll ich dann mit der zweiten klarkommen?

Vogel: Weil der Islam eine respektvolle Behandlung der Ehefrau voraussetzt?

E. Krass: Ja, eben. Das wird gerne ausgeblendet. Es wird ja immer gesagt: „Ja, der Mann darf vier Frauen haben.“ Ja, aber er muss nicht!

Krass: Ehe ist – nicht nur in unserer Religion – die Gründung einer Familie. Mann und Frau kommen zusammen und gründen gemeinsam eine Familie. Das ist die Idee. Aber was du manchmal erlebst, ist: Es wirkt, als sei die Frau nur dazu da, die Gelüste des Mannes zu befriedigen.

Wenn jemand sagt: „Ich habe Eheprobleme“, und die Antwort ist: „Heirate eine zweite Frau“ – dann frage ich mich: Warum soll ich eine neue Familie gründen, wenn die erste gerade nicht funktioniert? Das ist nicht die Idee der Ehe. Die zweite Frau ist dann nicht mehr zur Gründung einer zweiten Familie, sondern nur dafür da, irgendwas zu kompensieren. Ehe bedeutet Familiengründung. Und das wird komplett ausgeblendet.

Wenn du das nur so formulierst– dass Ehe Familiengründung ist – würden sich viele dieser "Ratschläge" von selbst erledigen. Wenn jemand sagt, er habe ein Problem mit seiner Frau, und du dann entgegnest: „Gründe eine zweite Familie“, wirst du nicht sagen. „Heirate eine zweite Frau“, das ist viel einfacher zu sagen. Weil das Thema Familie dann nicht mitschwingt.

Das ist eines der Riesenprobleme in der Szene allgemein. Ich könnte Ihnen unendlich viele Geschichten von Zweit- und Drittfrauen erzählen, von Eheschließungen auf Parkplätzen. Das ist eine Besonderheit an der Szene.

Vogel: Es wird hin und wieder kolportiert, dass viele, auch Prediger, von sozialen Leistungen leben. Das Thema Finanzen spielt demnach auch eine Rolle. Ist es dann nicht ein zusätzlicher Widerspruch, dass sich manche, die ihre erste Ehefrau schon nicht selbst unterhalten können, dann auch noch eine zweite Frau heiraten?

E. Krass: Das kommt nicht an. Teilweise sind sie intellektuell nicht in der Lage, das zu reflektieren.

Krass: Ich glaube, es steckt nur ein einziger Gedanke dahinter: Das Thema „Zweitfrau“ hat in der Szene einen gewissen Reiz. Jetzt kannst du es sogar „legal“ machen – religiös begründen, rechtfertigen, als Sunna darstellen. Das rechtfertigt für viele alles. Manche finden das regelrecht „schön“.

Es gibt einige Prediger, für die Zweit- und Drittfrauen völlig normal sind. Heiraten und Scheiden im Minutentakt. Bei einer Umrah-Reise (islamische Pilgerfahrt nach Mekka) gab es mal einen Prediger, der auf eine Frau zeigte und zu einem Teilnehmer sagte: „Mit der war ich mal verheiratet. Für mich war die nix, aber vielleicht passt sie zu dir.“

Vogel: Das erinnert ein bisschen an einen Marktplatz?

E. Krass: Ein Herumreichen, ja.

Krass: Sozusagen. Ich frage mich, wie ein Mann hier in Deutschland sich praktisch um zwei Haushalte kümmern will. Dafür brauchst du Geld. Ich habe mal gesagt: „Das ist vielleicht was für einen erfolgreichen Unternehmer oder einen Piloten. Ansonsten?“ Der Wunsch ist dann: „Die zweite Frau soll am besten selbst arbeiten – Jackpot. Oder sie lebt von Stütze. Sowas irres.

Ich sag' mal so: Wenn es im Koran eine Sache gibt, die klar formuliert ist – der Mann ist Versorger des Haushalts.

Vogel: So wird das von Ihnen gesehen. Aber in der Szene trifft das oft nicht zu. Viele werden alimentiert.

Krass: Und dann will jemand, der nicht mal für eine Frau sorgen kann, noch eine zweite?

E. Krass: Also am Anfang unserer Ehe habe ich auch nur das Geld verdient. Ich hatte eine Ausbildung gemacht und gearbeitet, Marcel hat noch studiert – bis unser ältester Sohn 2001 geboren wurde – danach nicht mehr.

Krass: Ja, das ist richtig. Wie Sie merken – wir haben einfach einen anderen kulturellen Hintergrund.

 

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