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Abzeichnende Krise? Marcel Krass im Jahr 2013 (Quelle: Deen Akademie) |
„Man kann oft nicht beurteilen, ob jemand ernsthaft aussteigt oder nur aus opportunistischen Motiven.“
Vogel: Herr Krass, lassen Sie mich eine direkte Frage zur Gegenwart stellen: Fühlen Sie sich noch dem Salafismus zugehörig?
Krass: Nein, überhaupt nicht. Ich fühle mich dort nicht mehr zu Hause.
Vogel: Sie werden aber heute noch in der Öffentlichkeit als „Hassprediger“ bezeichnet. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Krass: Das finde ich nicht überraschend. Wenn ich 15 Jahre in der Szene unterwegs war, ergibt sich das von selbst. Darüber hinaus spielt vielleicht auch eine Rolle, dass es mehr und mehr sogenannte „Aussteiger“ gibt, die gar keine sind. Man kann oft nicht beurteilen, ob jemand ernsthaft aussteigt oder nur aus opportunistischen Motiven.
Das wird mir auch von einigen in der Szene vorgeworfen: „Ach, der hat Stress mit den Behörden oder möchte es einfach ruhiger angehen lassen. Er fühlt sich aber noch zu uns hingezogen und distanziert sich nur, damit er in Ruhe gelassen wird und die Presse nicht mehr so viel Druck macht.“ Das dürfte der Grund sein, warum viele gegenüber „Aussteigern“ vorsichtig geworden sind.
Vogel: Wurden Sie denn von Behörden oder der Justiz unter Druck gesetzt?
Krass: Durchaus. Was heißt aber „Druck ausüben“? Es hängt davon ab, wie man es empfindet. Wenn du es dir zum Beispiel im Hartz-IV-Bezug gemütlich gemacht hast, empfindest du das vielleicht nicht so. Du hast dein Leben, 24 Stunden Zeit und machst dein Dawa-Ding.
Ich war nie so jemand. Ich hätte es immer als unangenehm empfunden, mein Leben danach auszurichten. Deswegen stand ich unter Druck – klar. Aber das empfindet jeder unterschiedlich. Manche juckt es nicht, andere belastet es. Dazu kommt, wie Familie, Ehefrau, Schwiegereltern, Großeltern usw. damit umgehen.
Meine Familie sind deutsche Nichtmuslime. Wenn ich ein ägyptischer Prediger wäre, würde das meine Familie vermutlich kaum stören, was in der Zeitung steht. Bei mir war Druck auf jeden Fall da.
Vogel: Sie meinten in einem Vorgespräch, dass kritische Berichterstattung früher für Sie und andere quasi ein Ritterschlag war, was das Schwarz-Weiß-Denken sogar noch bestärkt hätte.
Krass: Ja, so war das. „Die Wahrheit wird immer bekämpft“ – so lautete das Narrativ. Wenn man dem Weg des Propheten und seiner Gefährten folgt, wird man bekämpft. Entsprechende Koranverse hatte man parat: „Die Juden und Christen sind nicht zufrieden mit dir, bis du ihrem Bekenntnis folgst. Sie werden niemals aufhören, dich zu bekämpfen, bis du zu ihrer Religion zurückkehrst.“
Man fühlte sich bestätigt, auf dem „Weg der Wahrheit“ zu sein – selbst bei negativer Berichterstattung. Wenn man nicht bekämpft wurde, gab es laut Szene nur zwei Erklärungen: Entweder man sei zu unbedeutend oder man rufe insgeheim zum Batil (ungültige Handlung) auf. Ich sehe das heute anders, aber so war das Narrativ: „Bist du auf dem Weg der Wahrheit, gehörst zur erretteten Gruppe und rufst zur Sunna (Handlungsweise des Propheten) auf, wirst du bekämpft – sonst stimmt etwas nicht.“
Vogel: Also eine Art selbsterfüllende Prophezeiung.
Krass: Sie sagen es richtig: eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn man dieses Narrativ heraufbeschwört, wie etwa „Die Juden und Christen sind niemals zufrieden mit dir“, wird diese Einstellung zum Selbstläufer. Glaubt man das wirklich, führt man automatisch ein Leben, das andere ablehnen.
Vogel: Eine Verstetigung des eigenen Schwarz-Weiß-Denkens.
Krass: Ja, definitiv. Es wird pauschal gesagt und dann oft wieder relativiert. Wenn eine Moschee geschlossen wird, heißt es: „Die Juden und Christen werden niemals mit dir zufrieden sein.“ Andererseits wird auch gesagt, dass einige Deutsche aufgeschlossen und interessiert seien. Das Narrativ wird also abgeschwächt – was zu einem Wirrwarr aus Pauschalisierungen führt. Staat, Behörden, Politik und Medien bleiben jedoch stets Feindbilder.
Vogel: Der Druck von Behörden, Medien und Gesellschaft auf Sie hat aber eher belastet, als dass er Sie innerlich bestärkt hätte?
Krass: Letzteres bei mir auf keinen Fall. Ich habe es unmittelbar bei meiner Frau gesehen. Meine Kinder waren weniger betroffen.
Vogel: Keine Probleme, zum Beispiel in der Schule?
Krass: Nein. Teenager. Wenn mal ein Freund herausfand, dass ihr Vater ein salafistischer „Hassprediger“ sei, fanden sie das eher cool. 2019 hatte ich eine zweite Razzia, weil man mir vorwarf, bei Ansaar International involviert gewesen zu sein. Das stellte sich zwar als falsch heraus, aber meine Kinder waren begeistert: „Papa, darf ich das in der Schule erzählen?“ Ich sagte: „Bloß nicht.“
Sie nahmen es locker. Sie haben normale Freunde, spielen Basketball und Volleyball. Die meisten Vorbehalte erledigten sich schnell.
Meine Frau ist anders – sie leidet unter der Berichterstattung oder wenn die Polizei vor der Tür steht. Das ist eine diffuse Angst, aber auf realen Erfahrungen beruhend. Auch meine Eltern machten sich Sorgen.
„Es hilft nicht, wenn aus einem Gangster in Lederjacke ein Gangster im saudischen Gewand wird.“
Vogel: Spielte Ihre Familie bei der Entscheidung, sich von der Szene zu lösen, eine Rolle?
Krass: Ja, klar. Andere Prediger juckt das vielleicht nicht. Manche stammen aus schwierigen Verhältnissen oder von der Straße, bevor sie in Strukturen kamen. Sie leben nach dem Motto: „Fressen oder gefressen werden.“
Ich komme aus einer normalen Familie – wie meine Frau. Heute würde ich eine Sozialisierung auf der Straße oder im kriminellen Milieu als Ausschlusskriterium sehen, wenn jemand den Islam öffentlich repräsentieren will. Es hilft nicht, wenn aus einem Gangster in Lederjacke ein Gangster im saudischen Gewand wird.
Vogel: Gab es in Ihrer Familie aktiv geäußerte Zweifel, die Sie zum Umdenken brachten?
Krass: Ja, das spielte in der Familie schon länger eine Rolle. Es war ein langer Prozess, der vor zehn Jahren seinen Anfang nahm. Meine Frau hat unter der strengen Auslegung der Religion sehr gelitten – etwa unter dem peniblen Achten auf Geschlechtertrennung. In der Szene gilt: Nur schwarze Kleidung von Kopf bis Fuß schützt vor Kritik. Jede Abweichung kann bereits Ärger einbringen. Ich sehe heute noch Postings von Predigern: „Eine Frau darf keinen Gürtel tragen.“ Ein langes Kleid mit einem Ziergürtel – wie man ihn manchmal trägt – gilt schon als zu viel.
In unserer Moschee in Hannover gab es einmal Diskussionen, weil eine Schwester, die Niqab und Handschuhe trug, im Winter eine Jacke über ihr Kleid ziehen wollte. Man sagte, das dürfe sie nicht, da es die Schultern betone. Ich dachte nur: „Was ist das für ein Film?“
Auch Reisebeschränkungen spielten bei uns eine Rolle. Als wir in Marokko lebten, wollte meine Frau ihre enge Freundin in Casablanca besuchen – 200 Kilometer entfernt. Formal „zu weit“ für eine Frau allein. Wir litten beide darunter.
Marokko hat meinen Horizont erweitert. Ich begann, Meinungen zu akzeptieren, die ich früher strikt abgelehnt hätte – etwa Geburtstagsgrüße. Ich habe meiner Mutter einmal am Geburtstag nicht gratuliert, weil „es nicht erlaubt“ sei. Sie war am Boden zerstört. Das hat mich tief getroffen und zum Nachdenken gebracht.
Solche Regeln belasten besonders Frauen. Meine Frau hat darunter elendig gelitten. Der historische Kontext erklärt manches: Im siebten Jahrhundert ließ kein vernünftiger Mensch seine Frau oder Tochter allein durch die gefährliche Wüste reisen – das wäre heute, als würde man nachts um zwei Uhr hinterm Hauptbahnhof stehen. Es war eine pragmatische, keine rein religiöse Regel.
Viele Gelehrte – das ist nicht mein „selfmade fiqh“ (Rechtsprechung) – sagen, dass eine allein reisende Frau heutzutage bei sicheren Bedingungen kein Problem ist. Deshalb habe ich das später lockerer gesehen. So konnte meine Frau ihre Freundin besuchen. Wer den Kontakt zu engen Freunden verliert, verliert auch persönliche Bindung – solche Regeln können das Leben enorm erschweren.
All das hat dazu beigetragen, dass diese Strenge für mich kein Kriterium für „Wahrheit“ mehr war. Natürlich kann man sich die Religion nicht nur nach den „schönsten“ Meinungen aussuchen. Aber ich glaube, der Islam ist lebensbejahend und praktikabel. Wenn er es für jemanden nicht ist, wurde ihm vielleicht ein anderes Bild vermittelt – heute oft über Social Media.
Das salafistische Denken funktioniert bei Jugendlichen gut, weil sie meist noch nicht fest im Leben stehen. Wer wie ich arbeitet, eine Familie hat, merkt schnell, dass viele Regeln schwer umsetzbar sind. In der Sturm-und-Drang-Phase der Jugend gibt es diese Kollisionen noch kaum.
Vogel: Wobei das nicht nur mit dem Alter oder einem Einstellungswandel zu tun hat. Sie waren noch im mittleren Alter aktiv in der Szene.
Krass: Ja. Bei mir gibt es aber eine spezielle Geschichte, was mich an der Szene angezogen hat. Hier spreche ich über die Salafisten-Szene als Jugendbewegung. Das war übrigens auch Teil unserer Kritik an den „IS“-Leuten: Da gehen ja nur die Jugendlichen und Jungspunde hin. Welcher gestandene 45-jährige Mensch sagt: „Wow, das ist das richtige Kalifat, da gehen wir hin“. Das macht doch keiner. Es war doch komisch, dass nur jugendliche Hitzköpfe dorthin gegangen sind? Generell aber ist die Salafi-Bewegung schon mehrheitlich attraktiv für Jugendliche.
„Ich frage mich, ob die Leute das wirklich in ihrem Privatleben alles so ausleben, wie das online rüberkommt.“
Vogel: Weil die Jugendlichen nicht nur nach Sinnstiftung suchen, sondern auch nach einem Reglement, nach dem sie sich irgendwie orientieren können?
Krass: Oder auch nach Aufwertung.
Vogel: Auch nach Autorität?
Krass: Suchen Jugendliche nach Autoritären?
Vogel: Das weiß ich eben nicht. Aber es gibt offenkundig manche Jugendliche, die sich vom Autoritären angezogen fühlen.
Krass: Das Reglement hat schon eine gewisse Anziehungskraft, zumindest gibt sie eine Klarheit.
Vogel: Struktur?
Krass: Ja, eigentlich eine simple Angelegenheit. Du hast irgendeine x-beliebige Frage. Zum Beispiel: „Darf ich Wasser mit Himbeergeschmack trinken?“ Du gibst das auf TikTok ein und irgendjemand hat eine Zwölf-Sekunden-Antwort darauf. „Hey, jetzt weißt du, was Allah will, das ist die einzige Wahrheit usw.“ Das ist schon simpel.
Vogel: Auch wenn solche „simplen“ Fragen, wie Sie diese zuvor beschrieben haben, eine ungeheure Belastung darstellen können. Die Sezierung oder Sequenzierung des eigenen Lebens in jede Handlung, in jeden Schritt, den man überhaupt macht, die immer mit dem Islam in Einklang stehen muss.
Krass: Ich frage mich, ob die Leute das wirklich in ihrem Privatleben alles so ausleben, wie das online rüberkommt. Ich kann es mir manchmal einfach nicht vorstellen. Aber ich glaube, diese permanente Drucksituation ist zum großen Teil für dieses „Salafi-Burnout-Syndrom“ verantwortlich, das besonders im englischsprachigen Raum bekannt ist und sich hier auch zunehmend bemerkbar macht.
Zwei Dinge spielen dafür eine Rolle: erstens die starke Reglementierung und zweitens die spirituelle Oberflächlichkeit. Du wirst deinem Schöpfer nicht näherkommen und dein Herz findet keine Ruhe im Gebet, wenn sich die ganze Religion darum dreht, jemanden anderen zu widerlegen, wer alles falsch und wer die einzig wahre Gruppe sei usw. Das ernährt nicht deine Seele. Diese beiden Faktoren zusammengenommen sind dafür meines Erachtens dafür verantwortlich.
Vogel: Denn durch eine gewisse Freiheit entsteht erst der Raum, sich selbst zu erfinden, Ideen zu entwickeln, die ebenfalls mit der Religion in Einklang stehen. Aber wer erklärt diese Kompatibilität?
Krass: Wir haben und hatten in der Religion schon immer eine Vielfalt von Meinungen. In der Salafismus-Szene beschränkt sich das auf eine „richtige Meinung“. Das ist oftmals die strengste und alles andere ist Verrat, überspitzt formuliert. Aber so kommt es durchaus rüber.
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