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Marcel Krass und Pierre Vogel 2007 im Gespräch (Quelle: DWR) |
„Er war vorher Bandido-Mitglied – vielleicht verstand er sich deshalb so gut mit Pierre Vogel.“
Vogel: Herr Krass, Sie haben trotz der vielen eindrücklichen Ereignisse zuvor angefangen, multimedial als Prediger in Erscheinung zu treten.
Krass: Ja, das war Anfang 2004, 2005. Da habe ich mit Vorträgen über die Plattform Paltalk angefangen. Das war erstmal nur etwas zum Hören. Dort gab es digitale Räume, in denen jemand zu Leuten sprechen konnte – Diskussionen waren damals noch nicht möglich. Das änderte sich später, zum Beispiel mit Teamspeak oder deutlich später mit Discord.
Vogel: Sie sind dann aber als Prediger irgendwann bundesweit aufgefallen. Wie entstand der Kontakt mit anderen Predigern der Salafisten-Szene?
Krass: Es gab zwei Schnittstellen: Zum einen gab es Abul Hussain, also Hassan Dabbagh, in Leipzig. Er war einer der Ersten, die aktiv waren, und hat schon 1999/2000 Audios hochgeladen sowie Vorträge und Seminare in ganz Deutschland durchgeführt. Daran haben wir auch sporadisch teilgenommen.
Der Wendepunkt war 2007, als ich mit Pierre Vogel, Ibrahim Abou Nagie und deren Projekt „Die Wahre Religion“ (DWR) in Kontakt kam. Das hatte damals gerade begonnen, und Pierre Vogel wurde sehr populär. Er hatte bereits eine Art Manager, ein Konvertit aus Münster, der ihn überallhin begleitete und mit dem Auto herumfuhr. Er filmte und schnitt auch seine Vorträge.
Damals kannten sich alle deutschen Konvertiten in einer Stadt und waren häufig befreundet, auch wenn der Begleiter von Vogel aus einer ganz anderen Szene kam. Er war vorher Bandido-Mitglied – vielleicht verstand er sich deshalb so gut mit Pierre Vogel. Die passten eigentlich gar nicht so in die Szene.
Wir saßen einmal gemeinsam im Auto: Der Konvertit aus Münster fuhr, Pierre Vogel saß neben ihm, ich auf der Rückbank – und die beiden erzählten sich alte Geschichten aus dem kriminellen Milieu. Mit meinem bürgerlichen Background war ich in dieser Situation erstmal völlig verstört. Das war schon schräg.
Vogel: Aber Pierre Vogel hat Sie dennoch auf gewisse Weise fasziniert?
Krass: Ja. Zum einen hatte ich ein Sendungsbewusstsein – ich wollte die Welt vom „wahren Islam“ überzeugen. Pierre Vogel war damals die größte Nummer in Deutschland, was die Dawa (Missionierung) anging. Menschen konvertierten oder fanden zurück zur Religion – und dann auch noch in die „richtige“ der 73 Gruppen. Vogel war für mich der Jackpot.
Ich habe ihn 2006 zum ersten Mal gesehen – die Geschichte nimmt er mir bis heute übel. 2007 hielt Pierre Vogel in Münster an einer Schule einen Vortrag. Ich bin mit meiner Frau hingegangen und hatte den monatelangen Hype um ihn mitbekommen, ohne ein einziges Video von ihm gesehen zu haben. Überall hörte ich: „Oh wow, da gibt es jemanden, bei dem alle konvertieren, er füllt alle Hallen, ist der erfolgreichste usw.“.
Als ich Vogel dann auf der Bühne sah, dachte ich nur: „Ernsthaft?“
Vogel: Was dachten Sie in dem Moment?
Krass: Seine joviale, wenig seriöse Art – schwer zu beschreiben. Mich hat es damals nicht angesprochen, ich hatte etwas anderes erwartet. Dennoch kamen wir in Kontakt. Auch meine Art kritisierten später einige – zu sachlich, trocken, seriös oder wie auch immer. Das ist Geschmackssache. Aber alle Jugendlichen, die ich kannte, schwärmten für Vogel.
Vogel: Wie kam es demnach zur Zusammenarbeit mit Vogel und Co.?
Krass: Im Sommer 2007 gab es irgendwo in NRW eine Veranstaltung mit Vorträgen von Pierre Vogel, Abou Nagie und den üblichen Leuten von DWR. Ich fuhr mit dem „Manager“ von Pierre Vogel dorthin.
Parallel gab es auf der Webseite von DWR einen Aufruf, dass man Geschichten von Konvertiten sammeln wolle. Ich dachte: „Ich bin konvertiert, also kann ich auch eine Geschichte erzählen.“
Auf der Veranstaltung kam Abou Nagie zu mir, drückte mir ein Mikrofon in die Hand, die Kamera lief – und ich sollte vor einer fürchterlichen Kulisse meine Geschichte erzählen, warum ich Muslim geworden war. Mein erstes Video aus dem Stegreif dauerte acht Minuten – und das beeindruckte Abou Nagie sehr, weil das nur wenige können.
Sich normal zu unterhalten ist nicht schwer, aber wenn die Kamera auf dich gerichtet ist, kann dich das verunsichern. Bei mir war das nicht so. Ich spreche so, wie ich mit Ihnen spreche – auch in Vorträgen und Videos, mit den typischen Handbewegungen. Ich habe nie Rhetorik gelernt, sondern bin einfach ich selbst.
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Marcel Krass im Alter von 31 Jahren (2007): Erster öffentlicher Auftritt (Quelle: DWR) |
Abou Nagie sah Potenzial in mir: „Aus dem können wir was machen.“ Kurz darauf schlug er vor: „Komm doch mit und halte auch Vorträge. Das wird gefilmt und kommt auf die Plattform der DWR.“
Das hat mir imponiert. DWR stellte damals die Republik auf den Kopf – und ich war auf der Plattform. Das war schon etwas. Noch im selben Jahr wurden meine ersten Vorträge aufgezeichnet. So bin ich da reingekommen.
Vogel: Sie wollten sich also an der Medienarbeit aktiv beteiligen?
Krass: Nicht Medienarbeit – Dawa-Arbeit! Hallo? Die Welt zur „Wahrheit“ führen!
Vogel: Natürlich, ich vergaß. Aber fühlten Sie sich selbst dazu berufen? Weil Sie es konnten? Weil Sie das notwendige Selbstbewusstsein dafür hatten?
Krass: Zum einen fühlte ich mich berufen. Das war eines der Hauptmotive, die mich bis heute begleiten. Ich habe oft überlegt, mich zurückzuziehen. Aber es gibt nicht viele, die so etwas mit Konstanz machen. Schon damals kamen und gingen Prediger.
Es war also nicht nur Berufung, sondern auch das Gefühl einer Verpflichtung. Pierre Vogel befeuerte dieses Narrativ: „Jeder muss Dawa machen.“ Das sehe ich heute anders. Nicht, dass man keine Dawa machen soll – aber die Verpflichtung mit der Drohung, dass man bei Unterlassung sündigt und zur Rechenschaft gezogen wird, teile ich nicht mehr. Damals spielte das aber eine große Rolle.
„Freundschaft? Schwierig.“
Vogel: Aber das Feedback war Ihnen wichtig. Wenn ein Abou Nagie damals von Ihnen beeindruckt war – gab es vielleicht auch den Effekt, dass jemand aus diesem Kreis eine spirituelle oder gar väterliche Figur für Sie spielte?
Krass: Nein. Die Bruderschaft war ein wichtiger Aspekt, aber es gibt Personen in der Szene, mit denen man kaum Freundschaft schließen kann. Sie leben in ihrem eigenen Universum, und ein vernünftiges Wort mit ihnen zu wechseln, ist nicht möglich.
Vogel: Waren Sie zum Beispiel mit Pierre Vogel befreundet?
Krass: Jein. Wir haben an Projekten gearbeitet und viel Kontakt gehabt. Freundschaft? Schwierig. Für mich bedeutet Freundschaft, mit Freunden mal ins Schwimmbad oder Fitnessstudio zu gehen oder gemeinsam essen zu gehen. Auf die Idee kam ich bei ihm nie – für ihn gab es nur die Dawa. Bei Veranstaltungen mied er meist Einladungen zum Essen.
Vogel: Wie war ihr Verhältnis zu den anderen Predigern?
Krass: Ich bin mit niemandem auf persönlicher Ebene warm geworden. Einige aus dem Umfeld bestimmter Prediger kamen aus dem kriminellen Milieu oder waren in Bereichen tätig, die mit meinen Glaubensgrundsätzen unvereinbar waren. Mit dem Straßengehabe, das die deutsche Prediger-Szene prägt, konnte ich nichts anfangen.
Im englischsprachigen Raum findet man beides: intellektuellere wie Yasir Qadhi oder Omar Suleiman (zwei US-amerikanische Prediger), aber auch Straßenmentalität. In Deutschland ist Letzteres prägnanter. Ich fühlte mich wie ein Außenseiter. Das zeigte sich auch in meinen Vorträgen – mich störten oft die Unsachlichkeit und Emotionalität der anderen. Inhaltlich waren manche Vorträge leer oder irreführend.
Man war also durch Dawa und Manhadsch (richtiger Weg) miteinander verbunden, aber persönlich wurde man nicht warm.
Vogel: Also handelt es sich bei der öffentlichen Inszenierung der Prediger als „Freunde“ viel mehr um ein kalkulierendes und strategisches Vorgehen?
Krass: Ja, aber ob das bei den anderen genauso war, weiß ich nicht. Die kamen teils aus der gleichen Gegend – das kann ich nicht beurteilen.
Vogel: Lagen die Unterschiede vielleicht auch im Bildungshintergrund?
Krass: Vielleicht. Ich habe zwar keine islamische Theologie studiert, aber im Ingenieurstudium lernt man Empirie und vor allem Problemlösung. Lösungen für Jugendliche boten die Prediger nicht wirklich.
Vogel: Wie sah es mit den islamwissenschaftlichen Qualifikationen aus? Spielte das eine Rolle?
Krass: Ich hatte keine islamische Qualifikation. Das spielte keine große Rolle – das Narrativ lautete: „Jeder muss Dawa machen.“ Das Credo war: „Das Einzige, was du brauchst, ist, Kurse der Prediger zu besuchen. In zweieinhalb Stunden hast du alle Argumente, gehst auf die Straße und machst Dawa.“ Das reichte aus.
Vogel: Das stellte also einen Bruch mit den traditionellen Verhältnissen in den etablierten Moscheen dar, der den salafistischen Aufwind begleitete?
Krass: Ja, das spielte eine Rolle. Man warf den Moscheeverbänden und Gelehrten Versagen vor. In den Moscheen wurde kein Deutsch gesprochen – nur die Herkunftssprache, die viele Jugendliche nicht verstanden.
Ich selbst habe in den 1990er Jahren versucht, in eine türkische Moschee zu gehen – keine Chance, es war ein anderes Universum. Die Jugendlichen wurden im Stich gelassen. Diejenigen, die nichts gelernt hatten, holten sie von der Straße.
Das war aus unserer Sicht der Beweis, dass der Erfolg Recht gab. Wir ließen uns damals nichts von Gelehrten sagen, die nicht selbst in der Dawa aktiv waren. Aus dem Ausland beobachtete man das wohlwollend: „Du bringst die Leute zum Islam? Wunderbar!“
Weiter zu Kapitel 5: „Ich fühle mich dort nicht mehr zu Hause“