Marcel Krass distanzierte sich mehrfach von der salafistischen Szene. Nicht einmal, sondern inzwischen mehrere Male, auch im Interview mit Erasmus Monitor. Ob man ihm Glauben schenkt oder nicht: Beobachtungen durch Begegnungen und behördliche Perspektiven können einen weiteren verdichtenden Aufschluss darüber geben, wer Marcel Krass heute ist.
Beobachtung durch den Verfassungsschutz
Damit hatte Marcel Krass wohl nicht mehr gerechnet. Im Frühsommer 2025 veröffentlichte der Verfassungsschutz Niedersachsen seinen Bericht über extremistische Akteure im dortigen Bundesland im Jahr 2024. Als er ihn las, entdeckte er seinen Namen: „salafistischer Prediger“ und „Marcel K.“.
Zuvor hatte Krass Hoffnung gehabt: Im Berichtsjahr 2023 war er nicht mehr erwähnt worden. Nun passierte es erneut – trotz dessen, wie viel in der Zwischenzeit passiert war. Er und seine Familie standen infolge seiner Podcasts 2024, in denen er sich ziemlich deutlich von der salafistischen Szene distanziert hatte, zeitweise unter großem Druck, wie er im Interview mit dem Blog erzählt. Behörden hatten ihn laut eigener Aussage vor möglichen Übergriffen gewarnt.
Die Föderale Islamische Union (FIU)
Doch Krass steht im diesjährigen Bericht so gut wie gar nicht im Fokus. Seine Erwähnung hat er offenkundig seiner prominenten Rolle bei der Föderalen Islamischen Union (FIU) zu verdanken.
2017 von Krass, Dennis Rathkamp und anderen gegründet, widmet sich der Verein vor allem der rechtlichen Vertretung muslimischer Klienten, die aufgrund empfundener Ungleichbehandlungen oder Ungerechtigkeiten den Rechtsweg beschreiten wollen und dafür finanzielle und anwaltliche Unterstützung benötigen.
Daneben betreibt die FIU eine offensive Lobby- und politische Propagandaarbeit, bei der sie aus ihrer Sicht erlittene Ungerechtigkeiten von Muslimen anprangert. Langfristig strebt die FIU die Anerkennung als Kirche im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an, wie Marcel Krass dem Blog bestätigte.
Die FIU bietet zwar laut eigener Aussage strömungs- und schulenübergreifend Unterstützung an, versteht sich aber explizit als atharitische Organisation, einer traditionalistischen islamischen Glaubenslehre.
Einschätzung der Sicherheitsbehörden
Der Verfassungsschutz Niedersachsen sieht in seinem aktuellen Bericht in der FIU nicht nur eine NGO, die sich muslimischen Freiheits- und Grundrechten verschrieben hätte. Die Behörde verweist auf:
- das Leistungsangebot der FIU (Rechtsberatung, islamische Literatur, Fatwa-Support),
- die betonten „Opfer- und Unterdrückungsnarrative“ in Bezug auf Muslime,
- die Unterstützung salafistischer Akteure in der Vergangenheit, etwa des verbotenen Vereins „Ansaar International“,
- und die Entwicklungsgeschichte der FIU.
Daraus ergebe sich eine ausreichende Bewertungsgrundlage, die FIU weiterhin dem Salafismus zuzuordnen.
Bis 2023 habe sich die FIU nach dem Verständnis der „Salaf us Salih“, also den frommen Altvorderen im Islam, orientiert. Dies sei ein „fundamentales Prinzip der salafistischen Ideologie“. Dadurch würden „salafistische Einstellungen in die muslimische Community transportiert“ (S. 242).
Nach außen hin bediene sich die FIU „einer legalistischen Arbeitsweise“. Sie würde trotz ihrer zahlreichen Klagen vor Gerichten den Grundgedanken der Rechtsstaatlichkeit „nicht anerkennen“, sondern lediglich zu dessen „Nachteil“ ausnutzen. Ihre Arbeitsweise lasse sich daher auch mit der von legalistischen Islamisten vergleichen, die demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Umgestaltung der Gesellschaft auf Grundlage der Scharia instrumentalisieren würden (S. 243).
Politische Rolle und Graubereiche
Vieles an der Analyse der Behörde wirkt plausibel, weil sie eine Grauzone beschreibt, die nur schwer fassbar ist, nach Indizien vorgehen muss und es dadurch schwieriger macht, Akteure klar zu beschreiben. Oder weil die Szene noch heterogener geworden ist, als sie ohnehin schon war.
Unbestreitbar ist beispielsweise, dass die FIU nicht nur eine religiöse Institution mit inzwischen 5.000 bis 6.000 Mitgliedern ist, sondern auch dezidiert politisch aktiv ist. Sie versteht sich als rechtliches und politisches Sprachrohr deutscher Muslime, auch wenn sie dabei eine besonders konservative Strömung repräsentieren möchte (Athariyya).
Dennoch resultieren aus Zuschreibungen immer auch Fragen, weil das Grau eben weder das eindeutige Schwarz noch Weiß ist.
Zum Beispiel: Wenn die FIU seit 2023 die Salaf us Salih nicht mehr auf ihrer Webseite erwähnt und sich gleichzeitig deutlich von der salafistischen Szene distanziert hat, kann dies nur als taktisches Wendemanöver interpretiert werden?
Wenn sie sich auf die Aqida (Glaubensweg) des Atharismus beruft – macht sie das automatisch zu einem salafistischen Akteur, oder handelt es sich um Etikettenschwindel?
Oder: Nutzt die FIU wirklich den Rechtsstaat aus, wenn sie Rechte einklagen will und sich damit durch das Beschreiten des Rechtswegs letztlich zugleich zum Rechtsstaat bekennen muss?
Und welche Folgen hat das für die Einschätzung von Marcel Krass‘ Rolle als Prediger, der sich als Brückenbauer zwischen den islamischen Strömungen – ja, offenkundig darüber hinaus – profilieren möchte?
Es ist wichtig, externe Perspektiven bei der Analyse solcher teils komplexer islamwissenschaftlicher und politischer Fragen, die sowohl die FIU als auch Krass betreffen, einzubeziehen. Deshalb bat Erasmus Monitor den Verfassungsschutz Niedersachsen um die Beantwortung einiger Nachfragen zur FIU und zum Verfassungsschutzbericht 2024. Zu Krass wollte man sich mit dem Verweis auf den Datenschutz nicht äußern.
Zentrale theologische Fragen
Warum ist die Frage nach dem Fatwa-Support und dem Zusammenhang, dass die FIU den vier Rechtsschulen auf Basis der Salaf us Salih folge, so wichtig?
Viele Salafisten argumentieren, dass nur Beweise aus den vier Rechtsschulen akzeptiert werden könnten, wenn sie mit dem Koran und den Überlieferungen seiner Gefährten übereinstimmen. Gleichzeitig lehnen viele Anhänger das „blinde“ Befolgen einer bestimmten Rechtsschule (taqlid) ab.
Hätte die FIU aus dem „auf Basis“ ein „und“ gemacht, resultierte daraus wohl eine geringere Problematisierung. Denn heute steht auf der Webseite des Vereins: Man berate „gemäß der vier sunnitischen Rechtsschulen, und Aqidafragen gemäß dem Verständnis der Athariyyah“.
Dass die FIU die vormalige Angabe seit 2023 nicht mehr auf ihrer Webseite stehen hat, lässt den Verfassungsschutz daran zweifeln, ob es sich um eine ehrliche Distanzierung handelt. „Auch wenn es nicht mehr explizit auf der Homepage aufgeführt ist, liegen Erkenntnisse über eine veränderte islamrechtliche Auffassung der FIU nicht vor“, so die Behörde gegenüber dem Blog.
In der Tat fällt es schwer zu glauben, dass die FIU in so kurzer Zeit eine derart fundamentale Umorientierung in ihrer Rechtspraxis vollzogen hätte. Völlig ausschließen lässt es sich nicht angesichts der Umwälzungsprozesse und Dynamiken in der Szene.
Selbstzuschreibung Athariyya
Was ist unter der Selbstzuschreibung der FIU als Athariyyah zu verstehen?
Die Athariyya ist eine konservative Theologieschule, die wie Salafisten wortwörtlich Koran und Sunna (Überlieferungen) folgt. Rationalismus oder Vernunft bei der Interpretation zentraler Fragen im Islam spielen keine Rolle.
Der Verfassungsschutz vertritt die Einschätzung, dass die FIU aus strategischen Gründen diesen Begriff wähle, um den Salafiyya-Begriff zu vermeiden. Sie distanziere sich lediglich von der „staatlichen Terminologie“, vertrete aber „im inneren Kern weiterhin die salafistische Ideologie“.
Ohne Zweifel ist die atharitische Theologie fundamentalistisch. Zwar sind nicht alle Muslime, die sich der Athariyya zuschreiben, Salafisten. Allerdings berufen sich die meisten Salafisten auf die Athariyya, weil sie Koran und Hadithe ohne Interpretationen folgen.
FIU zwischen Neutralität und Szene-Bezug
Die Frage, ob die FIU die Bezeichnung „Athariyyah“ aus strategischem Verhalten nutzt, kann nur teilweise beantwortet werden. Tatsache ist, dass sie sich von der Mainstream-Szene und führenden Akteuren deutlich distanziert hat.
Gleichzeitig trat die FIU wiederholt als Unterstützer von Akteuren der Szene auf, wie etwa die verbotene Hilfsorganisation „Ansaar International“. Ansaar hatte früher gegenüber dem Blog jegliche Verbindungen zu extremistischen bzw. bewaffneten Gruppen abgestritten, wurde aber Jahre später von Behörden überführt und gerichtsfest verboten.
Die Unterstützung solcher Akteure kann also der FIU zurecht vorgeworfen werden: Denn wer sich von einer Szene distanziert, die junge Menschen radikalisiert und in ein isolationistisches Leben treibt, müsste auch in der Auswahl seiner Klienten klare ethische Maßstäbe anlegen. Seminare gegen Radikalisierung gleichen soetwas kaum aus – die Trennung von Extremisten müsste sich auch in der Kernarbeit, der Klientenvertretung, widerspiegeln.
Dass die FIU damit allerdings dem Salafismus per se zugerechnet werden kann, dürfte zu kurz gedacht sein.
Reichweite und Klientenarbeit
Krass betont im Gespräch, dass die religiöse Orientierung der FIU nicht bedeute, dass andere Strömungen wie Schiiten oder Sufis als Klienten abgelehnt würden. Im Gegenteil: Man habe bereits neben Akteuren wie Ansaar auch Angehörige dieser Richtungen vertreten.
Ob dies einem strategischen Kalkül geschuldet ist – etwa mit Blick auf den angestrebten Kirchenstatus – oder auf ehrlicher Toleranz beruht, bleibt offen. Gerade angesichts der kategorischen Feindschaft vieler Salafisten gegenüber anderen Strömungen wirkt ein solches Vorgehen für eine salafistische Organisation ungewöhnlich. Es zeigt größere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit als bei vielen anderen Akteuren dieses Spektrums.
Öffentlichkeitsarbeit und Narrative
Der Verfassungsschutz sieht bei der atharitischen Orientierung der FIU nicht nur eine spirituelle Verortung, sondern eine dezidiert politische Agenda.
Mit wiederkehrenden Opfer- und Unterdrückungsnarrativen präsentiere sie sich als religiöse Minderheit, die von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werde. Eine Differenzierung, wie sie viele andere religiöse Gemeinschaften trotz politischer Stellungnahmen pflegen (Kirchenasyl, Rechtsextremismus, usw.), bleibt in der FIU-Kommunikation zu oft aus.
Zwar ist es legitim, in Zeiten wachsender Islam- und Migrationsfeindlichkeit auf Missstände hinzuweisen. Doch durch Tendenz des starken Agenda-Settings zu diesem Themenkomplex und der Überbetonung entsteht bei Rezipienten leicht der Eindruck, Deutschland sei ausschließlich islamfeindlich geprägt. Die Botschaften können damit ein Schwarz-Weiß-Bild erzeugen, das einer Realitätsprüfung nicht unbedingt standhält und an die Strategien islamistischer Akteure erinnert, die so neue Anhänger gewinnen wollen.
Rechtsstaat und Legalismus
Generell verweist der Verfassungsschutz gegenüber dem Blog auf die verschwimmenden Grenzen islamistischer Strömungen. Insofern bediene sich die FIU einer „legalistischen Vorgehensweise, bei der sie gezielt auf emotional aufgeladene Themen“ zurückgreife und Rechtsmittel einsetze.
Doch die Deutung, die FIU nutze den Rechtsstaat lediglich aus, greift aus politikwissenschaftlicher Perspektive doch recht kurz. Gerade für Salafisten ist es ungewöhnlich, auf rechtsstaatliche Mittel in dieser Dimension zu setzen. In der Szene gilt häufig: Wer vor weltliche Gerichte zieht, erkennt den demokratischen Rechtsstaat an – für viele ein Unding.
Die FIU hingegen sucht systematisch gerichtliche Klärungen, vor allem im Bereich religiöser Rechte. Damit bekennt sie sich formal zum Rechtsstaat. Erfolge der FIU vor Gericht bestätigen geltendes Recht, ihre Niederlagen ebenfalls. Der Begriff „Legalismus“ lässt sich ihr also nicht zwingend zum Nachteil auslegen.
Problematisch wird es erst, wenn Klageabweisungen – wie in Stellungnahmen von Dennis Rathkamp – als Beweis „mangelnder Neutralität“ von Gerichten dargestellt werden. Damit verstärkt die FIU den Eindruck, bewusst polarisieren zu wollen. Dass sie ihr nachteilige Gerichtsurteile nicht anerkennen würde, lässt sich damit aber nicht per se sagen.
Persönliche Dimension: Marcel Krass
Das ist die eine Seite – die FIU, deren Vorsitzender Krass ist. Doch was ist mit seinen eigenen Einstellungen?
Von der Szene geprägt und die Distanzierung von Vordenkern
Marcel Krass ist charismatisch und vereinnahmend, was ihm sicherlich auch den Weg zu einem der ersten deutschsprachigen Prediger der salafistischen Szene ebnete. Er wurde von Ibrahim Abou Nagie und Pierre Vogel gefördert und prägte die Szene jahrelang mit.
Er selbst sagt heute, er habe Fehler gemacht und mit seinen Lehren, etwa von Muhammad ibn Abd al-Wahhab, einen Nährboden für Radikalisierung geschaffen. Ein seltenes Eingeständnis, wenn nicht gar Novum für einen so bekannten Prediger – zumal er nicht in einem offiziellen Aussteigerprogramm ist oder eine Gefängnisstrafe abgesessen hat.
Krass distanziert sich im Gespräch vom Gedankengut wie von Ibn Abd al-Wahhabs. Dessen Lehren seien mitverantwortlich für Radikalisierung und Terrorismus. Auch die bei Salafisten locker sitzende Takfir-Praxis lehne er inzwischen ab.
Glaubenspraxis und Rechtsschule
Krass bezeichnet sich heute als Athari und folgt der malikitischen Rechtsschule. Hinsichtlich der atharitischen Orientierung passe zwischen ihm und der FIU kein Blatt Papier, sagt er.
Im Gespräch weist er ausdrücklich den „Verdacht“ zurück, er habe sich der Malikiyya aus taktischen Gründen angenähert. Diese Überlegung vom Blogautor ist jedoch nicht völlig unbegründet, denn in der Forschung gibt es Beispiele, die solche Anpassungen nahelegen.
Eine Studie zu tunesischen Salafisten kam zu dem Ergebnis, dass sich Teile der Szene dort in den letzten Jahren gezielt der malikitischen Rechtsschule annäherten. Dies geschehe weniger aus theologischer Überzeugung, sondern vielmehr aus pragmatischen Gründen: Die Malikiyya sei in Nordafrika die dominierende Rechtsschule, sie gelte als kulturell und religiös tief verwurzelt. Für salafistische Akteure böte die Berufung auf sie eine Möglichkeit, sich in der Gesellschaft besser zu verankern, Akzeptanz zu gewinnen und politisch zu überleben.
Nach eigenem Studium des Phänomens widerspricht Krass aber einer solchen Parallele für sich. Er argumentiert, dass tunesische Salafisten zwar formell Bezug auf die Malikiyya genommen hätten, jedoch weiterhin selektiv vorgingen: Wo malikitische Rechtsurteile nicht im Einklang mit Koran und Sunna stünden, machten sie Ausnahmen und blieben letztlich beim salafistischen Selektivismus. Zudem vermieden sie es, klar Stellung zu klassischen Gelehrten der salafistischen Tradition zu beziehen.
Insofern, so Krass, sei sein eigenes Verhältnis zur Malikiyya grundlegend anders: Er folge ihr nicht aus pragmatischen oder strategischen Gründen, sondern weil er alle vier sunnitischen Rechtsschulen für authentisch halte. Damit unterscheidet er sich von den tunesischen Beispielen, die primär auf gesellschaftliche und politische Überlebensstrategien abzielen.
Opfernarrative und Öffentlichkeit
Krass distanziert sich im Gespräch von eindimensionalen Opfer-Narrativen. Er verweist auf die wachsende Zahl muslimischer Einrichtungen in Deutschland – ein Gegenargument zur Behauptung staatlicher Islamfeindlichkeit in der Salafismus-Szene. Gleichzeitig greift er in FIU-Videos auffällig häufig genau diese Narrative auf.
Krass' Aussage im Interview, er würde auch im Zweifel Pierre Vogel als Klienten vertreten, wirft zudem Fragen auf. Krass offenbart damit zwar eine gewisse Stringenz in seinem charakterlichen und politischen Werdegang – nämlich gegen Unrecht an Muslimen vorzugehen –, zugleich aber auch eine geringe Distanz zu problematischen Akteuren. Denn dass die FIU damit im Zweifel Täter-Opfer-Narrativen der Salafismus-Szene indirekt unterstützen würde, sollte sie entsprechende Akteure bei Klagen unterstützen, ließe sich kaum von der Hand weisen.
Diese „Geradlinigkeit“ von Unbequemlichkeit ist bei Krass aber keine Neuigkeit. Beispielsweise tauchte er in der Vergangenheit auf Fotos mit Protagonisten mit Nähe zur Furkan-Gemeinde oder der Hizb ut-Tahrir auf, was vor Jahren auf eine „legalistische“ Umorientierung bzw. breitere Aufstellung schließen ließ. Damals polarisierte er damit vor allem in der Szene. Doch wie schnell sich die Strömungen verändern können, zeigt sich in den letzten drei Jahren, und schließt damit eine eigene dynamische Einstellungsveränderung von Krass in diesem Zeitraum nicht aus: Während sich inzwischen unbenannte Gruppen wie „Generation Islam“ und „Muslim Interaktiv“ im Zuge des Nahostkonflikts offenkundig radikalisierten und Demonstrationen mit aggressiven „Kalifat“-Parolen organisierten, blieb Krass verhältnismäßig zurückhaltend. Für ihn kämen solche Demonstrationen heute wohl kaum in Frage.
Bekenntnis zu Demokratie
Krass zeigt in seiner Rückschau ein deutlich verändertes Verhältnis zu Demokratie und Gesellschaft. Er versteht Demokratie heute nicht als Widerspruch zum Islam, sondern als ein System, das Muslime zur aktiven Mitgestaltung einlädt. Wahlen und politische Beteiligung sieht er ausdrücklich als legitim und notwendig an, auch um gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzuwirken. Damit grenzt er sich von früheren salafistischen Positionen klar ab, die häufig jede Form von „Kompromiss mit dem Kufr“ ablehnen.
Gleichzeitig vertritt Krass weiterhin konservative religiöse Ansichten, etwa in Fragen von Sexualität und Familie. Doch betont er, dass diese Positionen nicht als gesellschaftliche Kampfansagen verstanden werden dürften. Er verweist auf das Grundgesetz als verbindlichen Rahmen und warnt vor jeder Form der Entmenschlichung oder Ausgrenzung von Minderheiten.
Auftreten und Alltag
Auffälligkeiten zeigen sich auch in Krass‘ Glaubenspraxis. Im Gespräch macht er sich Gedanken über Glaubensfragen und wirkt offen für moderne Anpassungen. Ein Beispiel: die Frage, ob eine Frau allein reisen dürfe – für viele Salafisten ein Tabu.
Im persönlichen Umgang wirkt er nicht wie ein „klassischer Salafist“: Er gibt die Hand, trägt moderne Kleidung, sein Bart ist gestutzt, er lacht und scherzt. Auch seine Frau tritt selbstbewusst auf und begegnet Gästen offen. Der Eindruck einer Inszenierung drängt sich zu keinem Zeitpunkt auf.
Der Wunsch, vom Extremismusverdacht entlastet zu werden, ist offenkundig, und auf empathischer Ebene nachvollziehbar.
Abschließende Bemerkungen
Krass ist ideologisch heute ein konservativ-traditionalistischer Prediger mit atharitischer Prägung. Vom salafistischen Milieu hat er sich strukturell und von einigen ihrer ideologischen Positionen distanziert. Er hält aber an seiner missionarischen Rolle fest, die er nicht als konfrontativ versteht. Dass er und die FIU weiterhin im Zweifel auch salafistische Szeneakteure vertreten würden, dürfte sich bei ihrer Einordnung eher nachteilig auswirken. Eine entsprechende Kritik daran ist notwendig und geboten.
Krass' Positionen sind heute allerdings weniger exklusivistisch und stärker dialogorientiert. Gleichwohl bleibt er streitbar: Seine konservativen Haltungen, etwa zu Sexualität oder Familie, werden weiterhin Kritik provozieren. Nichtsdestotrotz kann man mit Krass reden und diskutieren, wie es schon einige in den vergangenen Monaten, darunter auch Akteure der Zivilgesellschaft, getan haben.