Kapitel 1: „Meine Kindheit war glücklich“

Marcel Krass 2016 bei einer Umrah-Reise (Quelle: IME Reisen/YouTube)
 

„Ich hatte mehrere Freundinnen und habe das Leben genossen“

Vogel: Herr Krass, in der Öffentlichkeit wird beim Thema Radikalisierung immer auch über Ursachen gesprochen. Benachteiligung und soziale Ausgrenzung werden dabei nicht selten debattiert. Waren Sie benachteiligt, als Sie sich radikalisiert haben?

Krass: Nein. Ich bin in der Nähe von Münster in einem Haus im Grünen aufgewachsen. Meine Kindheit war glücklich. Mein Vater war als Telekommunikationselektroniker Beamter bei der Post, meine Mutter arbeitete bei einem kirchlichen Wohlfahrtsverband und war halbtags für uns zu Hause da. Einmal im Jahr sind wir in den Urlaub gefahren. Uns ging es bezogen auf den Familienzusammenhalt und die Finanzen ganz gut.

Vogel: Waren Sie der erste in der Familie, der später studiert hat?

Krass: Ja, ich war der erste, der studiert hat. Mein Vater hätte sicherlich das Zeug dafür gehabt und er hat später auch überlegt Ingenieurwissenschaften zu studieren. Aber meine Eltern sind in einer Zeit aufgewachsen, wo es schwieriger war, aufs Gymnasium zu gehen. Mein Vater war insofern privilegierter, weil mein Großvater durch sein kleines Malerunternehmen die finanziellen Mittel hatte, ihn auf die Realschule zu schicken. Mein Vater wurde Radio- und Fernsehtechniker und reparierte die Fernseher der ganzen Nachbarschaft – das weckte auch mein technisches Interesse.

Sie müssen sich das vorstellen: Da kommt ein siebenjähriger Junge ins Arbeitszimmer seines Vaters. Dort riecht es nach Lötzinn und er sieht die ganze Fernseher-Technik. Das sieht sonst kein Mensch. Mein Vater tauschte da die Widerstände und das Netzteil aus und dann funktionierte das Ding wieder. Ich selbst habe dann angefangen, Kassettenrekorder auseinanderzubauen, um die Technik zu studieren.

Vogel: Sie wuchsen also in einer norddeutschen Idylle auf, wenn man das so sagen kann. Wie kamen Sie in Ihrer Kindheit oder Jugend mit Muslimen oder dem Islam dann überhaupt in Berührung?

Krass: Eigentlich gab es in meiner Kindheit nur unangenehme Begegnungen. Bei uns wohnten drei türkische Großfamilien, die wohl Muslime waren, und als Kind wusste man damals: wenn du mit einem von denen Stress hast, dann kommen seine 40 Cousins. Ich bin auch einmal mit denen aneinandergeraten und konnte mich wochenlang nicht mehr in der Innenstadt blicken lassen. Also etwas klischeehaft für ein deutsches Aufwachsen. Mir kamen Muslime aber nicht fremd vor. Ich habe die Türken weniger mit dem Islam verbunden, sondern sie waren mir als Kind einfach fremd. Ich mochte ihr Gehabe nicht so. In der Schule hatte ich vielleicht ein oder zwei türkische Mitschüler. Die Berührungspunkte waren also nicht sonderlich groß.

Vogel: Sie kamen dann aber dennoch irgendwann mit dem Islam in Berührung. Sie sind sehr früh, mit 18 Jahren, konvertiert. Hat Sie in der Jugendzeit auf dem Gymnasium etwas Besonderes beschäftigt, weshalb Sie sich mit dem Islam auseinandergesetzt haben? Vielleicht eine Sinnsuche?

Krass: Es war weniger die Suche an sich, sondern ich war schon seit meiner Kindheit immer ein sehr gläubiger Mensch, in dem Sinne, dass ich an einen Gott geglaubt habe. Ich bin bis zum achten Lebensjahr, also bis zur Kommunion, regelmäßig in die Kirche gegangen. Bis dahin waren wir jeden Sonntag in der Kirche. Danach nicht mehr so regelmäßig. Aber ich habe meine Gebete noch eingehalten, habe jeden Tag Vaterunser gebetet und solche Dinge. Ich habe in schwierigen Situationen auch immer zu Gott gebetet, bei Klassenarbeiten, wenn es irgendwelche Probleme gab oder auch, wenn ich ein Mädchen klarmachen wollte. Also ich hatte immer diese Verbindung und deshalb sehr viel Respekt und Ehrfurcht vor Gott. Das war schon immer so.

Vogel: Ansonsten hatten Sie eine normale Teenagerzeit?

Krass: Ja, eine sehr normale Zeit. Ich hatte mehrere Freundinnen und habe das Leben genossen. Ich hatte meinen Freundeskreis. Wir haben Skat und Rollenspiele gespielt, haben die Nächte zusammen verbracht. Da gab es auch gerade die ersten PC-Spiele, die man per LAN-Verbindung spielen konnte, z.B. Doom. Wir trafen uns, schleppten unsere Rechner und Monitore mit und verbrachten dann die ganze Nacht mit Zocken. Wir haben die technische Revolution noch hautnah miterlebt. Das Einzige, was mich immer begleitet hat, war die Sache mit Gott, meine Gebete und die Beziehung zu ihm. Das hat mich von anderen abgehoben. Keiner in meinem Freundeskreis hatte das.

„Ich machte von Beginn meiner Konversion an alles falsch"

Vogel: Wie sind Sie mit dem Islam in Berührung gekommen?

Krass: In der Schule hatte ich einen Freund aus Pakistan, mit dem ich noch heute in Kontakt stehe. Ich habe mich gut mit ihm verstanden. Er hat irgendwann gemerkt, dass ich die Voraussetzungen mitgebracht habe, mich mit dem Islam auseinanderzusetzen.

Er war damals schon, wie kann man das sagen, als Prediger oder Missionar unterwegs. Er hatte als Schüler zuvor eine Sinnkrise durchgemacht: durch einen Schulfreund war er fast zum Christentum konvertiert. Letzteres war damals schon sehr christlich und ist heute Pfarrer. Der pakistanische Freund wurde in der Konsequenz dann erstmal von seinen Eltern in sein Heimatland geschickt und als er wieder zurück war, erklärte er mir, dass er ab nun die Leute zum Islam führen wolle. Und als er mich getroffen hat, dürfte er gedacht haben: „Das wird mein erstes ‚Opfer'.“

Vogel: Und konvertierten Sie?

Krass: Wir haben uns erstmal unterhalten, diskutiert und ich habe eigentlich sehr schnell gemerkt, dass das, was er mir über den Islam erzählt, eigentlich das bereits war, woran ich glaubte. Ich glaubte an einen Gott, an die Propheten, dass nach dem Tod über die Menschen Gericht gehalten wird. Das ist die Essenz des Islam.

Der kleine Unterschied ist der Prophet Mohammed. Aber Muslime verstehen sich auch so, dass sie die Botschaft aller Propheten anerkennen. Alle haben über die Existenz Gottes berichtet. Das ist im Endeffekt auch die Botschaft von Mohammed gewesen. Ich konnte mich deswegen schnell mit dem Islam anfreunden.

Vogel: Mit einer Orientierung zu Autoritätspersonen hatte das nichts zu tun?

Krass: Nein. Ich konnte mit der Kirche und dem Christentum tatsächlich weniger anfangen. Ich war gottgläubig, aber diese Vorstellung von der Dreifaltigkeit, Sohn Gottes, Erlösung von den Sünden und so weiter, hatte ich gar nicht. Ich wusste, es gibt einen Gott. Das habe ich aus meiner katholischen Zeit mitgenommen. Ich habe auch an die Prophetengeschichten geglaubt, an Jesus, Moses und das gespaltene Meer. Das war schon Realität. Für einen Teenager sicherlich ungewöhnlich. Aber das habe ich schon für bare Münze genommen. Ich hatte diese Ehrfurcht vor Gott und wusste auch immer: Irgendwann werde ich diese Welt verlassen und danach ist nicht einfach alles vorbei. Ich werde irgendwann vor Gott stehen. Das war das, was mich schon vorher begleitet hat.

Vogel: Sie hatten also ein spirituelles Verlangen? Wurde das bereits von Ihren Eltern vorgelebt?

Krass: Nein. Mein Vater ist kein gläubiger Mensch. Er ist Atheist und hat die Kirchengänge eher aus Tradition mitgemacht. Meine Mutter war schon gläubige Katholikin. Aber ich habe weder von meiner Mutter noch von meinem Vater etwas Besonderes in dieser Richtung mitbekommen. Als ich konvertierte, waren meine Eltern dennoch skeptisch, weil sie natürlich auch klischeebeladen waren. Sie hatten selbst kaum Kontakt mit Muslimen, insofern konnten sie auch nichts dafür. Die erste Reaktion meines Vaters war: „Muslime sind alle Terroristen.“ Und das war 1995, also weit vor den Anschlägen vom 11. September 2001.

Vogel: Warum dachte Ihr Vater zu dem Zeitpunkt schon so?

Krass: Damals war das Thema Dschihad aufgrund der historischen und zeitgenössischen Ereignisse auf der Welt schon in aller Munde. Die islamische Revolution im Iran 1979, die Konflikte in Palästina und im Irak, das Olympia-Attentat von 1972. In Ägypten gab es damals auch schon dschihadistische Gruppierungen wie „Al-Dschihad“, die für die Ermordung des ägyptischen Diktators Anwar al-Sadat verantwortlich war. Dann hatten wir den Bürgerkrieg in Algerien nach den Wahlen 1992, der zu einer französischen Intervention führte und die Balkan-Kriege seit Anfang der 1990er Jahre. Die Medien berichteten verständlicherweise darüber, doch ihre Berichterstattung prägte auch das öffentliche Bild vom Islam, weshalb ihn meine Eltern mit Krieg und Terror verbanden.

Vogel: Wie haben Sie auf die Vorbehalte Ihrer Eltern reagiert?

Krass: Ich machte von Beginn meiner Konversion an alles falsch – und begann sofort mit meinen Eltern zu streiten. Ich habe mir alle Argumente gegen das Christentum zurechtgelegt. Ich hatte meinen pakistanischen Freund, der mich entsprechend vorbereitete. Der hat mir alle Bücher mitgegeben. Meine Mutter nahm mir das sehr übel, was ich über das Christentum sagte.

Das bereue ich bis heute bitter, auch wenn mich die Reaktionen meiner Eltern verärgert hatten. Deswegen sage ich heute den Leuten, dass sie erstmal zuhören sollten. Wenn Eltern nicht begeistert auf eine Konversion reagieren, sollte man Diskussionen und Konflikte vermeiden. Im Idealfall sollte man sie vor der Konversion am Weg teilhaben lassen, indem man den Koran oder ein Buch über den Islam mal offen liegen lässt, um Gespräche zu ermöglichen. Man sollte es nicht so machen, wie ich. Das war für meine Eltern wie ein Schock, auch wenn sich drei Monate später alles wieder beruhigt hatte. Am Ende ist man immer noch derselbe Typ. Bis Eltern mit einem Kind aufgrund der Religion brechen, muss schon sehr viel passieren.

Vogel: Sie waren also im Alter von 18 Jahren Muslim geworden und haben schließlich das Abitur gemacht. Welche Zukunftspläne hatten Sie danach?

Krass: Nun, ich war damals mit meiner heutigen Ehefrau zusammen. Wir lernten uns in der Schule kennen. Sie konvertierte zwei Jahre nach mir zum Islam. Deswegen haben wir auch kurz nach dem Abitur geheiratet und sind dann ein paar Jahre später zusammengezogen.

Ich wollte mich bei der Bundeswehr verpflichten und Luft- und Raumfahrttechnik studieren, scheiterte jedoch beim Offiziersanwärter-Test wegen einer Hörschwäche, die sich heute stärker bemerkbar macht. Da haben die damals gesagt: „Okay, es wäre besser, wenn dieser Junge nicht irgendwo arbeitet, wo geschossen wird oder es knallt. Sonst wird er taub.“ Und dann hat man mich aussortiert. Ich habe dadurch ein bisschen Zeit verloren und dann 1996 angefangen, Elektrotechnik zu studieren, was ich dann aber durch ein gutes Jobangebot später nicht mehr weiterverfolgt habe. Es war ein schönes Leben.

Vogel: Wie kam es dazu, dass Sie trotz dieser rosigen Zukunft und ihres guten Verhältnisses zu Ihren Eltern so schnell in die islamistische Szene abrutschen konnten?

Krass: Ich hatte fünf Jahre in meiner Gemeinde in Münster den Islam praktiziert. Wir haben uns einmal in der Woche am Wochenende getroffen. Alle waren deutschsprachige Muslime. Wir haben ein bisschen über den Islam geredet. Das war eine schöne spirituelle Praxis und ich vermisse diese Zeit. Nach fünf Jahren als Muslim war mein Wissen noch auf dem Stand meiner Konversion – ich wollte mehr über meine Religion lernen. Unsere Überlieferungen über den Propheten sind ja nicht einfach nur Geschichten. Also bemühte ich mich nach Wegen zu suchen, mein Wissen zu vertiefen. So kam ich schließlich Ende 1999 nach Freiburg im Breisgau.

 

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