Freitag, 29. November 2024

Dschihadisten in Syrien beginnen Großoffensive

Quelle: Telegram
Mit einer Überraschungsoffensive syrischer Rebellen sind die Kämpfe in Nordsyrien neu aufgeflammt. Dschihadisten sollen bereits in der Großstadt Aleppo sein.

Überraschungsoffensive der Dschihadisten

Eine Koalition von Dschihadisten, darunter die Hayat Tahrir al-Sham (HTS), hat am Mittwoch in der syrischen Provinz Idlib überraschend eine Offensive begonnen. Unter dem Motto "Deterrence of Aggression" (Abschreckung von Aggression) erklärte die HTS, den kontinuierlichen Beschuss der von ihr kontrollierten Gebiete durch die syrische Armee beenden zu wollen. Mit Panzern, Artillerie und Drohnen griffen tausende Kämpfer der islamistischen Miliz Dörfer und Städte in Idlib an. Seit Beginn der Kämpfe überranten die Rebellen zahlreiche Stellungen des Regimes. Am Freitag sollen sie sogar weite Teile der historischen Millionenmetropole Aleppo unter ihre Kontrolle gebracht haben. Der wieder aufgeflammte Krieg hat inzwischen den gesamten Norden Syriens erfasst. Denn gleichzeitig sollen von der Türkei kontrollierte Milizen der "Syrian National Army" den Norden Aleppos angreifen, wo die arabisch-kurdischen "Syrian Democratic Forces" (SDF) und die syrische Armee jeweils gemeinsam Gebiete teilen.

Das Regime von Assad scheint von der Offensive völlig überrumpelt worden zu sein. Seine aus vielen unterschiedlichen Milizen bestehende Armee soll sich auf dem Rückzug befinden und sich neu organisieren. Russische Kampfjets bombardieren derweil rund um die Uhr die vorrückenden Rebellen. Zahlreiche Menschen sollen ums Leben gekommen sein oder sind auf der Flucht. Mindestens zwei aus Deutschland stammende Dschihadisten sollen beim Vormarsch der Rebellen beteiligt sein. Der als Propagandist der HTS bekannte Samet D. aus Hanau und der aus NRW stammende Kämpfer Oussama B. Dies legen Bildaufnahmen nahe, die auf Telegram veröffentlicht wurden.

Derzeit lässt sich nicht abschätzen, wie weit die Dschihadisten in den Norden und Osten Syriens vordringen wollen. Denn eine offene Konfrontation mit den dortigen Kurden der YPG könnte ein direktes Eingreifen der USA, die den Osten Syriens kontrollieren und als Schutzmacht der SDF auftreten, provozieren.

Neue Stärke der Dschihadisten?

Ohne Zweifel begünstigen die katastrophalen Lebensbedingungen in Syrien die aktuellen Entwicklungen. Die steigende Inflation, Lebensmittelknappheit, internationale Sanktionen, Korruption und das politische Vakuum haben viele Syrer desillusioniert. Auch die Bevölkerung in den von Dschihadisten beherrschten Gebieten leidet unter diesen Bedingungen. Viele leben in Flüchtlingsunterkünften.

Der Nahostkonflikt hat zudem das syrische Regime geschwächt. Der Krieg im Libanon und die Luftangriffe Israels auf iranische Revolutionsgarden und die Hisbollah in Syrien könnten die Armee empfindlich geschwächt haben. Währenddessen ist Russland mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine gebunden. Gemeinsam mit irakischen Schiiten-Einheiten waren diese externen Akteure aber ein entscheidender Faktor für einen vorläufigen Sieg Assads im Bürgerkrieg. Der fast kampflose Rückzug aus Aleppo scheint nun auf die große Unzuverlässigkeit seiner eigenen Truppen hinzuweisen. 

Für die HTS, die für ihre Gewaltherrschaft und Korruption in den letzten Jahren in Verruf geraten ist, käme eine Eroberung Aleppos gerade recht, um ihr eigenes Image als Befreiungsbewegung Syriens aufzupolieren. 

Eine wohl entscheidende Rolle für die aktuellen Erfolge der Rebellen könnte allerdings die Türkei spielen, die aus der Schwäche der anderen Akteure Kapital zu schlagen versucht. Sie verfolgt eigene Interessen in Syrien: 1) die Eindämmung von Flüchtlingsbewegungen über die gemeinsame Grenze mit Syrien, die zu einem wachsenden Unmut in der türkischen Bevölkerung geführt haben, 2) der geopolitische Einfluss auf weite Teile Nordsyriens und 3) die Bekämpfung kurdischer Emanzipationsbestrebungen in Form eines Autonomiegebiets der SDF direkt an der türkischen Grenze.

Monatelang sah es danach aus, dass Syrien und die Türkei ihre diplomatischen Beziehungen wieder normalisieren würden. Unter Vermittlung Russlands hatte es zwischen beiden Ländern Verhandlungen gegeben. Diese scheinen mit der Offensive der Rebellen nun wohl gescheitert zu sein. Denn wie die Nachrichtenagentur "Reuters" berichtet, soll die Türkei nach Angaben eines Rebellensprechers "grünes Licht" für die Offensive gegeben haben. Zuvor hatte das Portal "Middle East Eye" einen türkischen Regierungsbeamten zitiert, demzufolge es sich um eine begrenzte Offensive handle, um Zivilisten in Idlib zu schützen. Die Deeskalationszone in Idlib, die zwischen der Türkei, Syrien und Russland 2019 vereinbart worden war, solle wieder hergestellt werden, um die Angriffe der syrischen Armee auf Idlib zu unterbinden. "What was initially planned as a limited operation expanded as regime forces began fleeing their positions". Unklar ist deshalb, ob sich die Dschihadisten aufgrund ihrer Überraschungserfolge freiwillig wieder zurückziehen werden oder die Offensive doch weitreichendere Ziele verfolgt.

Auswirkungen auf die Szene und die Prävention

Wie der Nahostkonflikt könnte Syrien nun wieder in den Fokus islamistischer Mobilisierungsbemühungen geraten. Sollten die Rebellen tatsächlich Aleppo erobern und langfristig halten, ist nicht ausgeschlossen, dass das Narrativ des Dschihads in Bezug auf Syrien wieder verstärkt in die Propaganda unterschiedlicher Akteure einfließen wird. Schon jetzt reagieren deutschsprachige Sympathisanten unterschiedlicher Gruppen wie des IS und der HTS auf die aktuellen Geschehnisse. 

Es ist wichtig, auf die komplizierte Gemengelage hinzuweisen, die sich in Syrien ergibt. Das Land besteht aus einem Flickenteppich von Gebieten, die von unterschiedlichen Akteuren beherrscht werden. Die meisten  Gruppierungen agieren schon lange nicht mehr unabhängig oder sind auf staatliche Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Zudem erweist sich die Herrschaftspraxis der HTS trotz Institutionalisierungsversuchen wie die des IS als kaum freiheitlich oder partizipativ - auch und vor allem unter Muslimen. Dissidenten und Oppositionelle werden ähnlich verfolgt und behandelt wie in den Gebieten unter Assad oder dem IS. Keine der Konfliktparteien verfügt über ein Systemangebot, das auf autoritäre Mittel verzichtet und fundamentale Freiheitsrechte (auch nach islamischem Recht) grundsätzlich garantiert. Der Gleichheitsanspruch wird zudem durch Korruption und Klientelpolitik ad absurdum geführt.