Zwischen Ablehnung und Relativierung: Wie Prediger auf die Anschläge in Paris reagierten

Die Pariser Attentate am vergangenen Freitag lösten Angst und Schrecken in Europa aus. Die Furcht vor neuen Anschlägen - ob begründet oder unbegründet - beherrscht derzeit alle Schlagzeilen. Auch die deutsche Salafisten-Szene diskutiert kontrovers über die Wirkung und Folgen der blutigen Ereignisse. Dabei zeigt sich einmal mehr: Die Szene tut sich schwer, den Terrorismus im Westen zu verurteilen.

"Verdorbene Unheilstifter"

Die deutsche Salafisten-Szene steht unter enormen Druck. Seit Monaten formieren sich Bürgerinitiativen, um gegen Ideologie, Prediger und Koranstände zu mobilisieren. Die Attentate von Paris am vergangenen Freitag haben diese Entwicklung noch einmal verstärkt. Medien und Öffentlichkeit diskutieren über die Ursachen und Risiken des Terrors. Der Salafismus wird dabei meist als entscheidende Quelle der Gewalt ausgemacht.

Kein Wunder also, dass sich viele Prediger der Szene dazu entschlossen haben, zu den Anschlägen in Paris öffentlich Stellung zu beziehen. Dabei ist auch nicht überraschend, dass die Gelehrten zwischen Ablehnung, Lavieren und Relativierung balancieren. 

Unter all den Reaktionen stach vor allem die des Berliner Predigers Abdul Adhim Kamouss hervor, von Boulevardmedien auch als der "Quasselprediger" verspottet. Der von der Al-Nur-Moschee geschasste Deutsch-Marrokaner, verurteilte die IS-Anschläge in Paris mit deutlichen Worten. Die Täter des IS nannte er "Menschensatane, verdorbene Unheilstifter und barbarische Mörder". Diese wollten nur Zerstörung und Unsicherheit nach Europa bringen. Man müsse ihr Vorhaben "mit aller Härte" bekämpfen.
Entschiedener IS-Gegner: Abdul Adhim Kamouss
Bereits 2014 hatte Kamouss eine vielbeachtete Predigt gegen den IS und al-Qaeda gehalten, in der er auf theologischer Grundlage und in brillianter Sprache die typischen Verhaltens- und Denkweisen der IS-Terroristen zu entzaubern versuchte. Kamouss, der selbst noch vor mehreren Jahren als militanter Prediger galt, kann heute als eine Art Vorreiter in der salafistischen Bewegung bezeichnet werden, der sich laut und deutlich vom internationalen Terrorismus distanziert und zu mehr Dialog zwischen den Religionen aufruft.

"Anschläge sind haram"

Doch auch Pierre Vogel alias "Abu Hamza", der charismatische Star unter den salafistischen Predigern, hatte sich schon früh nach den Anschlägen in Paris zu Wort gemeldet. Schon einen Tag danach veröffentlichte er gemeinsam mit Sven Lau alias "Abu Adam" ein "Statement". "Ich bin der Überzeugung, dass solche Anschläge haram sind", so Vogel. Bereits in der Vergangenheit habe er Vorträge gehalten, in denen er das Verhältnis zwischen Koran und Terrorismus thematisiert hätte. "Der Islam verdammt Terrorismus", folgert er.

Gleichwohl betonte Vogel zur Rechtfertigung gegenüber potenziellen Kritikern aus der Dschihad-Szene, dass er sich nicht deswegen äußere, um jemanden zu gefallen (demnach den "Kuffar"), denn er kämpfe bereits seit "sieben oder acht Jahren gegen terroristische Anschläge." Ihm gehe es vor allem darum, Solidarität mit den Muslimen zu zeigen, die den größten Schaden durch Terrorattacken wie in Paris tragen würden. "Diese Anschläge, glaubt es mir, bringen nur Schaden."

Sven Lau äußerte sich ähnlich wie Vogel. Man höre mittlerweile nur noch von Anschlägen und Terror auf der ganzen Welt. Doch so "ausgiebig" kriege man Anschläge nur in Paris mit. Alle Verbrechen auf der Welt seien aber gleich. "Wenn man keine Rücksicht auf Kinder, Frauen und Greise nimmt und einfach wahllos auf Menschen losgeht, auf sie schießt, sich in die Luft sprengt, dann spielt das ganze eigentlich keine Rolle, wo das stattfindet, sondern es bleibt ein Verbrechen." Allah habe aber schon über den Propheten gesagt: "Und wir entsandten dich nur aus Barmherzigkeit für alle Weltenbewohner."

Die Folge sei, so Lau, dass nun Muslime in Europa unter Generalverdacht gestellt werden würden. So werde auch die Da'wa weiter erschwert. Doch vor Vergleichen scheute auch Lau in seiner Ansprache nicht: Während die Frankreich-Tragödie im Fernsehen nun "rauf und runter" liefe, würden auch an anderen Orten auf der Welt Verbrechen durch westliche Staaten begangen. Als Beispiel nannte er den Luftangriff der USA auf ein Krankenhaus in Kunduz im Oktober dieses Jahres. Damals habe es nur "Kollateralschaden" geheißen, monierte Lau. "Dazu wird sich nicht groß geäußert. Wo gibt es Schweigeminuten? Wo wird darüber nachgedacht? Wo sieht man da Tränen im Westen für diese Menschen, sind diese Menschen weniger wert?", fragte der Prediger.

Kein Interesse, Menschen in Europa Schaden zuzufügen

Ibrahim Abou Nagie, der Chef der "Lies!"-Kampagne und des Predigernetzwerks von "Die Wahre Religion", äußerte sich zu den Anschlägen, als er am Tag darauf in Karlsruhe zusammen mit dem Frankfurter Bilal G. einen Koran-Stand besuchte. Ein offenbar gestelltes Video zeigt den Prediger auf dem Weg zum "Lies!"-Stand. Bilal G., der den Kölner mit der Kamera filmte fragte diesen, ob er denn nicht Angst davor habe, dass ihn jemand auf der Straße einfach angreifen könne, was ja schon passiert sei. "Bruder, das ist mein Wunsch, dass ich für Allah sterbe", antwortete Abou Nagie in provokantem Tonfall.
Ibrahim Abou Nagie (r.)






















Zufällig am "Lies!"-Stand trafen die beiden Manager der Koranverteilungsaktion auf Saif U., ein Leiter der Kampagne im Raum Süddeutschland. Gerade sei eine Frau am Stand gewesen, so U. zu dem Prediger gewandt, "die ihre Family verloren hat bei dem Anschlag in Paris und sie hat alle Korane runtergeschmissen, fünf Minuten, bevor du gekommen bist. Sie war sehr aggressiv." Er habe die Frau gefragt, was die Anschläge denn mit ihnen zu tun gehabt hätten. Sie habe darauf geantwortet: "Jeder Krieg oder solche Anschläge kommen von euch."

Abou Nagie gab sich daraufhin empört. "Also jede Katastrophe, die auf Allahs Erde passiert, kommt durch uns? Möge Allah diese Menschen rechtleiten." Niemand der "Lies!"-Kampagne habe ein Interesse daran, dass Menschen in Europa Schaden zugefügt werde. Einem Passanten, der seine Wut über die Anschläge in Paris gegenüber den bekannten Missionaren Luft verschaffte, antwortete der Prediger ausweichend. Man sei dagegen, dass unschuldige Menschen "in Syrien, Afghanistan, in Palästina und in Europa" getötet würden.

Die Bonner Prediger Said el-Emrani alias "Abu Dujana" und Izudin Jacupovic ("Izudin") verzichteten dagegen ganz auf Beileidsbekundungen oder Verurteilungen der Anschläge. Vor allem versuchten sie mit Vergleichen und Relativierungen bei ihrer Anhängerschaft zu punkten. Die Situation der "Ummah" in Ländern wie Syrien, Burma und Palästina sei viel dramatischer, argumentierte Said el-Emrani. "Wo ist eure Trauer, eure Anteilnahme, eure Solidarität ????? Mensch ist Mensch!!!!!."

Jakupovic ging noch weiter. Er kritisierte die "Munafiqin" (Heuchler), womit er wohl Prediger wie Adhim Kamouss meinte, "die heute mit den Kuffar trauerten und Kerzen anzündeten." Keiner dieser Leute wäre rausgegangen und hätte getrauert, "als die Russen die ersten Bomben auf die muslimischen Kinder in Syrien warfen."

Das Dilemma, in dem die Prediger stecken

Auch wenn sich die meisten Prediger mit Solidaritätsbekundungen bewusst zurückgehalten haben, um Dschihad-Sympathisanten und Hardliner nicht zu provozieren, ernteten sie dennoch massive Kritik aus der Richtung. IS-Anhänger und andere Islamisten brauchten nicht lange, um auf die öffentlichen Stellungnahmen zu reagieren.

Auf Facebook und Twitter prasselten hämische Kommentare auf sie ein. Viele warfen den Predigern vor, sich untertänig und heucherlisch gegenüber den "Kuffar" zu verhalten. Vielmehr habe der "Westen" den Terror durch seine fehlerhafte Außenpolitik im nahen Osten selbst gezüchtet. Auch das Leid der Muslime in vielen Ländern der Welt wurde als Argument verwendet, um vermeintlich zu empathische Aussagen der Prediger anzugreifen.

Vor allem die deutschen IS-Dschihadisten griffen ihre ehemaligen Vorbilder an. "Und Leute die sich dem Wissen zuschreiben, sich Schaikh, Gelehrter oder Prediger nennen meinen, dass sie in diesen Tagen nichts besseres zu tun hätten, als dass sie gegen Muslime hetzen und bei Kuffar schleimen ?? SCHANDE AUF DIE KÖPFE DIESER FALSCHEN PREDIGER", heißt es da auf "Niwelt".

Die Reaktionen offenbaren das Dilemma, in dem die meisten Prediger stecken: Viele von ihnen sind maßgeblich für die Radikalisierung deutscher Dschihadisten und IS-Sympathisanten verantwortlich. Seit sich die meisten Prediger von der Terrororganisation distanziert haben - darunter Vogel, Kamouss und Lau - befinden sie sich in einem Propagandakrieg nicht nur mit ihren muslimischen/nicht-muslimischen Gegnern, sondern auch mit ihren ehemaligen Schützlingen, die sich in ihrer ideologischen Haltung meist auf genau sie berufen hatten. Viele Dschihadisten und Extremisten fühlen sich heute durch ihre ehemaligen Vorbilder verraten.

Es bleibt abzuwarten, ob die Prediger es schaffen werden, mit ihrer nach außen kommunizierten, wenngleich eher unglaubwürdigen Dialogbereitschaft gegenüber der deutschen Gesellschaft, die islamistische Jugend wieder einzufangen.