IS-Kämpfer Silvio K.: "Während ich um mein Leben fürchte"

Silvio K. gehörte jahrelang zum prominenteren Kreis der deutschen Kämpfer des Islamischen Staats (IS). Er veröffentlichte für die Terrororganisation zahlreiche Anashid, Pamphlete und Videos, in denen er dem Westen mit Terror drohte. Doch im Jahr 2016 begann er die Methoden seiner eigenen Organisation in Frage zu stellen. Auch eine angebliche Inhaftierung änderte daran offenbar nichts. Seit Mitte 2017 galt er als verschollen.

Ein Dissident des IS?

Silvio K. soll laut einem Bericht der "Bild-Zeitung" im vergangenen Jahr vom IS exekutiert worden sein. Mehrere Wochen zuvor hatte ein Team von "SpiegelTV" den Dinslakener IS-Kämpfer Marcel B. interviewt, der zuvor von kurdischen Truppen inhaftiert worden war. Darin berichtete er von einem "Abu Hafs", der vom IS hingerichtet worden sei, weil er gegen die Organisation agitiert  habe. Marcel B. selbst habe ihm nach eigener Aussage damals gesagt: "Halt die Klappe, rede nicht, die werden dich hinrichten." Meinte er damit Silvio K.? Vieles spricht dafür, dass es sich um den gleichen Mann handelt, der unter der Kunya "Abu Azzam al-Almani" deutschlandweit Bekanntheit erlangt hatte. In Videos, Anashid und Pamphleten drohte er mit Anschlägen gegen deutsche Ziele und rief Muslime dazu auf, sich dem Dschihad in Syrien anzuschließen.

Wie die "Bild-Zeitung" berichtet, habe K, vor seinem Tod in einem 13-seitigen Traktat erklärt sich von Anschlägen und gezielten Tötungen auf Zivilisten sowie Raubdelikten zu distanzieren. "Ich habe in der Vergangenheit viele Aussagen getätigt und zu vielen Dingen aufgerufen, hinter denen ich heute nicht mehr stehe und die ich so nicht mehr vertrete", zitiert das Boulevard-Blatt K. Es war nicht sein letztes Schreiben.

Im Mai 2017 veröffentlichten IS-Anhänger einen Brandbrief des IS-Kämpfers. Zuvor hatten sie offenbar aus Syrien die Nachricht erhalten, dass der bekannte Propagandist zu Tode gekommen war. Wer ihn getötet hatte wussten sie selbst nicht. Silvio K. hatte ihnen jedoch noch zu Lebzeiten die Schrift geschickt mit der Bitte diese im Falle seines Ablebens zu veröffentlichen. Nur für kurze Zeit kursierte K.'s anonyme Abrechnung mit der IS-Führung in den sozialen Netzwerken, bevor es wieder verschwand.

"Es herrscht Verwirrung"

Silvio K. wendet sich in seiner Schrift direkt an seinen eigenen Anführer, den selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi. Der "Amiru-l Mu'minin" ("Anführer der Gläubigen") solle sich mit einer detaillierten "Klarstellung" zu seiner Aqida ("Glaubenslehre") äußern, so die Forderung des Deutschen. Doch der Anfang seines Briefes verdeutlicht bereits, dass hier ein Hilfloser seinem Herrscher schreibt, der keinen Widerspruch unter seinen Anhängern duldet. K. berichtet von einer siebentägigen Gefangenschaft im Gefängnis des IS-Sicherheitsdienstes. Verwirrung sei dadurch zu seinem eigenen "Bedauern" entstanden. Entlassen worden sei er, nachdem er seine Überzeugungen gegenüber seinen Anklägern dargelegt habe. Keiner hätte ihn dafür kritisiert, so K. Aber: "Jedoch sollte ich in Zukunft schweigen und nicht mehr darüber reden. Das musste ich auch unterschreiben und ich nehme an, dass das in Form einer Art Bewährungsauflage [gleich] kam."

Schweigen, das wollte Koblitz, der selbst als aggressiver Dschihadist bekannt war, offenbar nicht. Und er wusste wohl, was da auf ihn zukommen würde, nachdem ihn seine Vorgesetzten verwarnt hatten. Sonst hätte er seine Kontakte nicht in Deutschland für den Fall der Fälle vorbereitet. In dem 11-seitigen Schreiben an den Kalifen legt er sich ganz offen mit der reliösen Jurispondenz des IS an. Offensichtlich bezieht sich der Deutsche auf eine Grundsatzdebatte innerhalb der Salafisten- und Dschihadisten-Szene, wer denn eigentlich Mu'minin ("Gläubige") und damit Muslime und wer Mushrikin bzw. die Kuffar seien. Oder einfacher ausgedrückt: Ob denn jeder machen könne, was er wolle, sofern es die Kommandeure für legitim erarchteten, ganz gleich, was in den Büchern von Koran und Sunna stehe.

Für Silvio K. ist die Aqida der "richtigen" Muslime klar zu verstehen: Wer Shirk ("Götzendienst") begehe, der sei ein Mushrik ("Götzendiener"). Wer den Mushrik verteidigen würde und ihn dennoch als Muslim betrachte, der sei ein Kafir ("Ungläubiger"). "Ich ziehe in dieser Linie keine Grenze und erkenne keinerlei Entschuldigung durch Unwissenheit oder Zweifel über das Urteil der jeweils vorhergehenden Person an, wenn die Realität klar ist", so K. Diese Grenzziehung teilten offenbar nicht viele in seiner Umgebung.

Er berichtet von seinen Begegnungen mit "Soldaten und Bürgern" des Kalifats, die seine Aqida kritisierten. Er habe immer wieder Personen angetroffen, die Muslime für ihren Shirk entschuldigten mit Verweis auf die Anordnungen und Lehren der IS-Prediger. "So behauptete einst eine solche Person, dass dies die Aqidah von Turki-l bin Ali sei, dem Amir der Dawah und Mufti der Dawlatu-l Islamiyyah ("Islamischer Staat")". Eine andere Person habe ihm wegen seiner Haltung vorgeworfen, dass er mit seiner Aqida dann auch den Takfir ("Vorwurf des Unglaubens") auf den Kalifen, die Großgelehrten des IS und dessen Bewohner anwenden müsse. 

K. berichtet, er habe sich daraufhin an die Kollegen in der IS-Medienabteilung gewandt, die nur geschwiegen hätten. Auf seine Versuche hin Personen zu melden, die Kufr begangen hätten, sei er nur auf Widerstand gestoßen. "Es herrscht Verwirrung in dieser Frage unter den Soldaten und der allgemeinen Bevölkerung und auch viele Träger der Dawah sind verwirrt und verwirren die allgemeine Bevölkerung und die Soldaten der Dawlah", schreibt K. in bislang selten wahrgenommener Direktheit.

"Während ich um mein Leben fürchte"

In den folgenden Passagen kritisiert er offen die durch den IS ausgegebenen Parolen und Anordnungen über bestimmte Begriffe nicht zu diskutieren. Auch hier dominieren die Fragen danach, wer wen mit welcher Begründung zu bezeichnen hat und welche Folgen sich daraus ableiten ließen. Und ob das Wort der obersten religiösen Führer des IS über den islamischen Regeln und Überlieferungen stehen könnten.

"Als Anführer der Gläubigen ist es deine Aufgabe, ya Abu Bakr, und die Aufgabe der dir unterstellten Zuständigen, dafür Sorge zu tragen, dass keiner die Gläubigen in ihren Grundüberzeugungen verwirren kann", wendet sich Koblitz schließlich direkt an den Kalifen. Es sei notwendig, dass diese "Grundüberzeugungen überhaupt einmal klargestellt" würden. Man habe es mit Leuten zu tun, die "aufgrund ihres Urteils über den Dritten oder Vierten und so weiter" in die Irre und vom Glauben abgefallen seien. "Darum ist es nur vernünftig und verpflichtend, darüber zu sprechen und sie zu widerlegen", so Koblitz. Es reiche nicht aus, Stellungnahmen zur Aqida des IS zu veröffentlichen, die "allgemein gehalten werden, dass jeder das gesagte oder geschriebene für sich auslegen kann."
 
K. führt hierzu erneut ein Beispiel an. Eine Person habe in der Diskussion einfach eine Mitteilung der IS-eigenen Nachrichtenagentur "Bayan" angeführt und gesagt: "In diesem Bayan ist der Beweis gegen dich." Eine "Stellungnahme" des Kalifen könne dabei helfen, so der Deutsche, um Missverständndisse auszuräumen und dass "keiner mehr die Möglichkeit" habe ihm etwas zuzuschreiben, was er nicht vertrete. Die Gefahren seines Schweigens hätten bereits Folgen gehabt: Die "Muwahidun" ("Bekenner") müssten sich für ihre "richtige Aqidah" verstecken. Sie würden sich verfolgt fühlen und dazu "letztendlich" gezwungen sein  zu fliehen und "ein Leben in Darul Kufr" ("Land der Ungläubigen") zu bevorzugen, "weil sie hier für ihre Ansichten getötet würden." Einseitige Redeverbote seien nach K. keine Lösung. "Während ich um mein Leben fürchte, wenn ich meine Lossagung von einem offenkundigen Kafir äußere, fühlt der Kafir sich sicher und genießt Redefreiheit", klagt der Deutsche.

Er mache Da'wa und stoße nur auf Widerstand. "Wenn ich Nichtaraber und Jahil diesen gebildeten Arabern in meinem gebrochenen Arabisch die Meinung sage, stehe ich vielleicht nicht sehr viel später vor der Entscheidung, ob ich diese Meinung den Wärtern im Gefängnis sage oder dem Gefängnisrichter...Und wenn ich mich dafür entscheide, dann muss ich befürchten, dass der nächste Kopf, der irgendwo zur Schau gestellt wird, vielleicht meiner ist." Er bete dafür, dass Abu Bakr die Befehlshaber des IS entweder rechtleiten oder "durch bessere" ersetzen würde.

Koblitz gehörte damit zu einem kleinen Kreis von ausgereisten Dschihadisten, die offen Kritik an der IS-Führung übten. Das macht aus ihm freilich keinen Märtyrer oder Freiheitskämpfer. Denn die grundsätzlichen Ziele der Terrororganisation teilte auch er bedingungslos. Doch die offenkundigen ideologischen, politischen und religiösen Widersprüche bei der Einordnung von Freund und Feind, über die sich auch die Salafisten in Deutschland nach wie vor heftig streiten, waren mittlerweile auch ihm aufgefallen. Dass demokratische Willensbildungsprozesse nicht zum Herrschaftskonzept des IS gehörten und dass hinter der religiösen Fassade in Wirklichkeit ein ausgeklügeltes System von Macht und Gehorsam stand, erkannte er offenkundig zu spät.