Die "Munafiqun": Wenn das Leben wichtiger ist, als der Ruf

Der "Islamische Staat" (IS) steht im Nahen Osten mit dem Rücken zur Wand. Ob im Irak oder in Syrien: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Regime seine semi-staatlichen Strukturen endgültig verliert. Doch ohne dauerhaft besetztes Land wird die multinationale Bevölkerung des Kalifats keinen Platz zum Leben finden. Viele Dschihadisten denken deshalb um. 

Niemand kann sich mehr sicher fühlen

Unter Dschihadisten des IS machen sich immer mehr Panik und Zukunftsängste bemerkbar. Die Truppen des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi sind sowohl im Irak als auch in Syrien in arge Bedrängnis geraten. Während sich in Mossul irakische Streitkräfte ins Stadtzentrum vorkämpfen, stehen türkische, syrische und kurdische Armeen im Norden Syriens vor den Grenzen der IS-Hochburgen Raqqa und al-Bab.

Für die geschundene Bevölkerung des IS, ob Ausländer oder Einheimische, bedeuten diese Entwicklungen nichts gutes. Viele sterben durch Luftangriffe oder geraten ins Kreuzfeuer der rücksichtslosen Häuserkämpfe. Die medizinische Grundversorgung und auch andere durch die Terrororganisation angebotene Allimentierungen fallen aufgrund schrumpfender Einnahmen aus Raubzügen und Überfällen zunehmend weg. Hinzu kommt die Paranoia vor dem Verrat. Jeden Tag veröffentlicht der IS Meldungen, Bilder und Videos, die die Verfolgung und Hinrichtung von vermeintlichen Delinquenten dokumentieren. Die Botschaft der IS-Führung ist klar: Niemand kann sich mehr sicher fühlen wegen Querulantentums oder Feindkooperation verfolgt und getötet zu werden.

Auch in der Gemeinschaft der deutschen Dschihadisten im syrischen Raqqa scheint angesichts der ungewissen Zukunft und den vermehrten Säuberungsaktionen durch die IS-Geheimdienste der Zusammenhalt zu bröckeln. Noch immer halten sich dort dutzende Familien aus Deutschland auf. Es sind Kämpfer, (Ehe-)Frauen, Kinder und in mehreren Fällen sogar Menschen im hohen Alter. Viele von ihnen stehen angesichts der prekären Lage vor der simplen aber entscheidenden Wahl: Überleben oder Sterben.

Flucht der Desillusionierten
 

Schon in den letzten eineinhalb Jahren haben sich zahlreiche Dschihadisten mitsamt ihren Familien für das Leben entschieden. Mittlerweile sind über ein Drittel aller nach Syrien Ausgereisten wieder in Deutschland. Die Beweggründe hierfür sind verschieden: Das Schicksal des "Shahids" (Märtyrer) wurde nicht von allen konsequent angestrebt. Die Angst vor dem eigenen Tod zwang sie zur Aufgabe. Zweitens kollidierte die verherrlichende Propaganda des IS allzu sehr mit der Realität vor Ort, sodass Desillusionierte nach ein paar Monaten den Heimweg antraten. Andere flohen, weil ihre Familienangehörigen zu Hause sie zur Besinnung brachten.

Die meisten Geflohenen erkannten aber, dass der Vormarsch der Kalifatsarmeen nicht von langer Dauer sein würde. Das zeichnete sich mit dem Wiedererstarken der irakischen und syrischen Armeen sowie dem Widerstandsgeist von Kurden, Jesiden und arabischen Stämmen bereits vor vielen Monaten ab. Diese Rückkehrer handelten also eher pragmatisch und konnten - so oft geschehen - sich dennoch für ihr Dschihad-Abenteuer in der Salafistenszene rühmen.

Besonders schlecht ist aber die Prognose der deutschen Frauen, die bis jetzt nicht die Flucht aus dem Kriegsgebiet geschafft haben. Sie sind dem Willen und der Verfügungsmacht ihrer Ehemänner völlig ausgeliefert. Werden diese bei Kämpfen getötet, bleiben sie häufig mit ihren Kindern allein zurück und werden in Frauenhäusern, sog. "Häusern der Shuhada", unter prekärsten Lebensbedingungen untergebracht. Sie werden dort wie Gefangene gehalten. Dass viele von ihnen deshalb an Flucht denken, ist wohl kaum verwunderlich. Denn wer nicht bald einen neuen Ehemann und damit Unterhalter findet, dem bleiben nur die Almosen der Terrororganisation.

Die "Munafiqun"
 

Wie ein dem Blog vorliegendes Gesprächsprotokoll zwischen mehreren IS-Anhängerinnen zeigt, liegen die Nerven bei vielen Dschihadisten blank. Das gilt für Männer wie Frauen. Man solle angesichts der vielen "Munafiqun" (Heuchler), die sich ins Ausland abgesetzt hätten aufpassen, mit wem enger Kontakt gehalten werde, heißt es da in einem Facebook-Eintrag. Über eine vormals bekannte Frauenrekrutiererin aus Köln, die nach dem Tod ihres Ehemanns vor rund fünf Wochen gemeinsam mit einer weiteren Person aus dem Frauenhaus in Raqqa in die Türkei geflohen war, wird gemauschelt: "Zuvor nahmen sie Geld aus dem "Haus/Stelle der Shuhada" - nämlich was ihnen als Witwen jeden Monat zustand." In ihren Häusern seien zudem später Zigaretten und andere verbotene Dinge gefunden worden.

In dem Protokoll wird die deutsche IS-Community davor gewarnt, dass "diese Art Frauen" nach dem Tod ihrer Ehemänner in "Zweifeln und Depressionen" verfallen würde. "Nicht etwa, weil sich etwas an ihrer Umgebung änderte, sondern weil viele die falsche Absichten hegten, als sie aufbrachen. Das Vertrauen in Allah fehlt." In Deutschland angekommen, entpuppten sich die meisten dann "als große Verräter, die dem Staat jegliches Material" lieferten.

Über den IS-Rückkehrer und Medizinstudent Anil O. und dessen ebenfalls geflohene Ehefrau (ersterer sagte kürzlich gegen den Prediger Abu Walaa aus) wird gelästert: "[...] Der Herr dachte, er sei aufgrund seines "Medizinstudiums" bevorzugter als der Rest." Er sei nur aufgrund der ihm versagten Prestige-Position aus dem IS geflohen. Allgemein hätte das Paar "keinen guten Ruf" in Syrien gehabt.

Die Gruppendynamik der deutschen IS-Jihadisten scheint also trotz aggressiver Treueschwüre und den Bemühungen um die Aufrechterhaltung von Illusionen einem Wandel zu unterliegen. Konformitätszwänge werden durch Emanzipierung und Selbsterhaltungstrieb zunehmend abgelöst. Zwar heißt das nicht, dass dadurch auch die Ideologien und der religiöse Extremismus verschwinden. Es ist vor allem der IS als Organisation, der seine Anziehungskraft bei seinem Gefolge in Syrien und im Irak mit jeder Niederlage verliert.