Familie im Dschihad: "Die Jugend ist nur mit Popularität zu beeindrucken"

Drei Brüder aus der Türkei schlossen sich dem Dschihad in Syrien an. Wer sie sind und was sie in dem Bürgerkriegsland bislang machten, soll exemplarisch zeigen, wie komplex das Netzwerk von Islamisten in Syrien ist, dessen Verbindungen bis nach Deutschland reichen.

Ein Türke in Aleppo

Im Dezember 2016 herrschte in der syrischen Großstadt Aleppo ein großes Chaos. Syrische Regimetruppen, unterstützt von der russischen Luftwaffe und schiitischen Milizen, rückten in den belagerten Osten Aleppos vor. Dort hielten die Rebellen, ein Sammelsurium von syrischen und ausländischen Kämpfern, nur noch wenige Stadtviertel. Zivilisten, die aus dem Kampfgebiet flüchten wollten, gerieten dabei ins Kreuzfeuer der beiden Konfliktparteien.

Auch Harun Y. gehörte zu den Eingeschlossen in der Stadt. Der bärtige und leicht untersetzte Türke hielt sich in diesen Stunden in einem Haus in Ost-Aleppo auf. Wie soviele seiner Kameraden war auch er verunsichert angesichts der drohenden Niederlage. Denn mit besonderer Milde konnten sie nicht rechnen, wenn sie in die Hände des syrischen Regimes fallen sollten. Vielleicht auch deshalb schickte Harun Y. eine Botschaft in die Welt hinaus. Ein Kamerad filmte ihn dabei mit einer Handykamera. 

"Mir geht es gut, auch wenn uns unsere Anführer verraten haben. Seid nicht traurig, es gibt kein Grund zur Sorge", sagte er in türkischer Sprache. Es sei seine Bestimmung, so wie es "Allah" gewollt habe. "Ich bin nur traurig wegen euch. Ich bin traurig, weil ihr um uns weinen werdet." Mit Tränen in den Augen drehte sich Harun Y. anschließend weg.

Harun Y. im belagerten Aleppo


Wenig später tauchte das Video im Internet auf. Hochgeladen hatte es ein Kanal namens "Sawtul Sham", was soviel heißt wie "die Stimme Syriens". Tausende Nutzer teilten das Video daraufhin, darunter viele türkische Landsleute, die doch so unterschiedlicher nicht sein konnten: Salafisten, Neo-Osmanen und Pan-Turkisten. AKP-Politiker wie Eyüp Gökhan Özekin, die regierungsnahe Tageszeitung "Yeni Şafak" und die turanisch orientierte "Time Turk" waren darunter. Viele Rezipienten reagierten mit Empörung auf Y.'s scheinbar aussichtslosen Situation. Nicht wenige unter ihnen forderten sogar ein Eingreifen türkischer Truppen, um den Fall von Aleppo doch noch zu verhindern. Dass Harun Y. kein Syrer war, spielte für sie keine Rolle.

Denn das Schicksal Aleppos wurde von vielen Türken auch als eine nationalgeschichtliche Angelegenheit betrachtet. In Aleppo lebten vor dem Bürgerkrieg viele Turkmenen. Sie kamen ursprünglich aus der Türkei und blieben nach der Auflösung des osmanischen Reiches in Syrien. Nicht wenige beherrschen daher die türkische Sprache und fühlen sich eng verbunden mit dem Nachbarland. Auch die AKP-Regierung betonte im Laufe des syrischen Krieges, dass sie sich als Schutzmacht dieser ethnischen Minderheit betrachtete und es nicht zulassen würde, dass die Turkmenen in Bedrängnis geraten würden, die sich mehrheitlich auf die Seite der syrischen Opposition geschlagen hatten.

So waren die großen Solidaritätsbekundungen für Harun Y. keine Überraschung. Doch der Mann, der die Emotionen so hochkochen ließ, war nach intensiven Recherchen von "Erasmus Monitor" gewiss kein unbeschriebenes Blatt. 

Rückblick

Im Jahr 2010 berichteten türkische Zeitungen über die Festnahme von Harun Y. und seines Bruders Ayhan Y. Der Grund: Im Juni des selben Jahres hatten die beiden gemeinsam mit einer Gruppe von al-Qaida-Anhängern in Adana einen Anschlag auf den US-Amerikaner Richard M. vorbereitet. "In diesem Land haben Christen, insbesondere die Amerikaner, nichts zu suchen!", soll Ayhan Y. nach Medienberichten dem Bruder am Telefon gesagt haben und den Befehl zur Tatausführung gegeben haben.

Harun Y. hatte auf den US-Veteranen mit dessen Ehefrau an einer Straße gewartet und Schüsse auf das Auto der beiden abgegeben. Er scheiterte und flüchtete danach. Ein Monat später stürmten Spezialkommandos der türkischen Anti-Terror-Polizei zeitgleich Wohnungen in Adana, Istanbul, Antalya und Canakkale. Dutzende Personen wurden dabei festgenommen. Allein in Adana und dem Umland nahm die Polizei 25 Menschen in Gewahrsam. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Sie hätten dem Terror-Netzwerk al-Qaida angehört.

Festnahme von Harun Y. im Jahr 2010


Auch Ayhan und Harun Y. landeten damals im Gefängnis. Denn was sie zuvor nicht wussten: Die Polizei hatte bereits im September 2009 eine Ermittlungsgruppe gebildet. Die Brüder und ihre Komplizen waren daraufhin observiert und elektronisch überwacht worden. Auch den Anruf von Ayhan Y. bei seinem Bruder kurz vor dem missglückten Attentat auf Richard M. hatten die Ermittler aufgezeichnet. 

Doch der Vorwurf des versuchten Mordes war nicht alles, mit dem die Brüder von den Ermittlungsbehörden konfrontiert wurden. Ayhan Y., der bei der Polizei bereits bestens bekannt war unter anderem wegen Diebstahl, Raub, Heiratsschwindelei und Körperverletzung, soll der Kopf der al-Qaida-Zelle gewesen sein. Gemeinsam hätte die Gruppe vor allem junge Mädchen rekrutiert, um sie als Bräute für Dschihadisten nach Afghanistan und in den Irak zu schicken. Mit Picknicks, Islamseminaren, Propagandaschriften und Videos über Trainingslager und Selbstmordattentäter sollte den meist jungen Rekrutinnen der Dschihad schmackhaft gemacht werden. 

Allein sechs der festgenommenen Islamisten hatten laut Anklage bei den Taliban Kampferfahrung gesammelt, darunter auch Ayhan Y., der sich nach eigenen Angaben im Jahr 2007 dort aufhielt. Bei den landesweiten Durchsuchungen fanden die Ermittler zudem eine Vielzahl an Beweismitteln wie Dokumente, Kameras, Speicherkarten und Computer.

Ayhan und Harun Y. blieben zunächst über ein Jahr lang im Gefängnis, bevor im Juli 2011 ein Haftprüfungstermin  anstand. Ein Gericht in Adana lehnte die Entlassung der beiden Brüder aus der Untersuchungshaft ab und setzte für den Herbst darauf einen neuen Anhörungstermin fest. Dann tauchten die beiden Brüder plötzlich ab. Sicher ist, dass Harun Y. im Jahr 2012 nach Syrien reiste. Nach all den Vorwürfen, die gegen ihn und seinen Bruder im Raum gestanden hatten? Die Umstände ihrer Freilassung bleiben letztendlich im Dunkeln.

Dem Blog gelang es aber die Spuren der beiden Brüder zurückzuverfolgen. Es ist eine kleine Familienbiografie, die Ayhan A. unter einem Pseudonym im Jahr 2015 in türkischen Islamisten-Kreisen verbreiten ließ und die "Erasmus Monitor" vorliegt.

"Was bist du für ein Bruder?"

Ihr zufolge kehrte Ayhan Y. nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zunächst in sein Heimatdorf im Norden Adanas zurück. Es soll Karaisali heißen, ein Ort in den Bergen in der Nähe des Nergizlik-Staudamms. Dort hätten die Eltern der beiden Brüder sowie sein jüngster Bruder gewohnt, der damals 14-jährige Huzeyfe Y. Wie Ayhan in seiner veröffentlichten Biografie schrieb, soll es nach seiner Heimkehr zu Streitigkeiten zwischen ihm und dem kleinen Bruder gekommen sein.  Was dieser denn für ein Bruder sei, Harun ganz alleine nach Syrien gehen zu lassen, soll Huzeyfe Ayhan gefragt haben. Der hätte ihm daraufhin entgegnet: "Warum gehst du nicht selbst zu ihm?" Huzeyfes Antwort: "Wenn ich groß bin, werde ich auch zu ihm gehen."

Monate später habe auch Ayhan Y. die Familie verlassen, um seinem Bruder Harun in den Norden Syriens zu folgen. Dort hatten sich zu dem Zeitpunkt bereits zahlreiche Dschihadisten aus dem Ausland eingefunden. Wie Recherchen ergeben, kämpfte Harun Y.  dort mittlerweile für "Jaish al-Muhajireen wal-Ansar" (Jamwa - zu deutsch: "Armee der Auswanderer und Helfer"), die dem tschetschenischen Kaukasus-Emir und al-Qaida-Warlord Doku Umarow treu ergeben war. Neben Harun Y. kämpften hauptsächlich Russen, Dagestaner, Tschetschenen, aber auch Deutsche für die Gruppe. Jamwa galt als kampferprobt, diszipliniert und erwies sich bei Gefechten mit syrischen Regierungstruppen als äußerst schlagkräftig. Viele Städte, die durch syrische Rebellen damals belagert wurden, fielen erst, als die Spezialeinheiten der Jamwa anrückten. 

Harun Y. (l.)/ "Abu Ubaida al-Madani", Emir von Katiba Sayfullah (m.)

Ayhan Y. ließ sich in Atmeh nieder, ein Dorf direkt an der syrisch-türkischen Grenze. Was er zu diesem Zeitpunkt dort genau machte, ist nicht ganz klar. Vieles deutet darauf hin, dass er den Dschihad in Syrien zumindest propagandistisch unterstützte. Vor allem im Internet fand der Mann, der neben der türkischen Sprache auch Arabisch, Englisch und Deutsch beherrscht, unter verschiedenen Pseudonymen eine große Anhängerschaft. Auch viele bekannte Gesichter aus der deutschen Salafisten-Szene waren darunter.

Zu Hause in Karaisali drängte laut Ayhan Y. sein Bruder Huzeyfe immer stärker darauf, ihm und Harun Y. in den Dschihad folgen zu können. Die Eltern hätten jedoch versucht ihn davon abzuhalten. Den Vorschlag der Eltern, Huzeyfe erstmal nach Deutschland zu schicken, dort wo die Ehefrau von Ayhan Y. gelebt haben soll, habe der Teenager vehement abgelehnt. "Der Westen wird in Sham einmarschieren und die Tore von Sham werden gesperrt werden. Ich muss in Syrien sein, bevor Amerika dort einmarschiert", soll Huzeyfe laut seinem Bruder den Eltern entgegnet haben. Eher widerwillig hätte der jüngere Bruder zunächst eine Ausbildung zum Automechaniker angefangen.

Zwischen den Fronten 

Mit seiner Einheit vertrieb Harun Y. in der Zwischenzeit die syrische Armee aus zahlreichen Ortschaften in der Provinz Aleppo und Idlib. Die syrischen Rebellen erlebten mithilfe der ausländischen Dschihadisten einen Siegesrausch nach dem anderen. Türkische Geheimdienste leisteten dabei offensichtlich tatkräftige Unterstützung. Sie lieferten Waffen und Ausrüstung an die Rebellen und ließen sie ungehindert die Grenzen passieren.

Im Jahr 2013 aber wurde Jamwa durch einen erbitterten Machtkampf erheblich geschwächt. Die Anführer von Harun Y.'s Einheit stritten sich über die Rolle des IS (damals noch ISIS), der zunehmend Druck auf die anderen Gruppen aufbaute. Der berühmt-berüchtigte georgische Kommandeur Tarchan Batiraschvili alias Omar al-Shishani favorisierte ein Bündnis mit der irakischen Terrororganisation. Doch Omars Stellvertreter, Sayfullah al-Shishani, verweigerte den Treueeid auf ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi. 

Es kam schließlich zum Bruch innerhalb der Jamwa. Omar al-Shishani ließ sich zum Emir über die IS-Truppen in Syrien ernennen. Daraufhin verließ Sayfullah mit einem Großteil der Jamwa-Anhänger die Gruppe. Darunter war auch offenbar Harun Y. Sie nannten sich fortan "Jaysh al-Khilafa al-Islamiyya" ("Die islamische Kalifatsarmee") oder auch "Katiba Sayfullah" ("Die Sayfullah Brigade") und schlossen mit "Jabhat al-Nusra", dem syrischen Ableger der al-Qaida, ein strategisches Bündnis.

Ayhan und Harun Y.

Hin und wieder traf Harun Y. auch seinen Bruder Ayhan an der Grenze zur Türkei. Das belegen Foto- und Videoaufnahmen der beiden. Dort hatte der älteste mit anderen Dschihadisten ein Haus bezogen und renoviert. Umringt von zahllosen Zeltstädten der syrischen Binnenflüchtlinge, fühlten sich die Brüder hier sicher. Offenbar problemlos konnte zumindest Ayhan Y. mehrmals in die Türkei reisen und bei der Familie nach dem Rechten sehen. Die Justiz in Adana schien kein Interesse mehr an den beiden zu haben. Auch nicht, als Ayhan Y. offenkundig Hilfslieferungen aus Deutschland erhielt.

Ob hinter der Hilfe nur Ayhan Y.'s Ehefrau in Deutschland steckte, so wie er es selbst in seiner Biografie schrieb, ist mehr als zweifelhaft. Dass die türkischen Brüder nicht nur familiäre Verbindungen dorthin pflegten, sondern sich auch mit deutschen Islamisten wie auf Facebook austauschten, dafür gibt es viele Indizien. Zum Beispiel der Hanauer Samet D., der nach Beobachtungen offenkundig mit Ayhan und Harun Y. in Kontakt stand. Im letzten Jahr war Ayhan Y. sogar einer der ersten, der vom Tod des Allgäuer Dschihadisten Erhan A. und dem Frontmann der salafistischen Hilfsorganisation "Helfen in Not" (Spitzname "Sam") berichtete.

Der kleine Bruder

Fast ein Jahr später, Anfang 2015, setzte sich der mittlerweile 17-jährige Huzeyfe laut Ayhan Y. mit seinen Ausreise-Forderungen in der Familie durch. Die insgesamt vier Brüder fassten daraufhin gemeinsam einen Entschluss: Der zweitjüngste Faruk Y., ein Dekorateur aus Gaziantep,  sollte in der Türkei bleiben und sich um die Eltern kümmern. Ayhan wollte sich in Atmeh weiterhin aufhalten, während Harun und Huzeyfe an der Front kämpfen sollten. Und so passierte es dann offenbar auch. Ayhan Y.'s Ehefrau aus Deutschland, so schrieb dieser es zumindest in der erwähnten Biografie auf, ging mit Huzeyfe Y, zu einem Juwelier und verkaufte ihren Schmuck, um ihm die Ausreise nach Syrien zu finanzieren.

Der Teenager überquerte schließlich Anfang Februar 2015 die Grenze zu Syrien und wurde dort von seinen beiden Brüdern in Empfang genommen. Die Älteren unterrichteten ihn daraufhin im Umgang mit Waffen. Harun Y. soll Huzeyfe zudem Militärkleidung und Schuhe gekauft haben. Nach einiger Zeit holte ihn der Bruder zu sich in die Kampfeinheit "Katiba Sayfullah". Es war die lang ersehnte Erfüllung eines Traums für den Heranwachsenden, der doch nur wenige Monate darauf ein  Ende fand.

Allein in Syrien starben bereits über 60.000 ausländische Dschihadisten, wenn man der in internationalen Medien regelmäßig zitierten Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) Glauben schenken will. Wie viele Türken darunter sind ist unbekannt. Es werden wohl mittlerweile Tausende sein. Einer dieser in dschihadistischen Kreisen gefeierten "Märtyrer" sollte  auch  Huzeyfe Y. werden. 

Huzeyfe Y.
"Er hat uns einfach vermisst. besonders mich", äußerte sich sein ältester Bruder Ayhan Y. vor einigen Wochen gegenüber dem Blog. "Wir waren immer wie Vater und Sohn. Er wollte mit eigenen Augen sicher sein, dass es uns gut geht." Harun und er hätten versucht Huzeyfe in die Türkei zurückzuschicken. "Ich habe nie gewollt, dass er überhaupt hierhin kommt." Y.'s Aussagen erscheinen wenig glaubwürdig, wenn man den Werdegang von Huzeyfe Y. weiterverfolgt.

Nach seiner Ankunft in Syrien im Jahr 2015 wurde der damals 16-Jährige durch seine beiden Brüder an die tschetschenisch dominierte Extremistengruppe "Katiba Sayfullah" vermittelt, einer Gruppe, die mit al-Qaida eng verbunden ist. "Wer ihn von hinten sah, hielt ihn für einen erwachsenen Mann mittleren Alters; doch wer dann sein Gesicht sah, erkannte, dass Huzeyfe im Grunde noch ein Kind war", schrieb Ayhan Y. nach dem Tod des kleinen Bruders in einem heroisierenden Nachruf. Und doch schien es für die Familie Y. eine göttliche Bestimmung gewesen zu sein, dass Huzeyfe wie soviele Kinder im Syrien-Krieg die Arbeit eines erwachsenen Mannes verrichten sollte. Fotos zeigen den Teenager in der für junge Dschihadisten so typischen Gangsterpose: mit Handfeuerwaffen und Pilotenbrille, im Hintergrund die Flaggen des Propheten. Ganz so, als sei das alles auch eine Art Urlaub für ihn. "Für ihn war alles interessant und cool", so Ayhan Y. gegenüber "Erasmus Monitor".

"Die Jugend ist nur mit einer Popularität zu beeindrucken"

Die meiste Zeit der insgesamt sieben Monate in Syrien, hielt sich der Jugendliche in der Provinz Idlib auf, durchlief weitere Kampfausbildungen und schloss dort viele Freundschaften zu anderen Kindersoldaten, so zeigen es Bilder. Ob Uiguren, Kaukasier oder Syrer, besonders im Norden Syriens trafen die unterschiedlichen Nationalitäten aufeinander, die sich alle als Geschwister im Glauben betrachteten. Und schließlich waren da noch die erfahrenen älteren Brüder, die Huzeyfe maßgeblich anleiteten.

"Du wirst inshallah viele Kuffar töten", soll Ayhan Y. Huzeyfe aufgestachelt haben, als dieser im Herbst 2015 an die Front nach Aleppo geschickt wurde. Dort eskalierten zu dem Zeitpunkt die Kämpfe zwischen syrischen Regierungstruppen, Kurden und Rebellen um die letzten Versorgungsrouten in den Ostteil der Stadt. Auch Harun Y. nahm an den Gefechten teil. Am Abend des 9. Oktobers fiel Huzeyfe schließlich nahe der Castello-Straße im Nordwesten der Stadt. Ein Kopfschuss eines Scharfschützen aus dem kurdischen Viertel Sheikh Maqsoud.

Nach dschihadistischer Tradition ziemlich gefasst, hatte doch der kleine Bruder die ersehnte "Shahada" (akzeptiert durch Allah) und den Eintritt nach "Jannah" (Paradies) erlangt, begruben Harun und Ayhan Y. den Jungen irgendwo in Syrien. "Die Augen tränen, das Herz trauert; doch wir werden keine Worte von uns geben, welche unseren Herren unzufrieden machen." Aus ihrer Sicht war der Tod von Huzeyfe kein Wendepunkt auf dem Weg des Dschihads, sondern das eigentliche Ziel im Kampf gegen Ungläubige und für die "Selbstverteidigung" des Islam, wie es Ayhan Y. gegenüber dem Blog formulierte. "Es ist nichts falsches daran einem Unterdrückten zu helfen, wenn die Tyrannerei vor den Augen stattfindet." 

Ayhan und Harun Y. trauern um Bruder Huzeyfe
So war es auch nicht verwunderlich, dass Ayhan Y. den Tod des eigenen Bruders propagandistisch instrumentalisierte. Auf Youtube und anderen Plattformen verbreitete er in unterschiedlichen Sprachen Nachrufe und Videos über Huzeyfe. Als Vorbild sollte er den Menschen in Erinnerung bleiben, der für seinen Glauben den eigenen Tod billigend in Kauf genommen hatte. "Der Dschihad bringt den Zeitpunkt des Todes weder näher noch verzögert er ihn. Wäre Huzeyfe hier nicht als Shaheed gestorben, so wäre er woanders trotzdem gestorben", so Ayhan Y. in einem dieser Texte. 

Den Dschihad führten die beiden ältesten Brüder in Syrien folgerichtig weiter. Während Harun Y. in Aleppo mit Kämpfern aus dem Kaukasus Jagd auf syrische Soldaten machte, übernahm Ayhan weiterhin die Rolle des Ideologen und Logistikers. Auf Twitter und Facebook forcierte er die dschihadistische Propaganda unter dem Pseudonym "Sawtul Sham". "Ich bin als Denker auf Twitter bekannt, weil ich einer der wenigen bin, der die Leute vor ISIS warnt", beschrieb er gegenüber dem Blog seine Arbeit. 

Vielmehr habe er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, weil er "die Leute vor Radikalismus" warnen wollte. Dass seine Propagandatexte und Videos über Selbstmordattentäter und al-Qaida-Ideologen nur so von gewaltverherrlichender Rhetorik durchsetzt waren, erklärte er mit bewusster "Übertreibung". "Ich habe es immer so berichtet, als hätte ich es selber gesehen, obwohl ich es nur gehört habe. Der Grund ist simpel: Die Erhöhung der Glaubwürdigkeit. Die Jugend ist nur mit einer Popularität zu beeindrucken", so Y.

Ein seltenes Eingeständnis für einen so erfahrenen Propagandisten des Dschihads, auch wenn dies in seinem Falle nicht gänzlich der Wahrheit entsprach. Offenbar gehörten zu seinem und Haruns Umfeld die selbsternannte Avantgarde der syrischen al-Qaida, so zum Beispiel der Selbstmordattentäter Abdul Aziz al-Turki, den Ayhan Y. nach eigener Aussage in Adana kennengelernt hatte und der sich 2016 neben drei weiteren Dschihadisten für die uigurisch dominierte "Islamic Turkistan Party" in Aleppo in die Luft sprengte.

"Für eine Welt ohne Hungersnot"

 Diese im Fall Syrien häufig anzutreffende habituelle Ambivalenz - die zwanghafte, wenngleich nicht schlüssige Betonung der Zivilcourage und Humanität gepaart mit gewaltverherrlichender Rhetorik und martialischem Auftreten, trieben die Brüder Y. in Syrien noch weiter auf die Spitze. Ayhan Y. machte sich seine Sprachkenntnisse gezielt zu Nutze. Er gründete wie so viele Dschihadisten eine "Hilfsorganisation" namens "Anadolu Der" und nutzte dabei die Anonymität im Internet, um sie zu bewerben und Spenden einzusammeln.

Auch in Deutschland wurde die selbst von Sicherheitsbehörden bislang nicht registrierte Organisation tätig und warb in deutscher Sprache um finanzielle Zuwendungen. "Die Islamische Humanitäre Hilfsorganisation Anatolien wird dafür sorgen, dass eure Hilfen, in welcher Form auch immer, an die Unterdrückten, die Waisenkinder und die Bedürftigen, ohne zwischen ihnen zu differenzieren, weitergereicht werden", hieß es in einer ersten Mitteilung auf Facebook und Telegram Anfang 2016. Offenbar halfen auch deutsche Islamisten Ayhan A. bei der Verbreitung von Aufrufen wie "Ein Opfer: Preis 170 €" oder "Für eine Welt ohne Hungersnot".

Bilder dokumentierten wenig später, wie die Hintermänner von Ayhan Y. Kartons mit den Emblemen seiner Organisation im Norden Syriens verteilten. Doch nur wenige Monate später war bereits schon wieder Schluss mit "Anadolu Der". Sie habe "nicht funktioniert", so Y. gegenüber dem Blog. Auf die Frage hin, ob es denn nicht widersprüchlich sei den bewaffneten Dschihad zu führen und zugleich als ziviler Helfer aufzutreten, antwortete Ayhan, man müsse sich schließlich gegen die Feinde verteidigen.

Ayhan Y. (r.)  mit Selbstmordattentäter Abdulaziz al-Turki

Während Ayhan Y. sich also in der Rolle des humanitären Helfers übte, kämpfte Harun Y. für eine brutale Dschihadistengruppe im belagerten Aleppo. Videos zeigen ihn bei heftigen Gefechten mit der syrischen Armee. Auch dafür hatte sein Bruder Ayhan im Gespräch mit dem Blog eine Erklärung: "Harun war nie an eine Gruppe gebunden mit einem Eid oder ähnliches." Nach Aleppo sei er nur aus Langeweile gezogen und wegen den niedrigen Mietpreisen. "Er hat dort nicht gekämpft. Er wandert mal nach da, mal nach hier. Er ist natürlich genauso gegen Extremismus wie ich".

Und das gescheiterte Attentat auf den US-Amerikaner Richard M. im Jahr 2010 in Adana? "Lügen des türkischen Geheimdienstes und der Gülen-Bewegung", so Ayhan Y. "Diese Angelegenheit wird im Moment beim höchsten Gericht in der Türkei behandelt, ich warte nur den Prozess ab." Harun und er lebten in Wahrheit im Exil. Sie seien 2013 nach Syrien geflüchtet, weil es ihnen "zu dumm" gewesen sei, "für nichts und wieder nichts lebenslang hinter Gittern zu sitzen". Der Richter, der die beiden verurteilt hätte, sitze mittlerweile in einer isolierten Einzelzelle wegen Hochverrats und Korruption. "Nur das mal nebenbei", so Y.

Harun schaffte es im Dezember 2016 schließlich doch noch Aleppo unbeschadet wieder zu verlassen. Eine Vereinbarung zwischen der Türkei und Syrien garantierte den verbliebenen Rebellen freies Geleit aus der Stadt. Seitdem engagierte sich Harun Y. wie sein Bruder Ayhan für salafistische Hilfsorganisationen. Der Rollenwechsel vom Zivilisten zum Kämpfer und umgekehrt: er funktioniert wohl derzeit nirgendwo so gut wie in Syrien.