Frauen beim IS: "Ich ging aus Liebe"
























"Liebe" gehört zu einem häufig genutzten Schlagwort von Dschihadistinnen, wenn sie danach gefragt werden, warum sie sich Terrorgruppen in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Doch das Wort birgt Gefahren. Es weckt Narrative, bei denen Frauen mit stereotypen Charakteren, Rollen und Krankheitsbildern assoziiert werden. Ein großes Problem, wenn es um Fragen nach der eigenen Verantwortung geht.
 
"Das sind alles erwachsene Frauen"

Die Diskussionen über zurückkehrende Dschihadistinnen aus Syrien wird in den kommenden Monaten zunehmen. Nachdem der IS nur noch kleine Gebiete in Syrien hält und Tag für Tag deutsche Männer, Frauen und Kinder sich kurdischen Milizen ergeben, drängt die Zeit auf eine bundespolitische Strategie, wie mit den zukünftigen HeimkehrerInnen umgegangen werden soll. Frauen stehen dabei besonders im Fokus der Öffentlichkeit: Wie konnten sie sich freiwillig in die Umgebung einer archaischen und von Männern dominierten Gesellschaft begeben? Die Antworten bereits zurückgekehrter Dschihadistinnen fielen bislang knapp aus: Die Sehnsucht nach einem besseren Leben, Naivität, Orientierungslosigkeit und - Liebe.

Es sind einerseits normativ hoch aufgeladene Schlagwörter. Denn sie bedienen genau solche Vorstellungen über weibliche Geschlechterrollen, die gesellschaftlich immer noch weit verbreitet sind: Frauen, das schwache Geschlecht, die einfachen Verlockungen abseits rationaler Überlegungen nicht widerstehen können. Doch während hierzulande gegen solche Ressentiments seit Jahrzehnten gekämpft wird, spielen die IS-Rückkehrerinnen genau diese Karte aus. Ein Dilemma für die deutsche Gesellschaft. Denn trotz der wachsenden Akzeptanz gegenüber der Gleichstellung von Mann und Frau, aktivieren schwach wirkende Frauen genau solche Solidarisierungsreflexe (oder auch übertriebenen Hass), die dem Anspruch auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung zuwiderlaufen.

Beim Thema Liebe sieht es ähnlich aus. Berichten Rückkehrerinnen oder in Syrien inhaftierte Frauen, dass sie sich "blind vor Liebe" für ihre Ausreise entschieden hätten, wird das Narrativ des naiven, auf den Blender hereinfallenden "Lieschen Müller" zusätzlich betont. Eine Rückkehrerin, die im Oktober 2018 nach vier Jahren beim IS nach Deutschland zurückkehrte, formulierte gegenüber dem Blog diese Widersprüchlichkeit in einem Satz:

"Das sind alles erwachsene Frauen, die für sich selber entscheiden können und aus Liebe gegangen sind oder weil sie sich dort ein besseres Leben erhofft haben. Genauso wie ich." Es ist eine Aussage, die freilich nicht auf alle Frauen zutrifft, besonders im Hinblick auf sehr junge Frauen. Aber sie offenbart, wie schwer sich sozial konstruierte Rollenzuweisungen in unserer Gesellschaft mit der "Realität" vereinbaren lassen. Und sie widerspricht unserer Erwartungshaltung der unterdrückten Frau in islamistischen Kontexten, beherrscht vom Patriachat - gezwungen zu dienen und zu folgen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie taten es freiwillig.

Wenn wir also ausblenden, was durch gesellschaftliche Sozialisation antizipiert wird, dann stellt sich die Frage, warum Frauen überhaupt Gefühle für die Dschihadisten entwickelten und sich freiwillig für sie in ein von Gewalt beherrschtes Land begeben haben.

"Ich kannte sie von Facebook" 

Liebe weckt viele Assoziationen. Im Duden stehen zum Beispiel mehrere Definitionen: Liebe ist ein "starkes Gefühl des Hingezogenseins" oder eine "starke, im Gefühl begründete Zuneigung zu einem Menschen". Eine andere Beschreibung übersetzt Liebe mit einer "auf starker körperlicher, geistiger, seelischer Anziehung beruhende Bindung an einen bestimmten Menschen, verbunden mit dem Wunsch nach Zusammensein [...]". Wenn wir die vielen Aussagen von Rückkehrerinnen deuten und ernstzunehmen versuchen, geht es diesen um die Beschreibung genau solcher Gefühle. Sie liebten oder verliebten sich und gingen sogar so weit, dass sie sich zu diesem Zweck auch einer Terrororganisation anschlossen. Doch die Wege zum eigenen Glück unterschieden sich.

Romina S., Ex-Frau von Ibrahim B. und Fared Saal
Es gab einerseits solche Frauen, die bereits vor ihrer Ausreise nach Syrien eine Beziehung führten und ihren Männern in den Krieg folgten. Bei ihnen kann angenommen werden, dass ihre Gefühle so stark ausgeprägt waren, dass tatsächlich genannte Gründe wie die Verbundenheit zum anderen und das gegenseitige Vertrauen eine wichtige Grundlage für ihre Entscheidung waren.

Es gab aber auch viele Frauen, die ihre zukünftigen Ehemänner erst nur auf Bildern gesehen hatten, bevor sie diese in Syrien ehelichten. Die typische Kennenlernphase, gemeinsame Freizeitaktivitäten und tiefsinnige Gespäche, all das wurde in Form von Chats und/oder Telefonaten entweder in kürzester Zeit abgehandelt oder aber bis zum ersten Aufeinandertreffen hinausgezögert. Die Frauen waren zuvor über soziale Netzwerke mit den Dschihadisten in Kontakt getreten.

Es gab Vermittlungsbörsen auf Facebook, WhatsApp und Telegram, in denen erfahrenere Frauen ausreisewilligen Geschlechtsgenossinen Kontakte zu Männern vermittelten. Auch die Letztgenannten gingen gezielt auf den sozialen Plattformen auf Brautsuche. Darunter war auch der IS-Kämpfer Mario S. aus Leverkusen, der einer Undercover-Journalistin der BBC nach einem 30-Minuten-Chat bereits die Heirat vorschlug. "If you.come.i will show you beautyfulpleacea and sunrises in shaa Allah,” schrieb er ihr.

"Sie wissen doch sicherlich selber, dass viele Kämpfer von drüben Social Media-Profile hatten und Frauen aus dem Ausland kennenlernen wollten und diese dann dort geheiratet haben. Ich kenne fast nur solche Stories: Im Internet kennegelernt, hijra gemacht, geheiratet. So in etwa ist auch meine Story, nur dass ich vor der hijra geheiratet habe. Damals war das Internet voll mit Kämpfern von drüben. Ich persönlich habe viele Anfragen bekommen, habe das aber ignoriert.", berichtete die erwähnte Syrien-Rückkehrerin gegenüber dem Blog. Wie das genau ablief, erfuhr sie auch über Erzählungen anderer Frauen.

"Ich kannte sie von Facebook", erzählte sie von einem minderjährigen Mädchen namens Gülsen (Name geändert), die sich in einen Kämpfer verliebt hatte. "Sie war einige Jahre schon auf meiner Freundschaftsliste und schrieb mir manchmal, um mir Fragen bezüglich des Fastens oder des Gebets zu stellen. Wie alt sie war, wusste ich nicht. Eines Tages schrieb sie mir auf Facebook, ich solle sie blockieren und ich soll nicht fragen, wieso. Ich fragte natürlich und sie sagte, dass es sehr wichtig sei und sie es mir morgen erzählen würde. Ich blockierte sie und ein, zwei Tage später schickte sie mir eine Sprachnachricht auf Facebook und sagte mit freudiger Stimme, dass sie jetzt in Syrien und total froh sei und gleich von ihrem Mann abgeholt würde." Das Mädchen habe damals einen Tunesier aus Wolfsburg über das Internet kennengelernt und habe sich dann "verliebt [...]" und sei "aus Liebe dorthin gegangen."

Derya Ö.
Die Gesprächspartnerin berichtete über eine weitere Frau, eine etwa 50 Jahre alte Deutsche namens "Susanne" (Name geändert). Auch diese habe sie auf Facebook kennengelernt und mit ihr gelegentlich in Kontakt gestanden. "Sie teilte mir z.B. mit, dass sie einen Asiaten kennengelernt hat und total verliebt sei. Ein Indonesier oder so." Dass die virtuelle Verliebtheit in der Realität ganz schnell verfliegen konnte, musste diese Frau recht bald erfahren. "Ich bekam später eine Nachricht von ihr, in der sie sagte, dass sie jetzt im IS sei und sich scheiden lassen wolle und was sie bei einer Scheidung beachten müsse. Ich fragte sie natürlich was los sei und wen sie geheiratet hat und wieso, weshalb etc....es war wohl ein Türke aus Deutschland, der sie schlecht behandelt hat." Später habe die Rückkehrerin erfahren, dass Susanne lange Zeit in Frauenhäusern des IS gelebt habe und schließlich desillusioniert nach Deutschland zurückgekehrt sei. 

Liebe in der modernen Gesellschaft

Dass sich in diesen Anekdoten das Bild der naiven, fast schon selbst-destruktiven Frau wiederfindet, kann kaum verwundern. Doch wenn man den Bedeutungswandel von Liebe vor allem in den hochentwickelten Gesellschaften betrachtet, täuscht dieser konservative Eindruck. Denn diese Frauen verachten eigentlich die in der kapitalistischen Welt zunehmende Sexualisierung, Freizügigkeit und Bindungslosigkeit von Liebesbeziehungen. Und ihre Wahrnehmung betrifft tatsächlich ein Bündel von empirischen Phänomenen der Moderne.

Die Soziologin Eva Illouz hat nach 20 Jahren intensiven Forschungen zum Thema Liebe eine solche Zeitdiagnose über die Gesellschaft formuliert. Sie spricht von einer "Auflösung (potentiell und realiter) enger und intimer Bindungen", die stark mit dem "Wachstum (realer oder virtueller) sozialer Netzwerke, mit Technologie und einer beeindruckenden ökonomischen Beratungs- und Lebenshilfemaschinerie" zusammenhingen. Durch die "wechselseitige Durchdringung von Kapitalismus, Sexualität, Geschlechterverhältnissen und Technologie" werde eine neue Form von "(Nicht-)Sozialität" hervorgebracht. 

Der kapitalistische Markt und die Konsumkultur würden die Innerlichkeit der Menschen zur einzigen Ebene des Dasein zwingen, "die sich real anfühlt, wobei Autonomie, Freiheit und Genuss in all ihren Formen die Leitfäden einer solchen Innerlichkeit bilden" (Illoiz 2018: 2). Liebe und Sex seien zu Unverbindlichem geworden. Das Internet mit seinen vielen Dating-Seiten und Kontaktbörsen ließe beides zu einer Art Ware im Sinne ökonomischer Auswahl- und Entscheidungslogiken verkommen, derer man sich annehmen, aber jederzeit auch wieder entledigen könne.

Hinzu gesellt sich ein Wandel der Geschlechterrollen. Während früher  dem Mann als Eroberer und der Frau als "Herzensdame" in der Kultur gehuldigt wurde, hat sich seit der Emanzipationsbewegung und der sexuellen Revolution das Bild deutlich gewandelt. Frauen werden nicht mehr in "gute Häuser" eingeheiratet oder fungieren als bloße Repräsentantinnen "erfolgreicher Männer". Mit der zunehmenden ökonomischen Teilhabe entscheiden sie selbst, wer für sie als Partner in Frage kommt. Die Liebesbeziehung oder die Ehe haben zudem ihren soziokulturellen Stellenwert als "unverbrüchliches Band" zwischen Mann und Frau verloren. Die hohen Scheidungs- und Trennungsraten sind dafür ein eindeutiger Beleg. Auch in der westlichen Kulturindustrie spiegelt sich dieser Wandel von Liebe und Bindung in Form des Films, des Theaters, der Literatur oder eben auch des Internets wider, wobei gleichermaßen nach wie vor Stereotype reproduziert werden.

Die Ironie ist, dass viele JihadistInnen, die sich auf die Suche nach festen Partnerschaften machten, über den virtuellen "Markt der Möglichkeiten" mit Unbekannten in Kontakt traten in der Annahme, es handle sich bei allen um ebenfalls nach Nähe und fester Bindung suchende Beziehungspartner. Die romantische Liebe voller Hoffnungen und Erwartungen ließen sie in diesem Punkt die gesellschaftlichen Realitäten vergessen. Mehr noch: Sie bestärkten die Objektivierung der Frau als sexuelle Ware eben desjenigen Systems, das sie speziell im Westen verorteten und das sie verachteten. 

Sie vereinten also die affektiven und voluntären Ambivalenzen zwischen des von ihnen positiv wahrgenommenen "Ideals" - der passiven, treusorgenden und im Gegenzug Schutz und Zuwendungen erhaltenden Frau - und der Nutzung von zwanglosen und unverbindlichen Anbahnungsmöglichkeiten (Facebook etc.). Doch das ist kein Beleg dafür, dass die "IS-Frauen" dumm, naiv oder orientierungslos gewesen seien. Die IslamistInnen konnten sich den sozialen Mechanismen einer Gesellschaft schlichtweg nicht entziehen, in der sie aufgewachsen waren.  

Liebe und Verantwortung

"Ich war dort einfach eine Mutter, Ehefrau und Hausfrau, war kaum draußen, habe dort nichts schönes erlebt oder schöne Erinnerungen, habe Kontakt zu den Muhajirin gemieden so gut wie es ging und habe dort erst gemerkt, in was wir uns da hineingeritten hatten. Aber, auch wenn ich aus Liebe meinem Mann gefolgt bin, habe ich selbst entschieden mit ihm zu gehen und mache ihn nicht dafür verantwortlich."

Wenn es um die thematische Trennung von Liebe und Verantwortung geht, dann trifft die obige Aussage einer Mitte 40-jährigen Jihadistin gegenüber dem Blog den Kern des Problems. Liebe als Motiv im Kontext von Kriminalität oder moralischer Verantwortung ist in Bezug auf die unterschiedlichen Geschlechter sehr stark belastet. Auch in den "offenen" Gesellschaften werden diese seit Jahrhunderten antrainierten Sozialkonstrukte durch diskursive Konflikte ausgetragen. Sexuelle Gewalt (Täter, Opfer) oder Sorgerechtsstreitigkeiten (mütterliche Fürsorge, väterliche Strenge) können hierbei als Beispiele genannt werden, bei der stereotype Rollenbilder  den Blick auf objektive Tatsachen eintrüben lassen können. Manche feministische Gruppierungen kämpfen beispielsweise einerseits für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen, insistieren jedoch gleichzeitig bei der Frage nach Verantwortung nicht selten reflexhaft eine rangniedrigere oder gar unmündige Position der Frau, auf die der Mann einen negativen, wenn nicht gar entscheidenden Einfluss ausgeübt haben möge.

Doch das wäre nur ein Bestätigung für die Narrationen von Frauen, die sich oftmals auch ohne Mann aus eigener Überzeugung mit ihren Kindern Terrororganisationen angeschlossen hatten. Aussagen wie die von Merve S., die dem Hamburger Bilal Z. nach Syrien gefolgt war, sie sei erst 18 und damit nicht im Stande gewesen zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, zielen offenkundig auf solche inszenierten Selbstentmündigungen ab. Sie sollen genau solche Reflexe einer Gesellschaft aktivieren, die es seit Jahrzehnten zu überwinden gilt. Dabei wusste auch sie vor ihrer Ausreise, welche Gräueltaten die Dschihadisten in Syrien begingen und dass ihre eigenen Sympathien für den IS nicht mit denen einer Schwärmerei für eine Musikband zu vergleichen waren. 

Die Liebe zu einem Mann als Motiv für Frauen spielte also nicht die einzige Rolle. Sie ist nur ein Teil eines übergeordneten Konstrukts von Gefühlen, nämlich die Sehnsucht nach einem klar definierten Ordnungsrahmen, in der Rollenpositionen, Funktionen und Verwendungszweck das eigene Leben regeln. Er dient dazu die Gefühle von Einsamkeit, Überforderung und Orientierungslosigkeit zu unterdrücken. "Dass der IS von jungen enthusiastischen Männern und Frauen nur so brodelt, wissen Sie doch besser als ich. Eine Denunziantin, die mit Leib und Seele bei ISIS war, war übrigens erst 20 Jahre alt", berichtete dazu die IS-Rückkehrerin.

"Wenn sie meine Eltern fragen würden, würden diese ihnen erzählen, dass mir Leute eine Gehirnwäsche verpasst und mein Mann mich dazu gezwungen hätte mitzugehen, ich dumm und naiv sei und niemals freiwillig dorthin gegangen wäre. Das erzählen alle Eltern und suchen natürlich nach Sündenböcken [...]."

In Wirklichkeit kommt neben der Bindung zum anderen Menschen auch das ideologische Fundament hinzu, ohne die ersteres gar nicht möglich gewesen wäre. Denn in der islamistischen Szene kommen überwiegend nur die Menschen zusammen, deren Interpretationen und Deutungen der Welt sowie die religiösen Auslegungungen und Praxis identisch sind oder sich dorthin orientieren. Umso mehr ist auch die selbstbewusste Abgrenzung des eigenen Systems zur restlichen Umwelt notwendig:

"Ich habe oft gehört, dass ich nach Arabien gehen soll oder dorthin, wo die Scharia herrscht, wenn ich so herumlaufen will. Leider auch von meinen Eltern. Denken Sie, dass ich dann noch gerne in so einer Gesellschaft leben möchte, in der man niemandem etwas antut, brav seine Steuern bezahlt, die Gesetze einhält und sich um die Bildung seines Kindes kümmert, aber seine Religion nicht friedlich ausüben darf? Islamische Kleidung gehört nunmal auch zur Ausübung der Religion. Als alleinerziehende Mutter und Frau hatte ich es doppelt schwer. So war ich glücklich meinen Mann gefunden zu haben und er hat uns sehr gut behandelt. Wir haben sowieso aus Liebe geheiratet."

Die Funktion von Liebe war also nicht nur ein Bindungsfaktor, sondern sie fügte sich in das soziale System des IS perfekt mit ein, weil sie nach dem selben Prinzip von Struktur und Ordnung funktionierte. Die Frauen füllten einerseits ihre klar definierte Rolle aus - "waren zu Hause, haben ausländische Schokolade zum Kaffee gefuttert und über andere Frauen gelästert und gelogen" - und waren damit auch zufrieden. Andererseits wurden viele von ihnen damit auch ein Teil der Macht-und Herrschaftsstrukturen im IS, die als einzige Komponente zur Durchsetzung von Befehlen und Gehorsam diente. Sie bespitzelten und denunzierten sich freiwillig gegenseitig, maßen sich eine autoritäre Rolle gegenüber anderen Frauen an und antizipierten damit die Funktionsmechanismen des totalitären Systems des IS.

Streben nach Konsistenz

Dies verdeutlicht, dass nicht nur Liebe ein wichtiges Bedürfnis für die Frauen in Syrien war, sondern auch andere Motivationen eine Rolle spielten. Pathologisieren, insbesondere durch Laien, wäre jedoch fehl am Platz, sonst droht der Revisionismus. Religiöser Fanatismus, Liebe oder Gewaltexzesse sind keine Krankheit. Sie sind von vielen Lebensbedingungen abhängig. Achtet man also darauf, die JihadistInnen nicht mit Narrativen wie "schwere Kindheit", "depressiv" oder "naiv" zu stereotypisieren - weil Verallgemeinerungen schlicht nicht möglich sind -, bieten sich bestimmte andere Erklärungsansätze an, die gleichwohl soziologischer und psychologischer Natur sind, ohne dabei einen wertenden Anspruch zu haben.

Die Konsistenztheorie des Psychologie-Professors Klaus Grawe könnte die Mäander von Motivationen der IS-JihadistInnen aus allgemeiner Perspektive erklären. Grawe geht davon aus, dass alle Menschen grundsätzlich nach Konsistenz ihrer psychischen Prozesse streben. Konsistenz wird dabei in vier evolutionär bedingte psychologische Grundbedürfnisse des Menschen differenziert: Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle (die Umwelt verstehen, vorhersehen und beeinflussen können), das Bedürfnis nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung (Erleben von angenehmen bzw. Vermeiden von unangenehmen Situationen), das Bedürfnis nach Bindung (Erleben von lang andauernden emotionalen Beziehungen zu festen Bezugspersonen) und das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung bzw. -schutz (positive Selbstwahrnehmung und Anerkennung durch andere). Die Bedürfnisse können bei jedem Menschen aber unterschiedlich ausgeprägt sein (Grosse Holtforth/Grawe 2004: 9ff.).

Über Annäherungs- und Vermeidungsschemata - also das Herbeiführen (Annäherungsziele) oder Vermeiden von Situationen (Vermeidungsziele) - versuchten Menschen laut Grawe diese Grundbedürfnisse zu befriedigen. In welchem Maße diese Verhaltensschemata ausgeprägt sind, hängt wiederum von der Prägung (Sozialisation) des jeweiligen Menschen ab. Traumatische Erlebnisse (Verletzungen, Zuspruch) können zu bestimmten Verhaltensweisen führen. Hatte eine IS-Anhängerin beispielsweise die Beobachtung gemacht, dass sie von außen Anerkennung bekam, wenn sie "Verräter" in den eigenen Reihen denunzierte, dann griff sie auch immer wieder zu diesem Mittel, um ihren Selbstwert oder die Bindung zu ihrem Mann zu erhöhen. Ein Beispiel für ein Vermeidungsschmeta wäre die Leugnung von Verantwortung (z.b. moralisch) durch die bislang in Syrien inhaftierten JihadistInnen, weil sie sonst durch die öffentlichen Reaktionen oder einem inneren Konflikt mit ihren ideologischen Einstellungen Schuldgefühle vermittelt bekämen, die ihren Selbstwert mindern würden .

Gleichermaßen kommt es auf die Gesamtheit aller individuellen Erfahrungen und Erlebnisse an, die die Schemata unterschiedlich prägen. Hegte beispielsweise eine desillusionierte Frau in Syrien Fluchtgedanken, erfuhr aber dann von zahlreichen Hinrichtungen oder Inhaftierungen von gefassten IS-Deserteuren, verzichtete sie auf Fluchtversuche. Die Vermeidungsziele überwogen also hierbei den eigentlich annäherenden Zielen, von denen letzteres zur eigentlichen Bedürfnisbefriedigung geführt hätten (z.B. Bindung zur Familie, Überlebenswille). Auch in umgekehrten Konstellationen gab es solche Situationen: "Eine dieser Frauen, die diese Lügen über mich erdichtet hat, wollte mit uns mitflüchten. Die Schlepper haben dies nicht akzeptiert, da das zuviel gewesen wäre und wir aufgefallen wäre. Deshalb war sie sauer und ich habe später im Internet gelesen, was die Frauen über mich erzählten. Vor allem eine hat dies verbreitet, die dort als Denunziantin bekannt war und jeden, der nur eine Kleinigkeit kritisiert hat, direkt den Behörden gemeldet hat."

Grawe bezeichnet eine solche Inkonsistenz als "Diskordanz", indem es zu motivationalen Koflikten zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen bzw. -schemata kommt. Das geschieht durch den Prozess des Abgleichs von motivationalen Zielen und den realen Wahrnehmungen. Kollidieren beispielsweise Annäherungsziele mit den anschließenden Erfahrungen, entsteht Inkongruenz, d.h. dass die motivationalen Ziele nicht erreicht werden. Versuchen beispielsweise inhaftiere JihadistInnen durch Einsicht oder Reue Verständnis bei der Öffentlichkeit zu erhalten, sie das Gegenteil aber wahrnehmen (Wut, Hass), könnten bei ihnen negative Emotionen verursacht werden. Die Folge könnte sein, dass sie zu Vermeidungszielen wechseln, indem sie nicht mehr an die Öffentlichkeit gehen möchten.

Reduziert man die Theorie Grawes auf eine allgemeine Interpretation von den Beweggründen der Frauen beim IS, dann waren alle von ihnen auf der Suche nach der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Ob es die Bindung zu einem für sie wichtigen Menschen oder eine sexuelle Anziehung war, das Leben in einer Gesellschaft, in der sie Orientierung, Struktur und Gemeinschaft fanden, oder auch das Streben nach mehr Selbstwert bzw. Selbstüberhöhung. Das bedeutet aber auch: Statt Ferndiagnosen oder Laienpathologie zu betreiben, sollten die Frauen in Syrien ernst genommen werden. Und zwar in jeglicher Hinsicht.

Literatur:

Illouz, Eva (2018): Warum Liebe endet: Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin.

Grosse Holtforth, Martin/Grawe, Klaus (2004): Inkongruenz und Fallkonzeption in der Psychologischen Therapie, in: Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, Jg. 36 (1), S. 9-21.