Der Aufstieg des IS in Syrien sorgt in der Salafisten-Szene für große Konflikte. Besonders in Berlin geraten Prediger und ehemalige Anhänger aneinander.
Der Berliner Prediger
Wenn Ahmad Abul Baraa spricht, dann ist es meist sehr still um ihn herum. Gebannt lauschen seine Zuhörer in der As-Sahaba Moschee seiner festen und energischen Stimme. Abul Baraa, gebürtiger Palästinenser und der in Wirklichkeit Ahmad Armih heißt, ist islamischer Prediger und zählt seit Jahren zu einem der bedeutendsten Wortführer der deutschen Salafistenszene neben Köpfen wie Pierre Vogel, Abu Abdullah und Ibrahim Abou-Nagie. In einem rosafarbenen Eckhaus im Berlin-Wedding predigt Baraa jeden Freitag vor einer Schar von erzkonservativen Gläubigen. Seine Zuhörer sind vor allem männlich, zwischen 20 und 30 Jahre alt und kommen aus dem arabischen und südostasiatischen Raum. Aber auch deutsche Konvertiten zählen zu Baraas Zuhörerschaft.
Der Prediger spricht über Ehe und Sexualität, über Satan und Sekten im Islam, genauso über die Verrichtungen des alltäglichen Lebens nach der strengen Auslegung des Koran. Themen, die vor allem das junge und nach Halt im Leben suchende Publikum interessiert. Doch es gibt auch die andere Seite des scheinbar gemäßigten Predigers.
Zum Beispiel wenn Abul Baraa auf Nichtmuslime zu sprechen kommt. Diese seien „Kuffar“ (Ungläubige) und lebten wie Tiere: unrein und „triebgeladen“. Muslime sollten sich nicht mit Andersgläubigen anfreunden, da sie sonst „verwestlichten“ und zusammen mit den „Ungläubigen“ in die Hölle kämen. „Wenn du nicht daran glaubst, dann mach', dass du weg kommst. Wir reden hier unter uns Muslimen. Wir wissen, dass nach dem Tod das richtige Leben beginnt.“
Die Islamwissenschaftlerin Claudia Dantschke, die 2011 dem Deutschlandradio ein Interview gab, bezeichnete solche Aussagen des Predigers als fahrlässig, da diese „als Aufruf zum Terror, zum Dschihad, verstanden werden können, vielleicht sogar verstanden werden sollen“.
Das Netzwerk
Abul Baraa und die As-Sahaba Moschee werden nicht zuletzt aufgrund solcher Äußerungen vom Berliner Verfassungsschutz intensiv beobachtet. Der Vorsitzende der Gemeinde im Wedding war jahrelang ein Deutschägypter namens Reda Seyam. Der Mann mit dem langen Vollbart und der kräftigen Statur beteiligte sich nicht nur als Geldkurier und Kameramann der Mujahedin im Bosnien-Krieg, sondern wird bis heute auch mit dem Terroranschlag auf Bali im Jahr 2002 mit über 200 Toten in Verbindung gebracht.
Er gehörte zu den meist überwachten Zielpersonen der deutschen Geheimdienste. 2012 reiste Seyam wie viele andere Salafisten von Berlin nach Ägypten. Dort blieb er offenbar nicht lange. Veröffentlichte Videos im Internet zeigen Seyam 2013 als Kameramann des katarischen Nachrichtensenders „al-Dschasira“ in der syrischen Provinz Lattakia mitten unter ausländischen Dschihadisten, die alawitische Zivilisten als Geiseln hielten.
Nach Angaben aus Kreisen des Verfassungsschutzes soll Seyam zudem in der türkischen Grenzstadt Reyhanli eine Zwischenstation für deutsche Dschihadisten eingerichtet haben, die nach Syrien eingeschleust werden sollten. Wegen seines weltweiten Jihad-Engagements genießt Seyam sowohl in der deutschen als auch der internationalen Salafistenszene großen Respekt.
Nach Angaben aus Kreisen des Verfassungsschutzes soll Seyam zudem in der türkischen Grenzstadt Reyhanli eine Zwischenstation für deutsche Dschihadisten eingerichtet haben, die nach Syrien eingeschleust werden sollten. Wegen seines weltweiten Jihad-Engagements genießt Seyam sowohl in der deutschen als auch der internationalen Salafistenszene großen Respekt.
Doch noch ein weiteres bekanntes Gesicht verkehrte lange Zeit neben Abul Baraa und Reda Seyam in der As-Sahaba Moschee. Denis Cuspert alias „Deso Dogg“ besuchte am Anfang seiner Jihad-Karriere des öfteren die Predigten der Salafisten in der Berliner Moschee. Der vielfach vorbestrafte Berliner Gangsterrapper, der sich durch aggressive und Gewalt verherrlichende Lieder Respekt in der Rap-Szene erwarb, bekannte sich 2007 als tiefgläubiger Muslim. Mit Zeilen wie
„Bitte Allah verzeih' mir meine Sünden, zieh mich aus dem Dreck!
Ich bin verzweifelt jeden Tag auf der Suche nach dem Paradies,
Ich wünschte mir den Tod, denn mein Leben war mies (...)“
brach er auf seine Weise mit der kriminellen Vergangenheit. Bei Islamseminaren in der al-Nur-Moschee in Neukölln sowie in der As-Sahaba Moschee begann er sich zu radikalisieren. Salafistische Prediger wie Pierre Vogel erkannten schnell das propagandistische Potenzial in Cuspert. Vogel ermutigte ihn, sich stärker in der Bewegung einzubringen und auch andere Rapper, die vom Weg abgekommen wären, zur Teilnahme an Seminaren zu animieren. Schnell stieg Cuspert in der Szene auf und hielt unter dem Patronym „Abu Maleeq“ selbst Predigten vor überwiegend jugendlichen Zuhörern.
In Form von sog. Anashid – islamische Gesänge – rief Cuspert etwa ab 2010/2011 alle gläubigen Muslime dazu auf, sich dem Dschihad gegen die „Kuffar“ in Ländern wie Tschetschenien und Somalia anzuschließen. Eine weitere Stufe der Radikalisierung bestieg Cuspert mit der Mitgründung des mittlerweile verbotenen Vereins „Millatu-Ibrahim“ in Solingen/NRW. Dort traf sich der Kern gewaltbereiter radikaler Islamisten, darunter auch der wegen Anschlagsplänen verurteilte Österreicher Mohamed Mahmoud. Wieder änderte Cuspert seinen Namen, diesmal in "Abu Talha al-Almani". Nach dem Verbot von „Millatu-Ibrahim“ reiste Cuspert wie der Berliner Seyam und sein Freund Mahmoud 2012 von Deutschland nach Ägypten und von dort schließlich als Dschihadist nach Syrien. Zunächst als Mitglied der Junud ash-Sham, wechselte er schließlich zum ISIS und wurde dort zu einem der prominentesten deutschen Wortführer.
Der Bruderkampf
Waren die Verbindungen zwischen den Berliner Salafisten und denen aus Nordrhein-Westfalen also offensichtlich sehr eng, scheint es mit dem Erstarken der Terrororganisation „ISIS“ zu einem Bruch unter den Glaubensbrüdern gekommen zu sein. Denn standen der Berliner Abul Baraa und andere führende salafistische Prediger wie Abdul Adhim Kamouss (Al-Nur-Moschee) dem Kampf al-Qaida vernetzter Gruppen wie „Jabhat al Nusra“ gegen das syrische Regime tendenziell wohlgesonnen gegenüber (fard al-ayn), verurteilten sie Mitte 2014 mit harten Worten die Raserei des IS. Denn in ihren Augen bestand und besteht der Dschihad in Syrien aus einer klaren Konstellation: die rechtgläubigen Sunniten gegen die ungläubigen Alawiten und das säkulare Regime. Mit den Attacken des ISIS gegen syrische Rebellengruppen wurde diese Vorstellung jäh beendet. Sunniten kämpften plötzlich gegeneinander.
In einer Freitagspredigt im August 2014 griff Abul Baraa in der As-Sahaba Moschee diesen Konflikt auf (Mitschnitt: https://www.youtube.com/watch?v=g14cJu_voPc ). „Diese Fitna-Stifter (Unruhe-Stifter innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft) haben die Muslime, die Mujahedin, gegeneinander aufgehetzt!“, klagte er im Hinblick auf die IS-Kämpfer. Doch vor allem störte ihn die Tatsache, dass ISIS ausgerechnet in den „befreiten Gebieten“ zuschlugen und nicht gegen Assads Truppen. „Schaut mal diese Frechheit: Sie kommen als letzte, haben keine Kämpfe geführt, gehen in Gebiete, die schon befreit sind – liebe Geschwister! -, dann rufen sie ihren Staat aus und bezeichnen die Mujahedin, die diese Gebiete befreit haben als hinterhältig, als Betrüger, als Abtrünnige!“ Die Tatsache, dass der Anführer der ISIS, Abu Bakr al-Baghdadi, von allen Muslimen die Gefolgschaft gefordert habe („Bay'ah“) sei Ausweis dafür, „wie krank diese Köpfe sind“.
Abul Baraa steht noch heute zu diesem Urteil und schließt sich damit auch den Meinungen international bedeutender Prediger der Dschihadistenszene an, die den IS für ihren Terror und Glaubenspraxis verurteilten. Abu Muhammad Asem al-Maqdisi, „der Schlüsselideologe der intellektuellen Jihadistenwelt“ (Combating Terrorism Center), sprach bereits im Juli Baghdadi das Recht auf die eigene Staatsführung und das Tragen des Emir-Titels ab. Auch Abu Qatada al-Filastini verurteilte das Kalifat und kritisierte vor allem die Hinrichtungen der beiden Amerikaner James Foley und Steven Sotloff.
Doch die Folgen dieser Distanzierungen sind nicht zu übersehen. Vor allem die Verurteilung des IS durch Abul Baraa schlug hohe Wellen in der deutschen Salafismus-Szene. IS-Unterstützer aus dem Solinger Lager von Millatu Ibrahim schimpften auf den „Wanderprediger“. Das „Team Tauhid“ warf dem Prediger vor, „den islamischen Staat zu beschmutzen“ und Lügen und Verleumdungen zu verbreiten. „Jene, die nicht nur zu Hause bei den Frauen bleiben; nein, sogar jene, die in den Ländern der Kuffar sitzen und ihre Bäuche auf Kosten der Steuerzahler füllen, werfen den Mujahedin Erfolglosigkeit vor!“, heißt es in einer Stellungnahme des „Team Tauhid“ in Richtung des Predigers. Abul Baraa irre sich in vielen seiner Aussagen oder lüge bewusst über den islamischen Staat.
Offenbar reagierten auch führende deutsche IS-Kämpfer in Syrien auf die Kritik Abul Baraas. Es sind auch ehemalige Anhänger des Predigers, die seine Anspielungen auf die hijra als Pflicht ernstgenommen hatten und erst später in den Solinger Kreis um Millatu Ibrahim wechselten, um sich dort auf den Dschihad vorzubereiten. So veröffentlichte auf einem Twitter-Account ein gewisser „Muhannad Abu Azzam“ eine hochgeladene Bildmontage, auf der drei Männer zu sehen sind. Auf der linken Seite des Bildes sitzt ein rotbärtiger Mann, der das Magazin seiner Kalaschnikow mit Patronen nachlädt. Untertitelt ist der Mann mit dem Namen „Abu Azzam al-Almani“.
"Du hast uns doch radikalisiert"
Es ist Silvio K., der seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird aufgrund konkreter Terrordrohungen und eines Anschlagserprobten Freundeskreises. Wie die meisten Mitglieder von Millatu Ibrahim setzte er sich über Ägypten nach Syrien ab und kämpft seitdem im Dienste der Terrororganisation IS. Auf der rechten Seite des Bildes ist mit Denis Cuspert ein weiterer ehemaliger Glaubensbruder Abul Baraas zu sehen, der durch das Zielfernrohr einer Panzerfaust starrt. Der dritte Mann in der Mitte der Montage ist Abul Baraa selbst, der während einer Predigt zu seiner Zuhörerschaft hinablächelt, über ihm die Flagge mit dem Siegel des Propheten. Viel interessanter sind jedoch die beiden in Großbuchstaben geschriebenen Sätze, die an den Prediger gerichtet sind: „ABUL BARA, DU HAST UNS DOCH RADIKALISIERT... WARUM SAGST DU DICH JETZT VON UNS LOS?“
Es sprechen ohne Zweifel große Enttäuschung und Wut aus diesen Zeilen. Vor allem der zweite Satz legt nahe, dass die beiden Berliner Jihadisten sich von ihrem ehemaligen Prediger im Stich gelassen fühlen. Und das, obwohl Abul Baraa - so scheinen Koblitz und Cuspert zu argumentieren - die Grundsteine ihrer Radikalisierung legte. Eine offenkundige Eskalation.
Es scheint so, dass die Desertierung von deutschen Dschihadisten zum IS eine Spaltungstendenz innerhalb der Salafismus-Szene in Gang gesetzt hat. Die radikalen Prediger distanzieren sich plötzlich von ihren Schützlingen, obwohl diese ihre Handlungs-evozierenden Lehren genau verinnerlicht haben und sich daher in ihrem Tun auch im Recht sehen. Wer Ungläubiger ist und bekämpft werden soll, das wollen aber die Prediger noch selbst entscheiden, auch wenn sie stets explizite Aufrufe zu Gewalt oder dem Jihad in der Vergangenheit vermieden.
Denn trotz der medialen Dominanz von deutschen Salalfisten im Dienste der Terrororganisation ISIS, gilt ein großer Teil der salafistischen Szene in Deutschland zwar als erzkonservativ aber gewaltlos. Doch der syrische Bürgerkrieg und die deutlich konfessionell gezeichneten Konfliktlinien in der Levante lösten innerhalb der Salafistenszene eine Radikalisierungswelle aus. Doch nicht nur die Berliner Prediger um Abul Baraa ist nun mit dem Zorn ihrer ehemaligen Schüler konfrontiert. Auch andere bekannte Predigergesichter wie Abu Dujana, Abu Nagie und Abu Abdullah aus NRW sind ins Zentrum der Kritik heutiger IS-Kämpfer gerückt. IS-Sympathisanten warnen mittlerweile ganze Gemeinden davor, sich weiterhin den "Takfir"-Predigern zuzuwenden.
Neuestes prominentes Beispiel ist der bereits erwähnte Österreicher Mohamed Mahmoud alias Abu Usama al-Gharib, dem Gründer von Millathu Ibrahim und Freund von Denis Cusbert. Im Oktober 2014 veröffentlichte der mittlerweile für den IS in Syrien kämpfende Terrorist auf seinem Twitteraccount eine Stellungnahme, die deutlich macht, wie stark die Dschihadisten in Syrien und Irak die Entwicklungen in der deutschen Salafismus-Szene noch mitverfolgen. Mit der klaren Adressierung "An Abu Dujanah & Co", deren Fleisch vergiftet sei, schrieb Mahmoud anklagende Sätze:
"Fürchtet Allah, o die, die über den islamischen Staat sprechen, während sie unter den Kreuzzüglern leben und Steuern an sie zahlen. Wallahi, selbst wenn der islamische Staat Khawarij beinhaltet: Es ist mir lieber darin zu leben, als unter dreckigen Kuffar und Kreuzzüglern.
"Es schadet uns bithnillah nicht wer uns im Stich laesst oder widerspricht.. so an jedem: (und wer den Jihad führt, der führt ihn nur für sich selbst. Wahrlich Allah benötigt keinen von den Welten) So bist du alleine der Gewinner oder Verlierer".
Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich der Bruderstreit innerhalb der deutschen Salafismus-Szene entwickeln wird.