Deutsche IS-Propaganda: Die Nachlassverwalter

Deutsche IS-Anhänger forcieren angesichts zunehmender Auflösungserscheinungen der Terrororganisation in Syrien und im Irak einmal mehr ihre propagandistischen Aktivitäten. Zahlreiche neue Kanäle werden auf Telegram gestartet. Vieles, was dort veröffentlicht wird, soll offenkundig als Nachlass für kommende Dschihad-Generationen aufbereitet werden. 

Ein Bot für Mohamed Mahmoud

In der vergangenen Woche richteten Unbekannte einen "Bot" auf Telegram ein. Eine automatisierte Interaktionsfunktion des Messengerdienste, das durch bestimmte Befehle des Nutzers vorgegebene Antworten ausgibt. Dieser Bot, der nach der Kunya des österreichischen IS-Kämpfers Mohamed Mahmoud benannt ist, liefert ein halbes Dutzend an Auswahlmöglichkeiten. Unter Kategorien wie "Fajr Unterrichte", "Fiqh al-Jihad", "Hutba", "Widerlegungen", "Vorträge und Ermahnungen" sowie Schriften ("PDFs") werden weit über hundert Dateien von und über den Mann angeboten, der im Jahr 2015 an der Ermordung mehrere syrischer Soldaten beteiligt gewesen war. Produziert wurden die Inhalte wohl in Deutschland, Ägypten, in der Türkei und in Syrien.

Auch wenn nach der Sichtung des Materials feststeht, dass es sich um alte Veröffentlichungen Mahmouds handelt, steht der Bot doch exemplarisch für einen bestimmten Trend in der deutschen IS-Propaganda. Er zeigt, dass die Anhänger des Kalifats allmählich damit beginnen, die Realität auf den Schlachtfeldern in Syrien und im Irak anzuerkennen. Vielmehr soll nun das gerettet werden, was vom IS in spätestens einem Jahr noch übrig bleiben wird: Eine Chronik, die auch nach der Auflösung des Kalifats der islamistischen Nachwelt zugänglich bleiben soll.

Der IS taumelt schon seit Monaten von einer Niederlage zur nächsten und hat längst den Nimbus der Unbesiegbarkeit eingebüßt. Der Zustrom von neuen Rekruten aus Europa und anderen Weltregionen in das IS-Gebiet ist weitgehend versiegt. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen täglich Bilder veröffentlicht werden konnten, die das Leben im Kalifat als einträchtig und friedlich darstellten.

Für die deutschen Dschihadisten, die sich derzeit noch in Syrien und im Irak aufhalten, sind nirgendwo mehr sicher. Den harten Kern der deutschen IS-Szene scheint das drohende Schicksal aber nicht sonderlich zu stören. Besonders diejenigen, die sich seit Jahren im Krisengebiet aufhalten und bislang nicht zu einem Umdenken gebracht wurden, sind trotz der absehbaren Niederlage zu stark überzeugt, ideologisch verblendet und nicht selten zu eitel an ihrem eingeschlagenen Weg zu zweifeln. Zu groß sind der Gruppenzwang und der Konformitätsdruck, aus dem die individuelle Selbstinszenierung des Standhaften resultiert. "Sieg oder die Shahada!", lautet deshalb eine gängige Sprachformel.

Vor allem von den deutschsprachigen Ideologen wie Mohamed Mahmoud, der in Raqqa nicht nur als Chef des Frauenhauses fungierte, sondern auch in der dortigen abbasidischen al-Nur Moschee Predigten hielt, ist ein Umdenken nicht zu erwarten. Vielmehr werden er und die anderen übrig gebliebenen Deutschen bis zum Ende auf fanatische Durchhalteparolen und Imagepflege setzen. Denn es geht ihnen wie so vielen bislang getöteten Dschihadisten auch um ein narzistisches Erbe, welches sie der Nachwelt hinterlassen wollen. Sie möchten nicht in Vergessenheit geraten, sondern als Inspirationsquelle für die folgenden Dschihad-Generationen dienen. Das Internet soll dabei als Archiv fungieren, bei denen sich die IS-Leute sicher sein können, dass ihre Botschaften auch nach ihrem Ableben die Zielgruppe erreichen werden.

 Verzerrte Erinnerungskultur und Erklärungsmuster

Schon seit Monaten veröffentlichten bekanntere deutsche IS-Kanäle mit Namen wie "al-HudHud", "Baqiyya" und "al-Mourabitoun" vor allem ältere Schriften, Bilder und Videos des IS, die auf eine verstärkte Hinwendung zu einer schablonenhaften und verfälschten Erinnerungskultur schließen lassen. Sie sollen die Erinnerungen an die siegreiche Zeit der Organisation und ihre charismatischen Führungspersönlichkeiten wachhalten. Neben der Reproduktion von aktuellen IS-Erzeugnissen in deutscher Sprache wird auch immer wieder an die getöteten Kämpfer aus Deutschland, die "Ritter der Shuhada", erinnert. Wie Nadir H. aus Frankfurt, der als eine Art Poet im militanten Lager der deutschen Salafisten-Szene breite Anerkennung genoss. Auch sein Gefährte Denis Cuspert und dessen rhetorisch platten und aggressiven Anashid werden immer noch regelmäßig veröffentlicht.

Während die Deutschen in den vergangenen Jahren auf der Erfolgswelle des IS ritten und das Kalifat als unbesiegbare und zugleich wachsende Globalmacht anpriesen, reicht die heutige Erinnerungskultur aber bei weitem nicht aus. Verlierer bleiben Verlierer, das wird auch dem fanatischsten der Sekte mittlerweile bewusst geworden sein. Die Organisation ist auch trotz ihrer religiösen Legitimationsbasis und des Fanatismus ihrer Anhänger nicht vor natürlichen Gruppendynamiken geschützt. Das haben die Fluchtwellen und Desertionen auch von zahlreichen deutschen Dschihadisten aus dem IS-Territorium deutlich gezeigt. Daher versuchen die  Propagandisten ihrem Publikum neben der Erinnerungskultur auch den rasanten Niedergang der Organisation zu vermitteln. Folgende dominierenden Deutungsschemata  lassen sich dabei grob einteilen:
Das Narrativ der höheren Gewalt: Die Niederlagen des IS werden theologisch hergeleitet. Die "Muslime" seien abhängig von "Allahs Wille" und würden durch eben diesen durch die Rückschläge geprüft werden. Angelehnt ist dieses Narrativ an die Aqida, also dem Fundament der islamischen Glaubenslehre. Der Muminin (der Gläubige), wie sich auch die IS-Anhänger stolz bezeichnen, unterliegt dabei besonderen Prüfungen durch Allah, die in Form von negativen Erfahrungen oder persönlichen Rückschlägen in Erscheinung treten. Der Gläubige soll dadurch seine Schwächen erkennen (z.B. Aufrichtigkeit vs. Wankelmut oder Angst vs. Mut). Die IS-Anhänger betrachten sich dabei im Angesicht der Niederlage und des eigenen Todes als die Aufrichtigen, die Schmerzen erleiden und doch "geduldig" (sabr) darauf warten, dass sie Allahs Lohn ernten. 
Das Baqiyya-Narrativ: Niederlagen und Siege sind das Ergebnis der höheren Entscheidungsmacht, sind also schicksalhaft und damit folgerichtig. Denn die Idee des Kalifats wird nicht als Kurzzeit-Projekt, sondern als ein phasenweiser und hürdenreicher, über viele Jahre andauernder Prozess beschrieben. Der Slogan "Bleibt bestehen!" (baqiyya), mit dem seine Anhänger häufig auf den Ausruf "Dawla al-Islamiyya" antworten, kann daher aus strategischer Perspektive auch als spirituelles Motto umgedeutet werden: Auch wenn das Kalifat als territorial abgrenzbares und semi-staatliches System nicht mehr existieren sollte, wird der Kampf fortgesetzt bis ein neues entsteht. 

Der eigene Tod als Märtyrer und der Eintritt ins Paradies gilt schließlich als die Erfüllung der göttlichen Belohnung für den Kampf einer islamischen Weltherrschaft. (Dieses Denken beschreiben IS-Anhänger folgendermaßen: "Wir führen den Jihad alleine und verteidigen unsere Ehre und Religion. Wenn wir siegreich sind, dann ist es ein Sieg für die Religion, und wenn wir getötet werden, dann sind wir Märtyrer und halten Fürsprache für uns, wenn wir Allah treffen")
Das Dabiq-Narrativ: Die deutsche IS-Propaganda verweist regelmäßig auf die Freund-Feind-Konstellation. Auf der einen Seite steht das Kalifat mit seinen "Mujahidin" und seinen Bewohnern. Auf der anderen Seite steht eine weltumspannende und zahlenmäßig weit überlegene Koalition aus Christen (USA, Russland, Europa) und "Söldnern" (die arabischen Nationen), die den Kampf gegen die "Muslime" maßgeblich unterstützen. Die christlich dominierten Staaten werden als "Kuffar" (Ungläubige), "Tawaghit" (frei: satanistische und ungläubige Herrscher im Westen) und "Kreuzzügler" bezeichnet, die den Islam (also das Kalifat) mit dem Ziel bekämpfen, die Muslime unter das eigene Joch des Unglaubens zu zwingen. 

"Es lässt sich nicht leugnen, dass die USA, Russland oder Deutschland die mächtigsten der Erde sind [...]. Alleine durch diese drei Staaten kann man erahnen wie mächtig Dawlatul Islam in den letzten Jahren geworden ist", lautet eine Erklärung. Der IS stehe ganz allein im Kampf gegen die "Feinde des Islam". Die muslimisch geprägten Staaten am Golf sind der Deutung nach "Marionetten" der USA und Israels und werden auch auf der religiösen Ebene bedarfsweise als "Sahawat" (Erwachung; nach IS-Def.: "Söldner des Westens") bezeichnet und des Unglaubens bezichtigt. Das erzkonservative Saudi-Arabien wird neben der Türkei für die "Zwietracht" (fitna) unter den "Muslimen" im Dienste der "Kuffar" hauptverantwortlich gemacht. Die Zuweisung von Freund-Feind-Bildern, Täter-Opfer-Rollen sowie Einer-gegen-Alle-Konstruktionen docken stark am Dabiq-Mythos aus den Hadithensammlungen der Kutub al-Sittah und der Sahih al-Bukhari an, in der die Prophezeiung des Propheten von einer endzeitlichen Schlacht zwischen zahlenmäßig unterlegenen Muslimen und einer übermächtigen Koalition der Ungläubigen im syrischen Ort Dabiq überliefert wird.

Das Narrativ des Verrats: Die IS-Propaganda weist auch den sunnitischen "Geschwistern" eine maßgebliche Verantwortung für den Niedergang des Kalifats zu. In Syrien werden Rebellengruppen wie die "Freie Syrische Armee", "Ahrar al-Sham" und der mächtige al-Qaida-Verband "Hayat Tahir al-Sham" als "Murtadin" (Abtrünnige vom Islam), "Koalitionskomplott" oder "Sahawat" bezeichnet, da diese Gruppen nicht nur den Eid auf den Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi verweigerten (Bay'a), sondern seit Jahren mit dem IS militärisch im Clinch stehen. Da das Kalifat als einzige legitime Heimat der "rechtgeleiteten" Muslime angesehen wird, werden abweichende Interessengruppen als Verräter stigmatisiert, die sich des "kufr" schuldig gemacht haben, also den Propheten und den Koran leugnen. 

Aber auch allen anderen Muslimen einschließlich der Salafisten, die außerhalb des Kalifats leben, ja schlimmer noch, die unter der "Rute der Tawaghit" stehen und nicht die "hijra" (Reise in das gelobte Land) vollzogen oder den Dschihad zumindest unterstützt haben, werden mit diesen Stigmata belegt. Somit gilt auch die "Fitna" unter den sunnitischen Muslimen als ein zentrales Argument der deutschen Propaganda als der Erklärung für die Niederlagen des IS.

Effektiver lassen sich diese Deutungsmuster durch eine große Anzahl von Medienablegern transportieren, um die Rezipienten mit einem scheinbar eindimensionalen Diskursraum zu konfrontieren, an dem sie sich orientieren sollen. Seit einigen Wochen wurde hierfür eine Vielzahl weiterer deutschsprachiger Plattformen ins Leben gerufen, die nach intensiver Beobachtung wohl nur von einem kleinen Personenkreis gesteuert werden. Sie heißen unter anderem "al-Fath Media", "al-Burhan Deutsch", "Blackflag", "Generation Awlaki" und "Qawl al-Haqq" und bilden mit den bereits genannten Propaganda-Kanälen die dominierenden "Informationsplattformen" in der deutschen IS-affinen Öffentlichkeit. Ihre Mitgliederzahlen, das sei zur bedeutungsspezifischen Einordnung nebenbei bemerkt, bewegen sich im niedrigen bis mittleren dreistelligen Bereich.

Es lässt sich also feststellen: In der deutschen IS-Propaganda zeichnen sich Tendenzen der Erinnerungskultur ab, d.h. ein gewisser Realitätsbezug der Verantwortlichen zu den aktuellen Entwicklungen in Syrien und im Irak zeichnet sich ab. Es werden zahlreiche ältere Beiträge veröffentlicht. Es geht um Selbstinszenierung und Durchhalteparolen. 

"Würdigt ihre Arbeit, in dem ihr sie teilt und behaltet immer im Hinterkopf, dass diese Videos nicht der Belustigung oder dem Zeitvertreib dienen", heißt es dazu auf der Plattform "Al-HudHud", auf der den "Mujahidin, Kameramännern, Bearbeitern und Übersetzern" für ihre "wertvolle Arbeit" gedankt wird.