Frankfurter "Bilal-Gruppe": Auf der Suche nach der wahren Glückseligkeit

Frankfurt am Main gilt neben Städten wie Hamburg, Bremen und Berlin als Hochburg des deutschen Salafismus. Stadtteile wie Sossenheim, Bockenheim und Gallus sind zu Synonymen des deutschen Dschihad-Tourismus geworden. Dutzende junge Männer und Frauen von hier reisten nach Syrien, um sich Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) und Jabhat al-Nusra anzuschließen. Großen Einfluss auf diese Entwicklung dürfte ein junger Deutsch-Kurde gehabt haben. 

Der geborene Anführer

Er trifft sich regelmäßig mit den Spitzenvertretern der deutschen Salafisten-Szene. Mittlerweile ist der Frankfurter Bilal G. im Kreise von Predigern wie Pierre Vogel, Ibrahim Abou Nagie und Sven Lau kaum mehr weg zu denken. Der Deutsche aus kurdischem Elternhaus hat es innerhalb von wenigen Jahren geschafft zum „Manager“ des größten islamistischen Netzwerks in Deutschland aufzusteigen. In Videos von „Die Wahre Religion“ tritt der 26-jährige regelmäßig als „Botschafter“ und Propagandist der vom Verfassungsschutz beobachteten „Lies!“-Aktion in Erscheinung.

G. würde man im boulevardesken Sinne als ein "Alphatier" bezeichnen. Aufgewachsen im Frankfurter Stadtteil Sossenheim, gilt er da bereits in seiner Jugendgang als Wortführer. Er ist forsch und selbstbewusst. ihm fällt es offenkundig leicht mit dieser Art zahlreiche neue Gesichter um sich zu scharen. Das war früher so und ist auch heute noch sein entscheidende Stärke, die er geschickt für die Interessen der Salafisten einzusetzen weiß.

Doch harmlos ist Bilal G. deswegen noch lange nicht. Im Alter von 19 Jahren wird er wegen versuchten Totschlags und mehreren Raubüberfällen zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch viele seiner Freunde wandern hinter Gitter. Erst im Gefängnis entschließt er sich zu einem radikalen Wandel in seinem Leben. Er wird praktizierender Muslim, lässt sich einen Bart wachsen und diszipliniert sich wie zum Eigenbeweis mit einer Diätkur.

Nach seiner Entlassung wird Bilal G. durch den Palästinenser Ibrahim Abou Nagie systematisch zum Aushängeschild eines „geläuterten Muslims“ aufgebaut. Als ehemaliger Krimineller und Vertreter eines systematisch sozial benachteiligten Milieus aus einem der Frankfurter „Problemviertel“ soll er dafür sorgen, dass noch mehr Leute seinem Beispiel folgen und sich der sektenähnlichen Gruppierung der Salafisten anschließen. 

Mit zunehmenden Rekrutierungserfolg im Rahmen der Koranverteilungsaktion „Lies!“, erhält G. von Abou Nagie und anderen Predigern des 2012 verbotenen Netzwerks „DawaFFM“ immer mehr Verantwortungsbereiche. Er managt nicht nur die Produktion hunderttausender Koran-Neudrucke, sondern fungiert fortan als „Teamleiter“ der „Lies!“-Rekruten im Rhein-Main-Gebiet. G.'s Erfolg lässt sich mittlerweile auch empirisch beobachten. Denn die „Bilal-Gruppe“ in Frankfurt hat in den letzten drei Jahren zahlreiche Anhänger an militante Dschihadistengruppen in Syrien verloren. 

Im Visier der Sicherheitsbehörden

Einer von ihnen ist der 16-jährige Enes Ü. aus dem Frankfurter Stadtteil Bockenheim. Als Teenager schließt er sich der Gruppe von Bilal G. an und beteiligt sich an zahlreichen Aktionen der „Lies!“-Bewegung. 2014 entscheidet er sich nach Syrien zu gehen und schließt sich dort den Kämpfern des IS an. Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft wird er von syrischen Soldaten erschossen. Ein anderer, der Deutsch-Kosovare Kreshnik B., der ebenfalls bei G. als Koranverteiler aktiv gewesen sein soll, wird Ende 2014 wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Doch könnten die beiden nur Zufälle sein?  

Ein Kenner der Frankfurter Salafisten-Szene berichtet „Erasmus Monitor“, dass Bilal G. im Verdacht stehe, mit seinen professionellen  Rekrutierungsstrategien junge Leute gezielt für den Dschihad vorzubereiten. Gemeinsam mit den einschlägig bekannten Predigern aus Frankfurt (Pierre Vogel, Abdellatif Rouali), Düsseldorf (Sven Lau), Bonn (Said el-Emrani, Brahim Belkaid), Köln (Ibrahim Abou Nagie) und dem Medienprofi Sabri B. A. übernehme G. eine Art Scharnierfunktion beim bei der Radikalisierung naiver Neuzugänge.

Doch diese Ansicht erfährt auch deutlichen Widerspruch. Ein Aussteiger aus der Frankfurter Salafisten-Szene, der selbst mehrere Jahre lang in der „Lies!“-Gruppe von Bilal G. aktiv gewesen ist, hält den Einfluss des 26-jährigen auf die Entscheidungen seiner Schützlinge für begrenzt. „Ich persönlich denke, die Entscheidung für den Dschihad ist nicht auf die „Lies!“-Kampagne zurückzuführen.“, so der junge Mann, der 2013 den Ausstieg aus der Gruppe geschafft hat. Der Entschluss für den Dschihad sei in den „allermeisten Fällen“ eine persönliche Sache jedes Einzelnen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt diesem Argument gegenüber, dass das „Lies!“-Projekt häufig zur „Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung der Betroffenen“ maßgeblich beitrage, auch wenn es viele unterschiedliche Wege hin zu einem militanten Salafismus gebe. Bilal G. jedoch, so merkt das Amt an, unterhalte zahlreiche Kontakte zu ausgereisten Dschihadisten. Allgemein schätzt das Bundeskriminalamt (BKA), dass mittlerweile über 25 Prozent der rund tausend Syrien-Reisenden vorher am „Lies!“-Projekt beteiligt gewesen sein sollen.

Diejenigen, um die es vor allem geht – die nach Syrien Ausgereisten aus der Bilal-Gruppe -, wollen sich auf Nachfragen zu den genannten Vorwürfen nicht äußern. „Kein Kontakt zwischen uns und euch Kuffar“, so die Reaktion eines Frankfurters. Dennoch hat „Erasmus Monitor“ versucht über einige Akteure mehr in Erfahrung zu bringen. 

 „Bis die schwarze Flagge über dem Bundestag weht“

Da ist zum Beispiel Riza Y., über den das Blog bereits berichtet hat. Er hat sich dem IS angeschlossen und veröffentlicht regelmäßig Propaganda-Material auf seiner Facebook-Seite. Ein selbst gefilmtes Video zeigt ihn offenkundig bei einer Razzia in einem Haus. An einer Wand stehen dutzende Kartons und Behälter. Sie sind prall gefüllt mit Zigarettenstangen aus Armenien und Griechenland. Offenbar wurden diese vom IS unter Beteiligung von Y. von syrischen Schmugglern beschlagnahmt worden.
„As salam aleikum“, sagt Riza dabei in das Mikrofon seiner Kamera, während er beginnt die meterlange Mauer von Schachteln entlang zu laufen. „Bei uns - in Dawla Islamiyya  - gibt es keine teuflischen Zigaretten“, verkündet er mit entschlossener Stimme. Tabak ist nach der strengen Auslegung der IS-Anhänger genauso wie Alkohol strikt verboten. Sie sind haram. Während unter dem IS Schmugglern der Tod droht, müssen ertappte Raucher oder Trinker Peitschenhiebe als Bestrafung fürchten.

Frankfurter Riza Y. (l.)/ Enes Ü.
So will Riza Y. offenbar zeigen, wie entschlossen er und seine Mitstreiter sind, die Scharia im Herrschaftsbereich des IS durchzusetzen. Es geht aber auch um Prahlerei. Nicht nur seine Freunde, sondern auch die Öffentlichkeit sollen sehen, wie konsequent der IS die die Scharia umzusetzen weiß. Denn der IS ist letztlich nur eine Fortsetzung und Umkehr zugleich: Inszenierten sich viele IS-Anhänger vor ihrer Radikalisierung als "Bad Boys", die wie in Frankfurt in Limousinen, mit Goldketten oder gar Pistolen prahlten (dafür aber auch nicht selten Gefängniserfahrung vorzuweisen haben), treten sie nun in Syrien mit außerordentlichen Machtausstattung als "die Guten" auf.

Riza Y. wird schon lange von Sicherheitsbehörden beobachtet. Die Fragen danach, ob er gefährlich ist und auch zur Verübung von Anschlägen in Deutschland bereit wäre, drängen sich angesichts der Aggressivität und Brutalität der Sprache nahezu auf. Bilder im Internet legen nahe, dass der ehemalige Gallus-Bewohner bereits an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist. So ist Riza Y. auf einem Foto zu erkennen, wie er mit einer Kalaschnikow vor einem stählernen Käfig in der Innenstadt von Manbij im Norden der Provinz Aleppo posiert. Hinter den Gitterstäben stehen verängstigte Zivilisten, die von Anwohnern und IS-Kämpfern umstellt sind.

„Für keinen Luxus dieser Welt werde ich nach Deutschland zurückkehren, in ein Land, in dem Schwule Bürgermeister werden können“, antwortet er auf Nachfrage von „Erasmus Monitor“. Es werde keinen weiteren Kontakt geben, „bis wir bei euch sind und die schwarze Flagge über dem Bundestag weht“. Doch die schweren Rückschläge des IS in Syrien und im Irak scheinen auch Riza nachdenklicher gemacht zu haben. Man habe zwar Gebietsverluste im kurdischen Kobane und in der irakischen Stadt Tikrit hinnehmen müssen. Doch er glaubt auch, dass der IS gleichermaßen in anderen Teilen des Iraks und Syriens vorrücken würde. „Dieses Kalifat wird niemals zugrunde gehen!“, schwört er fest. 

Ahmet T. findet zur "Glückseligkeit"

Rizas Kumpel Ahmet T. reist Ende 2014 in einer weiteren Welle von Frankfurtern nach Syrien. Wahrscheinlich hält er sich derzeit zusammen mit Riza Y. in Manbij auf. Der gebürtige Deutsche mit tunesischen Eltern stammt wie sein Kumpel aus dem Gallusviertel. Seit 2013 stand er auf der Frankfurter Zeil und verteilte Korane. Bilal Gümüs achtet in dieser Zeit offenbar sehr auf den Jugendfreund, den er persönlich zu den Salafisten lotst. Auch erkennt er früh das propagandistische Potenzial in Ahmet T., der im Gegensatz zu ihm das Gymnasium besucht, aber dennoch das Leben eines Kriminellen gelebt hat.

Ahmet T. (l.), Sven Lau (m.), Bilal G. (r.)
„Ich war ein Gymnasiast, der um sechs Uhr morgens von seinen Straftaten nach Hause kam und um acht Uhr auf der Schulbank saß“, erzählt Ahmet T. lachend Bilal G. in einem Video für „Die Wahre Religion“. Er habe dabei das Privileg gehabt „die Kehrseite der Medaille zu betrachten“: „Auf der einen Seite die bösen Jungs aus dem Ghetto und auf der anderen Seite die reichen Kiddies aus dem Waldorfviertel.“ T.'s Augen versteinern einen kurzen Moment: „Doch auch diese reichen Kinder und Jugendlichen waren trotz der Tatsache, dass sie Anwaltssöhne oder Ärztesöhne waren, nicht glücklich.“

Erst als er gesehen habe, dass zwei drogenabhängige Klassenkameraden von ihm durch die Frankfurter Salafisten aufgenommen und rechtgeleitet worden seien, habe er langsam zur "wahren Glückseligkeit" gefunden und mit seiner kriminellen Vergangenheit gebrochen. Durch viele Gespräche, das Lesen des Koran und das Anschauen von Videos auf der Plattform „Die wahre Religion“, sei er zum Glauben zurückgekehrt, so T. 

Fortan übernimmt der Deutsch-Tunesier eine Art Unterstützer-Funktion neben Bilal G. Er tritt in zahlreichen Videos auf und führt neue „Lies!“-Rekruten in die „Da'wa“-Arbeit ein. G. und der Prediger Sven Lau sind hochzufrieden mit der Entwicklung von Ahmet. „Noch vor einem Jahr habe ich Da'wa mit ihm gemacht, habe ihm einen Koran und CDs zum Lesen gegeben“, erzählt Bilal G. dem Düsseldorfer Lau vor der Kamera, während Ahmet T. mit Shahada-Mütze auf dem Kopf den beiden geschmeichelt zuhört. „Ahmet war damals nicht bei klarem Verstand, subhanallah. Er hat einen Zopf gehabt und war an beiden Kopfseiten kahl rasiert, Sünder hoch zehn. Und heute hat er bereits fünfzehn Menschen durch die Da'wa zum Islam gebracht.“ Sven Lau nickt begeistert. „Allah Akhbar, durch die Gunst Allahs“, so dessen Kommentar.

Ahmet T. in Syrien
Ahmet T.'s schnelle Radikalisierung ist allein durch die Veränderung seines Aussehen zu beobachten: Sein Bart wird mit der Zeit dichter, seine Haare länger, auch seine Klamotten tragen immer häufiger die Symbole der militanter Islamisten. Das Ergebnis: Heute dient er in Nordsyrien mit seinen Frankfurter Freunden Riza und Mustafa als Soldaten des IS. Doch weitere ehemalige "Lies!"-Kollegen könnten sich bei ihnen aufhalten, wie das dritte Beispiel zeigt.

„Sie ist jetzt in Syrien“

Das dritte Beispiel ist Duygu D., eine 25-jährige Frankfurterin. Am 21. März verschwindet sie spurlos aus der Stadt. Ihre Eltern und Freunde sind verzweifelt. Denn D. hat sich wahrscheinlich der Terrorgruppe IS angeschlossen, so ihre Vermutung.

Ihre Ausreise hat die junge Deutsch-Türkin offenbar minutiös geplant. Tage vor ihrem Verschwinden verschenkt sie all ihre Habseligkeiten. Selbst ihren geliebten Hund gibt sie weg an einen Freund. Sie brauche das nun alles nicht mehr, sagt sie ihrem Vater. Den wirklichen Grund verschweigt sie ihm. Am Frankfurter Bahnhof steigt sie in einen Reisebus und durchquert halb Europa. Sie fährt durch Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland bis sie schließlich den Bosporus erreicht.

Am Istanbuler Flughafen „Atatürk“ steigt sie aus, wie die Auswertung der Überwachungsvideos später zeigen wird. Wenige Minuten später holt sie ein Taxi ab. Am Steuer soll ihr Freund Selcuk G. gesessen haben. Er und Duygu kennen sich schon viele Jahre in Frankfurt.
Selcuk G.

Selcuk G., auch aus Frankfurt-Gallus, ist einer von zahlreichen ehemaligen „Lies!“-Aktivisten aus Bilal G.s' Umfeld, die sich dem IS angeschlossen haben. Seine Freundin will er mit ins Kalifat nehmen. Er und andere heiratswillige deutsche Männer in Syrien und Irak warten auf solche Frauen wie sie. Denn nicht nur der Kampf für den IS hat sie in den Djihad gelockt, sondern auch die Aussicht auf eine oder mehrere Bräute.

Doch ist Duygu tatsächlich eine dieser Frauen, die die Boulevardmedien als „Terrorbräute“ brandmarken? Vater Kazim D., ein Journalist aus Frankfurt, zweifelt daran. Von „Entführung“ spricht er über das Verschwinden seiner Tochter gegenüber Medienvertretern. Selcuk G. habe Duygu gezwungen mit nach Syrien zu kommen. Bei ihrem letzten Zusammentreffen sei sie glücklich und ausgeglichen gewesen. Sie habe ihn um Geld gefragt, um den Führerschein machen zu können. Doch wahrscheinlich ist dieses Geld für andere Zwecke bestimmt gewesen.

Als Selcuk G. und Duygu D. miteinander in Richtung Syrien davon fahren, soll ersterer den Eltern seiner Freundin noch eine SMS geschickt haben. „Sie ist jetzt hier in Syrien“, teilt er ihnen mit. Doch diese fragen sich später ungläubig, was ihre Tochter in diesem Land zu schaffen hat, in dem ein brutaler Bürgerkrieg tobt.

Kurze Zeit nach Duygu D.'s Verschwinden reist Mutter Nevin S. in die Türkei. Dort hat der Fall für einigen Wirbel gesorgt. Denn der Krieg in Syrien und im Irak hat auch tausende junge Türken in den Dschihad gelockt. Die Medien interessieren sich für den Hilferuf von Duygus Eltern. Tränen überströmt wird Nevin S. am Atatürk Flughafen von Verwandten abgeholt. „Gib mir meine Tochter zurück“, schluchzt sie verzweifelt, während Kamerateams sie zu einem Auto begleiten. Doch ihre Tochter bleibt bis heute verschollen.

Anmerkung: Der Beitrag wurde aufgrund inhaltlicher Fehler mehrmals überarbeitet.