Kampf um Idlib: Die letzte Hochburg der Dschihadisten

Im Norden Syriens halten sich nach wie vor dutzende deutsche Dschihadisten auf. Sie blieben aufgrund der Kämpfe gegen den "Islamischen Staat" (IS) weitgehend unbeachtet in der medialen Öffentlichkeit. Doch nun könnte sich die Situation ändern. Das syrische Regime bereitet offenbar eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Idlib vor. Viele Islamisten könnten zur Flucht gezwungen werden. Wohin werden sie gehen?

Die letzte Hochburg der Jihadisten 

Der deutsche Dschihad steht nach knapp fünfjähriger Präsenz in Syrien vor einer entscheidenden Wende. Während noch vereinzelte deutsche IS-Kämpfer und ihre Familien in kleinen Gebieten im Osten des Landes ausharren, gerät nun eine Gruppe von Deutschen in den Fokus, die seit Jahren relativ unbemerkt agieren konnte. Es handelt sich um Menschen, die sich nicht dem IS angeschlossen haben, sondern konkurrierenden Rebellen- und Dschihadistengruppen, die in der nordsyrischen Provinz Idlib aktiv sind. Während sich die publizistische Öffentlichkeit vor allem auf die marodierenden Deutschen beim IS konzentrierte, bauten sie in Zentralsyrien in den letzten Jahren ein eigenes Herrschaftsgebiet auf.

Doch das könnte sich nun bald ändern. Das syrische Regime von Bashar al-Assad bereitet offenbar eine Offensive auf Idlib vor. In den vergangenen Wochen wurden tausende Soldaten der Armee zusammengezogen und die Aufständischen und Bewohner in der Provinz mittels Flugblättern zur Kapitulation aufgefordert. Nachdem es der Regierung in den vergangenen Monaten gelungen ist mithilfe von iranischer und russischer Militärunterstützung die wichtigsten Gebiete in Syrien wieder unter ihre Kontrolle zu bringen spricht vieles dafür, dass sie nun mit Idlib die Rückeroberung der letzten Hochburg der Aufständischen anstrebt. Die Folge könnte eine neue große Flüchtlingswelle sein. Nicht nur die syrischen Einheimischen wären davon betroffen, sondern auch die vielen ausländischen Dschihadisten, die sich derzeit noch mit ihren Familien in Idlib aufhalten.

Es sind Menschen aus Europa, Afrika, Asien und dem Nahen und Mittleren Osten. Sie würden im Falle einer Vertreibung vor der Entscheidung stehen, wohin sie gehen werden. Eine fast unlösbare Aufgabe, zumal viele von ihnen in ihren Heimatländern gesucht werden und mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen.  Einzig die Türkei könnte für sie einen (temporären) Rückzugsort bieten. Die Grenzen zwischen ihr und Syrien sind immer noch mithilfe von Schleusern passierbar. In den vergangenen Monaten konnten so auch deutsche Jihadisten in die beiden Staaten ein- und ausreisen. Doch auf Dauer wird wahrscheinlich auch die Türkei gegen den Zustrom von radikalen Islamisten vorgehen. Fanatisierte Jihadisten würden daher wahrscheinlich nach Wegen suchen, sich in andere Konfliktgebiete abzusetzen oder sich im Untergrund reorganisieren.

Nach den Erfahrungen mit den IS-RückkehrerInnen könnte dies die Sicherheitsbehörden vieler Staaten im Falle einer solchen Entwicklung vor die nächste große Herausforderung stellen. Denn auch die Dschihadisten in Nordsyrien, die nicht für den IS gekämpft haben, sondern sich programmatisch nach der von Aiman al-Zawahiri angeführten al-Qaida orientieren, gelten als verroht und kompromisslos. Sie akzeptieren wie die IS-Kämpfer Terroranschläge gegen "Ungläubige" und lehnen die kulturellen und politischen Institutionen der meisten Länder ab.

Sollten sie durch russische und syrische Armeeverbände aus Idlib vertrieben werden wäre es zudem nicht überraschend, wenn sie die westlichen Staaten und ihre Verbündeten dafür verantwortlich machen würden. Syrische Rebellen und Dschihadisten werfen seit Jahren angesichts der Militäraktionen des Assad-Regimes insbesondere den USA und den europäischen Staaten Untätigkeit und den Verrat eigener Werte vor, weil sie nicht wie im Fall Libyen militärisch zugunsten der Aufständischen intervenierten. Umso größer wäre das Risiko, dass sich Dschihadisten aus Rachemotiven auf westliche Ziele konzentrieren und mit Terroranschlägen versuchen könnten, ihr Scheitern in Syrien propagandistisch zu kaschieren. 

Aufrufe zur Unterstützung

Wie viele deutsche Dschihadisten in Idlib derzeit noch leben ist unklar. Behörden gehen von einer hohen zweistelligen Zahl aus. Sie sind in der gesamten Provinz verteilt und gehören unterschiedlichen Milizen an. Vor allem Deutsch-Türken stellen einen großen Teil der Ausgereisten. Hinzu kommen Deutsche mit kaukasischen und osteuropäischen Wurzeln. Wie sie sich organisieren und miteinander interagieren, entzog sich bislang weitgehend dem Blick von Beobachtern außerhalb von Geheimdiensten und Ermittlungsbehörden. Klar ist, dass es kleine Gruppen von Deutschen und auch anderen deutschsprachigen Europäern in Idlib gibt, die über längere Zeit miteinander zusammenleben und gemeinsam an militärischen Operationen teilnehmen.

Die meisten Männer verdingen sich als Kämpfer für das Dschihadisten-Bündnis "Hayat Tahrir al-Sham" (HTS), das durch die ehemals als "Nusra Front" bekannte "Jabhat Fatah al-Sham" (JFS) angeführt wird. Dabei scheinen die Deutschen recht eigenständig agieren zu können. Offensichtlich sind sie aufgrund mangelhafter Unterstützungsleistungen durch HTS sogar auf Eigeninitiative angewiesen.  Im Internet warben sie in den vergangenen Monaten nachdrücklich um Geldspenden für den Kauf von Kampfausrüstung wie Gewehre, Munition und schusssichere Westen, "da wir es meistens finanziell nicht alleine schaffen alle benötigte Ausrüstungen zu kaufen", wie es auf einem Telegram-Kanal von ihnen verlautbart wurde. Mithilfe prominenter Persönlichkeiten der Dschihadisten wie dem saudischen Prediger Sheikh Abdullah al-Muhaysini und dem HTS-Ideologen "Abu Zubayr al-Ghazi", untermauerten sie zudem ihre Aufrufe. Denn die Deutschen rechnen schon seit geraumer Zeit mit einem Vorstoß der syrischen Armee auf Idlib. Sie wollen darauf vorbereitet sein. Und sie zählen dabei auf die Unterstützergemeinde in Deutschland.

Aber auch in den Reihen der mit HTS verbündeten Gruppen wie die "Turkistan Islamic Party" (TIP) sowie die kaukasisch dominierten Milizen "Liwa al-Muhajireen wal-Ansar" (Lamwa) sowie "Junud ash-Sham" (JaS) sollen deutsche Kämpfer aktiv sein. Erst im Juni dieses Jahres hatte ein "Abu Ibrahim al-Almani" im TIP-Magazin "Turkistan al-Islamiyah" einen Artikel veröffentlicht, der zur Solidarität mit den Uiguren sowie zum Kampf gegen die chinesische "Tyrannei" aufrief. Die Konkurrenzen und strategischen Differenzen, die zwischen den Dschihadisten herrschen, führten außerdem dazu, dass sich einige Deutsche auch als "unabhängig" bezeichneten und sich im Falle von militärischen Operationen nur temporär unterschiedlichen Kampfgruppen angeschlossen haben.

Die unübersichtliche Verteilung von ausgereisten Deutschen bei den unterschiedlichen Milizen in Idlib führt umso mehr zu einer unklaren Gemengelage. Denn die ideologischen Ausrichtungen, Organisations- und Vernetzungsgrade sowie die operativen Ziele der Gruppen unterscheiden sich mitunter stark voneinander und sind auch von regionalen sowie herkunftsspezifischen Motiven abhängig. Wird offiziell für Syrien vor allem ein "Verteidigungs-Dschihad" proklamiert, betrachten die meisten Gruppen diesen nur als Beginn eines globalen Kampfes gegen die Ungläubigen und die "Taghut"-Regierungen.

Auch deutsche Dschihadisten bekennen sich dazu, dass der Bürgerkrieg für sie nur eine Etappe darstellt. Egal, ob sie in Syrien scheitern oder Erfolg haben würden. Man werde danach einfach zu einem neuen Ort des Dschihads weiterziehen. Den Kampf zu beenden kommt für einige von ihnen also nicht in Frage. Es wäre dann nicht auszuschließen, dass sie sich im Falle einer Flucht aus Syrien  internationalen Netzwerken anschließen und auch auf terroristische Mittel zurückgreifen könnten. In Idlib leben viele ausländische Veteranen, die Kampferfahrung in anderen Ländern gesammelt haben. Sie kämpften bereits in Afghanistan, Tschetschenien, Libyen, im Irak und im Jemen. Den Deutschen standen über Jahre hinweg genügend Ansprechpartner und Kontakte zur Verfügung, um sich international zu vernetzen.

Die Türkei im Zentrum der Aufmerksamkeit

Noch ist das Risiko einer neuen terroristischen Dynamik unabhängig vom IS erst einmal spekulativ. Doch der Tod des russischen Botschafters Andrei Karlov in der Türkei, der von einem türkischen Polizisten 2016 in Ankara erschossen wurde, zeigt auch das organisatorische Potenzial der Gruppen in Idlib. Der Täter war höchstwahrscheinlich ein Sympathisant der Extremistengruppe JFS. Sein Motiv war die Rache für die Beteiligung der russischen Luftwaffe an der Eroberung von Aleppo. "Vergesst nicht Aleppo. Vergesst nicht Syrien. Ihr werdet nicht sicher sein [...]", soll der Attentäter während seiner Tat unter anderem gerufen haben.

Andere Staaten und auch die Dschihadisten werden deshalb vor allem das Verhalten der Türkei in den kommenden Wochen und Monaten genau beobachten. Wie wird sie reagieren, wenn syrische Truppen in Idlib einmarschieren sollten? Bislang versuchte die Regierung einerseits mittels diplomatischer Absprachen mit Russland "Deeskalationszonen" in Idlib einzurichten, um ein Vorrücken der syrischen Armee zu verhindern. Andererseits unternahm sie Versuche mithilfe syrischer und turkmenischer Söldnergruppen die Übermacht der Dschihadisten einzuhegen. Ein Balanceakt für Ankara, weil viele Türken insbesondere im Süden des Landes mit den Islamisten sympathisieren. Hunderte haben sich zudem den Dschihadisten in Idlib angeschlossen. Viele RückkehrerInnen leben außerdem bereits offen oder im Untergrund im Land, auch deutsche. Die AKP-Regierung, die sich lange Zeit als Schutzmacht von Idlib präsentierte, müsste also mit Vergeltungsaktionen rechnen, wenn sie den Aufständischen in Nordsyrien die Rückendeckung endgültig entziehen sollte.

Gleichermaßen wird es darauf ankommen, ob die Türkei im Fall eines Zusammenbruchs in Idlib ihre Grenzen kontrollieren kann. Sollte es Schleusern gelingen, ausländische Dschihadisten aus Nordsyrien in das Land zu schleusen wie es bei vielen IS-RückkehrerInnen der Fall gewesen ist, könnte sich die Sicherheitslage in der Türkei respektive in anderen Ländern deutlich verschlechtern. Tausende Islamisten mit Kampferfahrung würden dann im Land leben oder versuchen von dort aus in andere Staaten weiterzureisen. China soll deswegen bereits dem syrischen Regime Unterstützung bei einer möglichen Offensive in Nordsyrien zugesagt haben. Der Grund ist die uigurische Diaspora, von der sich in den vergangenen Jahren auch mit türkischer Unterstützung Tausende der TIP in Nordsyrien angeschlossen haben und damit drohen den Dschihad in China weiterzuführen.

Auch die deutschen Sicherheitsbehörden dürften die aktuellen Entwicklungen in Nordsyrien aufmerksam verfolgen. Die Türkei galt für sie bislang als sehr schwieriger Kooperationspartner, wenn es um die strafrechtliche Verfolgung deutscher Dschihadisten ging, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben. Mit einer neuen Fluchtwelle dutzender Deutscher über die Grenze wären die Behörden mit einer unübersichtlichen Lage konfrontiert. Auch die Dschihadisten in Idlib werden als Sicherheitsrisiko betrachtet. Niemand weiß genau, wie sie sich nach einer Niederlage verhalten könnten, ob sie versuchen nach Deutschland zurückzukehren oder andere Pläne verfolgen werden. Mittelfristig denkbar wäre auch eine Vernetzung und Kooperation zwischen den jahrelang tief verfeindeten deutschen al-Qaida- und IS-RückkehrerInnen.