IS-Kämpfer Harry S.: "Woher ich komme, hast du keine Chance"

Wer waren die Personen, die in einem deutschen IS-Video im vergangenen August zu Attentaten in Deutschland aufriefen? Die "Welt" enthüllte zunächst die Identität von Yamin A.-Z., der mit dem Österreicher Mohamed Mahmoud zwei syrische Soldaten hinterrücks erschoss. Nun ist nach Recherchen von "Radio Bremen" klar: Die Bremer Harry S. und Adnan S. sollen in dem Video als Fahnenträger fungiert haben. Bereits im Juli hatte "Erasmus Monitor" zu Harry S. recherchiert. Ein Überblick.

"Nur weil der schwarz ist oder was?"

Am 20. Juli setzt ein Flugzeug auf der Landebahn des Bremer Flughafen auf. Als Harry S. durch die Sicherheitsschleuße läuft klicken bei ihm die Handschellen. Gegen ihn liege ein Haftbefehl vor, eröffnen ihm die Fahnder. Er sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung und habe somit an der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat mitgewirkt.

Harry S. schien schon in der Türkei gewusst zu haben, was ihn in Deutschland erwarten würde. Ein Freund hatte ihn zum Flughafen Izmir gefahren und ihm viel Glück gewünscht, so laut einem Facebook-Eintrag. Zuvor urlaubte er bei ihm an der türkischen Ostküste und ließ sich im weißen Muskelshirt sowie in kurzer Hose fotografieren. Hinter ihm das türkisblaue Mittelmeer.

Doch nun ist der Urlaub für Harry S. vorbei. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn. Er soll beim IS gekämpft haben. Der türkische Freund und Mitwisser stritt dies noch im Juli auf Nachfrage von "Erasmus Monitor" vehement ab. "Das ist Gelaber man, der war hier in Izmir. Was für ISIS, was für Syrien [...]? Sieht der so aus wie ein Terrorist oder was? Nur weil der schwarz ist oder was?"

Fahnenträger in Mordvideo

Vielleicht wäre diese Strategie auch aufgegangen, hätte nicht der Chef der deutschsprachigen IS-Propaganda Mohamed Mahmoud ein Video im darauffolgenden August hochgeladen, das weltweit für Entsetzen sorgte.

Darin schießen Mahmoud und der Bonner Yamin A.-Z. zwei syrischen Kriegsgefangenen kaltblütig nieder. Hirnmasse fliegt durchs Bild, die beiden lachen grimmig. Hinter der Kamera standen zu dem Zeitpunkt mutmaßlich auch Harry S. und sein Bremer Freund, der damals 25-jährige Adnan S. Zu Beginn des Mordvideos sind die beiden als Fahnenträger des IS zu sehen.

Das Video belastet Harry S. schwer. Sein Anwalt Udo Würtz, der "Bremen Radio" ein Interview gab, bestreitet jedoch, dass sein Mandant bewusst nach Syrien gegangen sei, um Menschen zu töten. Harry sei der Propaganda erlegen, habe aber in Syrien schnell gemerkt, dass die Realität ganz anders ausgesehen habe, so der Anwalt. 

Überhaupt wolle der Bremer in seiner Zeit in Syrien nicht einen Schuss aus seiner Waffe abgegeben haben. Nach Gesprächen mit verletzten IS-Kämpfern in einem Krankenhaus, sei er schließlich zur Besinnung gekommen und habe Syrien auf schnellstem Wege wieder verlassen, so der Anwalt. Bei Freunden kam er schließlich unter.

Es ist nicht das erste Mal, dass Harry S. sich von seinen Fehltritten vermeintlich geläutert zeigt. Betrachtet man den Verlauf seines bisherigen Lebenswegs wird schnell klar: Traumata, Armut, Kriminalität und die vergebliche Suche nach der eigenen Identität, trieben den Bremer fast zwangsläufig in die Hände der Terroristen. Wenn man seinen Ausführungen glaubt.

Schwere Kindheit

Harry S.'s Leben lässt sich auch im Internet nachverfolgen. Ein Video, das britische Islamisten veröffentlichten und bei dem S. über seinen Lebensweg befragt wird, liefert Informationen, die unter Vorbehalt als authentisch eingestuft werden können.

Demnach wächst S. in ärmlichen und tief zerrütteten Verhältnissen im Bremer Stadtteil Osterholz-Tenever auf. Mutter und Vater, strenggläubige Christen, siedeln in den 1980er Jahren aus Ghana nach Deutschland über. In Bremen trennen sie sich. Die Mutter lernt wenig später einen US-Amerikaner kennen. Er soll Verbindungen zur Bremer Unterwelt gehabt haben. Als Vierjähriger durchlebt Harry S. deswegen sein erstes Trauma: Ein Spezialkommando der Polizei stürmt die Wohnung der Familie und verhaftet den Stiefvater vor seinen Augen. Er sieht ihn danach nie wieder.

Harry S. (l.)
Mehrere Jahre später erscheint sein leiblicher Vater wieder auf der Bildfläche. Er ist für ihn nur noch ein Fremder, wie S. erzählt. Fortan erfahren er und seine Geschwister eine brutale Kindheit. Sie werden geschlagen, während die Mutter jeden Tag bis tief in die Nacht malochen geht.

In der Schule erlebt der Deutsche wegen seiner Hautfarbe rassistische Anfeindungen. Er lernt sich zu wehren, schießt selbst aber oft über das Ziel hinaus. In der Mittelstufe folgt der nächste Schlag für ihn: Sein älterer Stiefbruder soll bei einer Auseinandersetzung erschossen worden sein. Es sei für ihn ein einschneidendes Erlebnis gewesen, so S.

Der Traum von einem besseren Leben

Trotz guter Noten und dem Besuch eines Gymnasiums, will Harry S. Fußballspieler werden. Viele hätten gesagt, er habe großes Talent. Der große Traum von ihm: Er will später einmal für Werder Bremen spielen. Fast jeden Tag trifft er sich mit Freunden aus seinem Viertel auf dem Bolzplatz. Doch in einem Milieu, in dem der Ausländeranteil hoch und die Aufstiegschancen gering sind, gleitet er schnell in die Kriminalität ab.
Im Alter von zwölf Jahren soll er erstmals Straftaten begangen haben. Mit seinen Freunden überfällt er Läden, steigt in Häuser ein, stiehlt Autos und vertickt Drogen auf der Straße. Er fliegt von der Schule. Die Mutter schickt ihn auf eine bekannte Bremer Privatschule. Vor allem deutsche Kinder aus gutem Hause trifft er dort. Wieder erfährt Harry Rassismus und Ausgrenzung. Er bricht die Schule ab.

Ohnehin haben sich seine ambitionierten Zukunftspläne fundamental geändert. Nicht mehr das Fußballspielen, sondern das Leben eines Gangsters mit Geld, Frauen und schicken Autos lockt ihn. Seine Lieblingsfilme sind Mafia-Schinken wie "Good Fellas", "Training Day" oder die Serie "Sopranos".

Er wechselt seinen Freundeskreis. Es sind vor allem Araber, Russen und Kurden, mit denen er zusammen abhängt. Sie rauchen und trinken exzessiv. Harry S. will kaum noch geschlafen haben. Die Nacht wird für ihn zum Tag. Der Drogenrausch macht ihn mehr und mehr aggressiv. Zu Hause will er der Boss sein. Mutter und Geschwister kommandiert er herum. Grenzen ziehen könnte nur ein Vater, doch der hat sich bereits schon wieder davon gemacht. Gut fühlt sich Harry S., wenn der Familie Geld aus seinen Raubzügen zusteckt.

"Du siehst hier schwarze Männer"


Doch seine Straftaten werden ihm zunehmend zum Verhängnis. Für zwölf Wochen kommt er in den Jugendarrest. Monate später folgt eine zweite Haftstrafe. Seine Mutter ist ratlos und zieht radikale Konsequenzen. Die Familie verlässt Deutschland und zieht nach London. Trotz Problemen mit der Sprache lernt S. das Leben in Großbritannien erstmal zu schätzen. In einem Video für eine britische Salafisten-Bewegung beschreibt er das so:
"Ich sah dort viele Leute mit dem gleichen afrikanischen Hintergrund, wie ich ihn hatte. Sie hatten Chancen. Woher ich komme, hast du keine Chance. Du siehst hier schwarze Männer, die in Banken arbeiten. Du siehst schwarze Männer, die Busfahrer sind. Du siehst schwarze Männer, die Taxifahrer sind. Du siehst schwarze Männer in allen sozialen Bereichen."
Er beschließt sein Leben noch einmal zu ändern und schreibt sich am College ein. Doch London ist teuer, die Familie lebt weiterhin in Armut und muss häufig umziehen. Nur der tiefe Glaube soll ihr Halt gegeben haben. Mehrmals in der Woche gehen sie in die Kirche und nehmen an Bibeltreffen teil. Harry S. aber zweifelt weiter. Er möchte zurück nach Deutschland. Doch der Mutter zur Liebe bleibt er. Die will, dass er Ingenieur wird und schickt ihn an ein technisches College. Dort trifft Harry S. schließlich auf Muslime.

Es soll ein asiatischer Freund gewesen sein, der ihn mit dem Islam vertraut machte. Harry S. liest den Koran und ist fasziniert. Vor allem sind es die Gefährten Muhammads - die Sahaba -, die ihm imponieren. Mit einem von ihnen, Bilal al-Habashi, ein freigelassener Sklave aus Afrika, kann er sich besonders identifizieren.
"Als ich von ihm hörte, dachte ich diese Religion muss anders sein. Wie kommen diese Menschen enger zusammen als wir Christen? Wir hatten getrennte Kirchen für Schwarze und Weiße, wir kamen nie so zusammen wie die Muslime."
S. beschließt zu konvertieren. Es ist ein schwerer Schritt für ihn. An Weihnachten sagt er es seiner Familie. Die ist geschockt, beschimpft ihn als Terroristen. Seine Mutter wirft ihn aus dem Haus. Er irrt durch London und schläft auf Parkbänken und in Bussen. 

Harry S. (l.)

Zwei Tage später kehrt er wieder zurück. Das Verhältnis zur christlich-fundamental orientierten Mutter sei angespannt geblieben. Wieder hätte es schwere Konflikte um seinen neuen Glauben gegeben und er habe das Haus wieder verlassen. 

Er zieht zu Freunden und lernt Arabisch. Es sollen vor allem Leute aus der Londoner Salafistenszene sein, die ihn weiter mit ihrer Glaubenspraxis vertraut machen. Doch die haben auch ihre eigenen Probleme. Es gibt Streit, Harry S. geht wieder nach Hause. Er knüpft Kontakte zu seinen alten Freunden in Bremen. Die planen bereits wieder Dinger, bei denen er dabei sein soll. Die anhaltende Armut und die Enttäuschungen in London, bringen ihn dazu das Land wieder in Richtung Deutschland zu verlassen.

"Züge eines Takfiris"

In Bremen ist HarryS. arbeitslos und ohne Perspektive. Er rutscht wieder in die Kriminalität ab. Er raubt Leute aus, schlägt sie zusammen. Parallel aber scheint er sich zunehmend zu radikalisieren. Doch der militante Islam fungiert bei ihm nur als Lückenfüller, als Aufwertung seines geringen Selbstwertgefühls. Sowohl die Londoner als auch die Bremer Salafisten umwerben ihn. Wie so oft bei instabilen Persönlichkeiten, vermitteln sie ihrem Schützling das Gefühl der Einzigartigkeit, jemand der zu höheren Aufgaben berufen ist.

In der mittlerweile verbotenen Moschee "Masjidu-l-Furqan" in Gröpelingen geht Harry S. ein und aus. Dort radikalisierten sich zuvor bereits mehrere Dutzend Männer und Frauen, die nach Syrien reisten und sich dem IS anschlossen. Im Umfeld der Bremer Salafisten trifft S. auch Adnan S., damals 24 Jahre alt, ein Deutsch-Serbe mit montenegrinischen Pass. Sie kennen sich schon vom Sehen her. Der gemeinsame Glaube, oder das was sie darunter verstehen, schweißt die beiden zusammen.

Wie Harry S. kommt Adnan S. aus einer ärmeren Migrantenfamilie. Die Großfamilie soll auf beengtem Raum in der Bremer Neustadt leben. Auch er ist wie sein Kumpel intelligent, hat in der Jugend passable Noten in der Schule und geht aufs Gymnasium. Doch im Gegensatz zu Harry S., ist er da noch kein Ganove. Er sei es auch nie gewesen, beteuern Bekannte von ihm gegenüber "Erasmus Monitor".

Harry S. (m.)
Wohl entscheidend für Adnans weiteren Lebensweg ist das Scheitern im Gymnasium. Er schafft das Abitur nicht und bricht die Schule ab. Er macht daraufhin diverse Aushilfsjobs, meldet ein Gewerbe an. Doch auch das geht schief. Er verliert in dieser Zeit den Halt in seinem Leben. Auch die Frau, die er heiratet und das Kind, dass das Paar bekommt, können seine Sinnkrise nicht beenden.

Er findet den vermeintlichen Ausweg in der salafistischen Glaubenspraxis. Er radikalisiert sich deutlich früher als sein Freund Harry S., noch bevor der IS in den Medien eine Rolle spielt. Er taucht ab und wechselt seinen Freundeskreis. Er zieht nur noch Szene-typische Kleidung an: langes Oberteil, knöchellange Hose. Seine alte Schulclique erkennt ihn in der Zeit kaum mehr wieder. "Er war der einzige, der so wurde", erzählt ein alter Schulkollege von Adnan S.. Kälter als sonst sei der ihnen gegenüber getreten und habe "Züge eines Takfiris" erkennen lassen, einem Übertreiber, jemand, der anderen Muslimen Ungläubigkeit und Unreinheit vorwirft.

"Adnan war ein leicht manipulierbarer Mensch und stand wohl unter einem falschen Einfluss", wird aus seinem Umfeld kolportiert. Er habe schon vor seinem Abdriften den Hang zum "Schwarz-Weiß-Denken" gehabt. Doch er, der so leicht manipulierbar war, soll es gewesen sein, der Harry S. wiederum maßgeblich beeinflusste.

Das behauptet nicht nur Harry S.'s Anwalt Udo Würtz, sondern ein Gesprächspartner von "Erasmus Monitor". "Harry war eher der Mitläufer. Adnan war immer interessiert an dem, was er lernte weiterzugeben, ohne es infrage zustellen", so ein Bekannter der beiden.

Ein Überfall und die Ausreise

Harry S., der sich so gern als rechtgeleiteter Muslim inszenierte und doch immer auf die schiefe Bahn geriet, wird Ende 2014 erneut wegen eines brutalen Raubüberfalls zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Doch er kann die Geld-Auflagen nicht bezahlen und geht freiwillig in den Knast.

In der JVA Bremen in Oslebshausen soll er auch René Marc S. begegnet sein, dem Gründer des genannten Kultur- und Familienvereins (KuF). Bereits mehrere Mithäftlinge hat der Konvertit und bekannte al-Qaida-Propagandist da schon aufgehetzt und nach ihrer Entlassung zur Ausreise nach Syrien gedrängt. Ob er auch Harry S. indoktriniert und zum Djihad angestiftet haben könnte? Das ziehen zumindest Bremer Behörden in Betracht. René Marc S. sitzt mittlerweile in Isolationshaft.

Wann und warum Harry S. und Adnan S. sich zum Dschihad in Syrien entschlossen haben, ist unklar. Gegen Jahreswechsel 2014/2015 wird Harry S. auf Bewährung aus der JVA entlassen. Im Februar wird er erneut straffällig. Gemeinsam mit Adnan S. und drei weiteren Komplizen überfällt er im niedersächsischen Oyten ein älteres Ehepaar und bedroht die beiden mit dem Tod. Danach geht alles ganz schnell.

Im April folgt die Ausreise der beiden über die Türkei nach Syrien. Dort kommen sie in ein Ausbildungscamp und müssen ein hartes Trainingsprogramm durchlaufen. Lange Fußmärsche, Schießübungen und religiöse Indoktrination. Normalerweise dauern solche Ausbildungen mindestens ein bis zwei Monate. Ob die beiden tatsächlich nach der kurzen Trainingszeit bereits in Schlachten mit der syrischen oder irakischen Armee eingesetzt werden, muss die Generalbundesanwaltschaft klären.

Für Harry S. ist der Irrweg erstmal beendet. Eine lange Haftstrafe droht ihm nun. Sein Freund Adnan S.soll noch in Syrien sein. Gerüchte, er sei wieder in Bremen, verneinen Bekannte von ihm. "Es ist durchaus möglich, dass er nicht mehr lebt."