Wege in den Dschihad: "Uff, was mach' ich jetzt?"

Ein 13-jähriger Junge aus München türmt mit seiner Tante aus Deutschland, um sich den Terroristen des IS in Syrien anzuschließen. Deutsche Sicherheitsbehörden suchen die beiden. Allein kommt das Kind schließlich in der Türkei an. Kurz vor der Einreise nach Syrien gelingt es den Fahndern den Jungen aufzuspüren und durch Verbindungsbeamte festnehmen zu lassen. Ein Ereignis-Protokoll.

Ankunft in Gaziantep

Es ist ein Freitagmorgen am 24. Juli, als ein Reisebus aus Istanbul die südtürkische Stadt Gaziantep erreicht. Am "Otobüs Terminal", dem großen Busbahnhof im Stadtzentrum, hält der Bus an. Unter den aussteigenden Passagieren ist auch Erkan (Name geändert)*, ein 13-Jähriger aus München, der für sein Alter schon ungewöhnlich groß ist.

Er schaut sich um und holt sein Handy heraus. Er wählt die Nummer eines Mannes, der versprochen hatte, ihn abzuholen. Doch der hat Erkan offenbar versetzt und nimmt nicht ab. Könnten die Polizei-Razzien in den vergangenen Tagen ein Grund dafür sein, die sich gegen Schleuser-Netzwerke des IS richtete? Vor allem in Gaziantep stiegen in der Vergangenheit hunderte Dschihadisten ab, bevor sie nach Syrien gingen.

Erkan könnte wieder umkehren und nach Deutschland zurückfahren. Doch dafür hat er kein Geld mehr. Und er will auch nicht in das Jugendheim nach Dachau zurück, wohin ihn seine alleinerziehende Mutter gebracht hat, weil sie sich angesichts der Radikalisierung ihres Sohnes machtlos gefühlt hatte. Die vielen Konflikte rissen tiefe Gräben zwischen den beiden.

Doch um so mehr weiß Erkan wohl, wie sich die Behörden und seine Mutter nach seinem Verschwinden um ihn sorgen. Sie, das Jugendheim und die Polizei suchen nach ihm. Erkan steht wieder einmal im Mittelpunkt. In München stahl er einem Deutsch-Türken den Ausweis. Als "Ali" konnte er am 20. Juli unbemerkt in den Zug steigen und gemeinsam mit seiner Verwandten durch ganz Europa fahren. Nun fürchtet Erkan dafür ins Gefängnis zu kommen, auch wenn er in seinem Alter noch unter die gesetzliche Strafmündigkeit fällt. "Ich werde bald 14", schreibt er an diesem Tag "Erasmus Monitor".

Doch hier in Gaziantep ist er nur auf dem Papier ein Türke. Die Sprache beherrscht er nicht. Am Busbahnhof läuft er unsicher umher und hat nichts anderes bei sich als eine Wasserflasche und 20 Lira in seiner roten Bauchtasche. Sein Ziel bleibt Syrien, wo er sich dem IS anschließen möchte. In der irakischen Stadt Mossul soll ein Mann auf ihn warten, der zukünftige Ehemann seiner Tante, erzählt er. Doch die Tante und deren Sohn waren bereits vor der türkischen Grenze gestoppt und aus dem Zug geholt worden. Die Behörden hatten ihnen das Visum verweigert. Erkan fuhr daraufhin alleine weiter über Istanbul nach Gaziantep.

Letzter Ausweg Internet

Erkan geht in die große Halle des Busbahnhofs und sucht nach einem Internetcafe. Am Stand "Antep fistigi", einem Laden für Pistazien, sieht er mehrere Computer stehen. Er setzt sich an einen davon und loggt sich bei Facebook ein.

In seiner wachsenden Verzweiflung schreibt der im Stich gelassene Junge wahllos Leute an, die er irgendwie mit dem Dschihad in Verbindung bringt und in Syrien oder im Irak vermutet. Was Erkan in seiner jugendlichen Naivität nicht weiß ist, dass Sicherheitsbehörden und Beobachter der Szene soziale Netzwerke längst mit Fake-Accounts infiltriert haben und so die Aktivitäten von Islamisten überwachen können. Bei unerfahrenen Radikalisierten reichen dabei bereits gängige Propagandabilder im Profil, Parolen und arabische Szene-Floskeln mitunter aus, um zum Kreise der selbsternannten Avantgarde zu gehören.

An einen dieser Fake-Accounts gerät auch Erkan. Ermittlerkreise sprechen von "ungeheurem Glück". Zwar hatten sie den 13-Jährigen via IP-Ortung bereits mehrfach in der Türkei lokalisieren können, doch wo genau sich der Münchner aufhielt, blieb ihnen bislang unbekannt.

Ohne Scheu fragt Erkan seine Chat-Partner, ob sie in "Dawla Islamiyya" (Islamischer Staat) seien. Er brauche jemanden, der ihn in Gaziantep abholen und nach Syrien bringen könne. Unklar bleibt, wie viele Leute Erkan anschreibt und wer ihm auf seine direkten Fragen tatsächlich auch antwortet. Mindestens einer der Angeschriebenen erbarmt sich aber Erkans. Es ist ein stiller Beobachter-Account von "Erasmus Monitor". Nach einigen ausgetauschten Zeilen wird schnell klar, dass der Junge kein Wichtigtuer oder Lügner ist. Das Alter von Erkan veranlasst "Erasmus Monitor" dazu, sofort zu reagieren.

Anrufe beim Auswärtigen Amt und dem Bundeskriminalamt bringen Klarheit. Die zuständigen Behörden in Bayern reagieren schnell und richten Kommunikationskanäle zu Verbindungsbeamten in der Türkei ein. "Es handelt sich mitnichten um einen Internet-Troll. Der Junge ist uns bekannt", so ein Ermittler. Erkan sei bereits Anfang letzter Woche aus Deutschland ausgereist.

Die Verbindungsbeamten in Istanbul werden hinzugezogen, die wiederum die türkische Polizei instruieren sollen. Mit einer riskanten Chat-Strategie versuchen die Fahnder in Zusammenarbeit mit "Erasmus Monitor" Erkan am Computer zu binden, bis türkische Beamte vor Ort eintreffen. Der Fall ist angesichts der Schutzbedürftigkeit des Jungen heikel.

Schon einmal reiste ein 15-jähriger Frankfurter erfolgreich nach Syrien aus, um nur wenige Wochen darauf bei Kämpfen mit der syrischen Armee qualvoll zu sterben. Islamisten feierten den Jugendlichen daraufhin als "Märtyrer", ohne sich darum zu scheren, welches Leid damit seiner Familie zugefügt worden war.

Unter deutschen Salafisten und Dschihadisten herrscht allerdings teilweise Uneinigkeit darüber, ob so junge Menschen rekrutiert werden sollten. "Ich lehne es auf jeden Fall ab, dass Kinder in den Dschihad reisen sollten", so ein Kämpfer aus Idlib, der zu dem Fall befragt wurde. "Sie müssen geistig reif genug sein, um sich über die Konsequenzen ihres Handelns auch klar zu sein. Das können sie aber oft nicht leisten." Es gibt zahlreiche Belege, dass allerdings der IS Säuglinge und Heranwachsende in ihrer Propaganda instrumentalisieren und Jugendliche in Ausbildungslagern zu Kämpfern trainieren. Zudem sind Fälle bekannt, bei denen die skrupellosen Terroristen Kinder als Selbstmordattentäter in den Tod schickten.

Umso heikler ist es an diesem Freitag, dass die Behörden die Ausreise des 13-jährigen Erkan nicht verhindern könnten. Bei Kindern gibt es schließlich genug Perspektiven sie durch unterschiedliche Maßnahmen wieder ins gesellschaftliche Leben zu integrieren.

Stundenlanges Warten

Erkan werden über Facebook Fragen gestellt, er wird beruhigt und es werden ihm Versprechungen gemacht. Schleuser würden bald vorbei kommen, um ihn abzuholen und nach Syrien zu bringen. Erkan ist dankbar für die Hilfe und stellt nur wenige Fragen. Er lässt sich lieber führen. Antworten wie "Uff", "Puhh" oder "Hmm" offenbaren, wie unsicher der Junge eigentlich ist und dass er letztlich wie ein ganz normales Kind denkt und fühlt.

Schließlich gibt Erkan seinen genauen Standort preis. Er schreibt, welche Kleidung er trägt und schlägt Codewörter vor, die beim Eintreffen der angeblichen Schleuser ausgetauscht werden könnten. Die türkische Polizei ist da bereits auf dem Weg zu Erkan. Die Beteiligten in Deutschland bangen aber weiter. "Wir hatten in der Vergangenheit häufig Schwierigkeiten bei der Kooperation mit den türkischen Behörden, wenn es darum ging schnell zu reagieren", gibt ein Fahnder zu bedenken. "Wenn es jetzt nicht klappen sollte, Erkan zu fassen, dann weiß ich wirklich nicht, zu welchem Zeitpunkt das noch gelingen sollte."

Die Türkei ließ in den vergangenen Jahren Zehntausende ausländische Dschihadisten nach Syrien einreisen, darunter hunderte Deutsche. Kontrollen an den Grenzen waren selten, vor allem der Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad galt als oberste Priorität in der Außenpolitik des damaligen türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan.

Am Freitagnachmittag bricht die Verbindung zu Erkan plötzlich ab. Niemand weiß, ob er etwas bemerkt hat und getürmt ist oder von der türkischen Polizei festgenommen wurde.

Doch dann kommt wenig später die Meldung aus der Türkei: Erkan sei noch an Ort und Stelle gefasst worden. Die Ermittler sind erleichtert. Es ist ein seltener Fahndungserfolg. Erkans Mutter bricht bei der guten Nachricht in Freudentränen aus. Ihr Sohn lebt und wird wahrscheinlich schon bald wieder nach Deutschland zurückkehren können. Strafrechtliche Konsequenzen wird jemand in seinem Alter nicht zu befürchten haben. Ein Neuanfang ist möglich.

Doch Islamismus-Experten bremsen bereits die Euphorie. Vor Erkan liege noch ein weiter Weg, um zu einem normalen Lebensalltag zurückfinden zu können, sagt eine  Elternberaterin zu "Erasmus Monitor". "Der Junge braucht nun intensive psychologische und pädagogische Betreuung durch das Jugendamt und so weiter. Da müssen jetzt alle wichtigen Leute dabei sein." Generell aber geben Experten Erkan gute Chancen über Deradikalisierungsprogramme ein Leben abseits des Islamismus führen zu können. Doch die Arbeit fängt jetzt erst an.

*Der Name ist "Erasmus Monitor" bekannt.

Anmerkung: Der Beitrag wurde mehrere Male überarbeitet.