Dschihad im Internet

Sie kommen aus Frankfurt, Jakarta oder Miami: Cyber-Dschihadisten. Im Schutz der eigenen vier Wände, verbreiten sie Propaganda für den "Islamischen Staat" (IS). Manche von ihnen steigen zu Berühmtheiten in der Dschihad-Szene auf. Viele andere entpuppen sich jedoch als gelangweilte Einzelgänger. Doch sie sind es aber, um die sich Sicherheitsbehörden zunehmend Sorgen machen. Hilfe bekommen sie von einem ihrer größten Gegner: den Aktivisten von "Anonymous".

Der Teenie-Propagandist

Sein Name ist Muhammed Salafi al-Gharib al-Muwahid und er ist Dschihadist. Das suggeriert zumindest sein Auftreten in sozialen Netzwerken. Sein Profilbild zeigt einen jungen Mann mit braunen Augen und energischem Blick in Richtung Kamera. Seine Kleidung ist schwarz: die Schuhe, die Hose, der Pullover, der Turban auf dem Kopf und das Tuch, das sein Gesicht bis zur Nasenwurzel verhüllt.

Seit Juni hat er auf Twitter einen Account angemeldet, auf dem er bis August regelmäßig Propaganda für den IS verbreitete. Als seinen Wohnort gab er dort die irakische IS-Hochburg Mossul an. In dieser Zeit lasen nahezu 400 Accounts seine Tweets. Viele dachten wohl, es handle sich bei Muhammed um einen hartgesottenen Dschihadisten. Jemand, der durch seine hijra [Ausreise in den Dschihad, Anm. d. A.] die Authorität besäße, für den IS zu sprechen. Dabei erkannten die erfahrenen Leute wohl schnell, dass der junge Mann kein Veteran war.

Muhammeds Veröffentlichungen variierten zwischen Szene-typischen Floskeln, unreifen Äußerungen und plumper IS-Propaganda. Mehrere Anashid (Kampflieder) will er aufgenommen haben. Darunter: "Das Klirren der Schwerter". Es sei ein "Geschenk für al-Hayat", kündigte der Teenager stolz auf Twitter an. Al-Hayat ist einer der bekanntesten offiziellen Propagandakanäle des IS.

In einem anderen Beitrag schrieb Muhammed den "Brüdern und Schwestern" begeistert, er habe eine Prinzessin gefunden, die fromm sei und den IS liebe. Die Geschwister sollten für sie beten, damit die beiden zusammen kämen. Und auch zu politischen Ereignissen nahm er Stellung: Über den Anschlag von Seifeddine Yacoubi in Tunesien twitterte er belustigt: "Als ich von dem Anschlag in Tunesien hörte, kam mir diese Melodie in den Kopf: Saleelus Sawarim". Es ist der Titel eines der bekanntesten Nashid des IS.

Paradigmenwechsel in der dschihadistischen Medienarbeit

Das Internet ist für Terrornetzwerke wie für den IS und al-Qaida eine wichtige Agitations- und Propagandaplattform. In Echtzeit lassen sich über soziale Netzwerke Botschaften und Nachrichten global verbreiten. Vor allem der syrische Bürgerkrieg markiert einen Paradigmenwechsel der dschihadistischen Medienarbeit: Waren bei der alten Garde von al-Qaida verwackelte Videos und verschwommene Bilder das Optimum an Hightech-Propaganda, weiß die neue Generation von Dschihadisten die technischen Fortschritte wesentlich umfangreicher und vielseitiger zu nutzen.

Videos, Bilder und religiöse Pamphlete werden über die neuen Massenmedien wie Twitter, Facebook und Instagram verbreitet. Die Qualität der Propaganda ist anspruchsvoll und kann mit Hochglanz-Magazinen und Hollywood-Streifen mithalten.

Vor allem dem IS ist es gelungen ein bisher einmaliges System der Manipulation und des Agenda-Settings aufzubauen. Den Rekrutierungsstrategen der Organisation ist schnell klar geworden, dass ihre Zielgruppen in der westlich-kapitalistischen Konsumgesellschaft aufgewachsen sind. Dementsprechend hoch sind ihre Ansprüche.

Die IS-Medienabteilungen sind deswegen überwiegend mit jungen, Internet-affinen Menschen besetzt, die genau wissen, welche Erwartungen ihre Altersgenossen an ein Leben im Dschihad stellen. Dass die Realität oft stark von den Inszenierungen der Dschihadisten abweicht, merken Verführte häufig erst dann, wenn sie in den Kriegsgebieten angekommen sind.

Propaganda und Komplexitätsreduktion

Doch nicht nur in Syrien und im Irak sitzen die Propagandisten und Rekrutierer der Dschihadisten. Wie Muhammed agitieren viele von ihnen auch von Europa, Asien, Afrika und Nordamerika aus, ohne sich selbst dem Dschihad tatsächlich angeschlossen zu haben. Wer sich hinter ihren Profilen genau versteckt, ist in der Regel nicht zu durchschauen. Die meisten können aber der dschihadistisch orientierten Salafisten-Szene zugeordnet werden. Doch auch einzelne Symphatisanten sowie zahlreiche Fake-Accounts von Privatpersonen ohne Bezug zum Milieu lassen sich finden. Was allen im Grunde gemein ist: Sie suchen nach Aufmerksamkeit.

Da schwingen sich Halbwüchsige zu Koran-Experten auf und veröffentlichen eigene "Fatwas", kopieren dafür Hadithen und Dschihad-Literatur zusammen. Damit meinen sie jahrzehntelang akademisch ausgebildete Prediger herausfordern zu können. Die stehen in der Regel dieser immer stärker werdenden Bewegung der Komplexitätsreduktionisten fassungs- und hilflos gegenüber. Selbst salafistische Prediger wie Pierre Vogel oder Adhim Kamouss haben diese immer gefährlicher werdende Entwicklung erkannt. Denn sie bedeutet auch für sie den Verlust an Authorität und Einfluss auf die Jugend.

Bei vielen dieser Internettrolle kann eine Sozialisation dschihadistischer Lebens- und Verhaltensformen beobachtet werden. Ohne überhaupt in die Kriegsländer reisen zu müssen, fühlen sie sich dennoch als ein Teil der Gemeinschaft. Oft nutzen sie Profilbilder von Galionsfiguren der Dschihad-Szene oder "Märtyrern" wie Osama Bin Laden und Anwar al-Awlaki. Aber auch Selfies sind beliebt, bei denen junge Männer und Frauen zu sehen sind, militant gekleidet, die Gesichter in der Regel verhüllt unter Turban oder Niqab.

Bilder von Waffen, Explosionen und Militärparaden sollen die Verkleidung als Dschihadist perfekt machen. Einige gründen sogar eigene Propagandakanäle und produzieren mehr oder weniger aufwendige Bild- und Videomontagen. Sprachlich docken die Internet-Krieger am medialen Output des IS an. Militärische Siege über die "Rafida", "Murtadeen" und die "Kuffar" werden ausgelassen gefeiert. Im Kampf Gefallene werden wie Freunde mit Gedichten und Liedern verabschiedet.

Aufruf zur Gewalt

Ernster wird es dagegen, wenn diese Cyber-Dschihadisten im Namen des IS oder al-Qaida zu Gewalt oder gar Anschlägen im Westen aufrufen. Denn für Sicherheitsbehörden und Beobachter ist häufig nicht ersichtlich, ob diese Drohungen auch tatsächlich Substanz haben oder doch nur den üblen Launen bzw. sich selbst hochstilisierender junger Leute geschuldet sind. Da kann es dann schon mal passieren, dass Mediendienstleister wie "SITE Intelligence Group" zu peinlichen Fehlanalysen kommen.

Passiert ist das zum Beispiel bei dem Cyber-Dschihadisten Joshua R. G., einem 20-Jährigen Amerikaner jüdischen Glaubens. Er ist Highschool-Absolvent - seine Eltern gehobener Mittelstand. Von seinem Kinderzimmer aus hatte Joshua auf Twitter unter dem Decknamen "Australi Witness" längere Zeit Propaganda für den IS betrieben.

Sein Name war clever ausgewählt, denn er erinnerte viele IS-Anhänger an den Twitter-Account "Shami Witness", später enttarnt als der indische Geschäftsmann Mehdi M. B., der mit seinen Hasstiraden zu einer Art Internet-Star in der Dschihad-Szene aufgestiegen war.

Joshua, der an Depressionen litt, wollte ähnliches erreichen. Mit der Zelebrierung von Selbstmordattentätern und Aufrufen zu Anschlägen in Australien und den USA, zog er die weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Das ging so weit, dass Rita Katz, Direktorin von "SITE Intelligence Group" und Beraterin der US-Regierung, sich zur Aussage verstieg, dass "Shami Australia" zur Kerngruppe hochgefährlicher Extremisten gehören würde, der für potenzielle Attentäter Anschlagsziele ausspähe. "He has a prestige position in online jihadi circles", so ihre steile These. Das FBI fand schnell heraus, dass Joshua keinesfalls das war, wofür ihn so viele Beobachter gehalten hatten.

"Wir haben die Sache nun selbst in die Hand genommen"

Die Ungewissheit, die Cyber-Dschihadisten verkörpern, überfordert zunehmend die Sicherheitsbehörden. Die Frage danach, wer von den hunderten Cyberkriegern in den Dschihad ziehen oder sogar zu Anschlägen fähig sein könnte und wer nur Wichtigtuer ist, bereitet ihnen Kopfzerbrechen. Denn sie verfügen weder über die personellen Kapazitäten, noch die rechtliche Handhabe, gegen jeden vorzugehen, der über soziale Netzwerke Propaganda verbreitet. Nur bei konkreten Anhaltspunkten, reagieren Ermittler, indem sie über Provider IP- und Heimatadressen auslesen lassen.

Unfreiwillige Hilfe bekommen Behörden ausgerechnet von Leuten, die häufig selbst wegen ihren Internetaktivitäten Gegenstand von Ermittlungen der Polizei sind. Es sind die Aktivisten von "Anonymous". Ende 2014 rief die Gruppe vollmündig den Cyber-Krieg gegen das riesige Propagandanetzwerk des IS aus. Ihre Operationen nennen sie "BinarySec" und "OPIsis". Neben DDoS-Attacken auf Internetseiten versuchen sie auch, anonyme Cyber-Dschihadisten zu enttarnen.

"Erasmus Monitor" nahm Kontakt zu einer Aktivistin der skurrilen Bewegung auf. Es ist nach eigenen Angaben eine Frau, eine "Anonymiss", wie sie sich nennt, die Auskunft gibt. Es sei wahr, so die Frau, dass sie und ihre Mitstreiter von ihren eigenen Regierungen als Terroristen gebrandmarkt würden. Dabei seien diese selbst nicht im Stande gegen die Propaganda des IS effektiv vorzugehen. "Wir haben die Sache nun selbst in die Hand genommen", schreibt sie.

Die Aktivisten sind der festen Überzeugung mit ihrer Arbeit potenzielle Attentäter zu enttarnen. "Viele, die wir entdeckt haben, würden wir als "Fanboys" bezeichnen. Es sind junge Erwachsene oder Teenager, weit weg vom mittleren Osten. Sie romantisieren die hijra und den Dschihad." Doch ihre Bewegung habe auch erschreckenderweise viele "einsame Wölfe" entdeckt. Einzelgänger also, die ohne Anweisungen der Organisationen, auf die sie sich berufen, Anschläge verüben könnten. Ob es durch die Arbeit von "OPIsis" bereits Festnahmen gegeben hat, kann die Aktivistin jedoch nicht sagen. "Die Mühlen der Justiz mahlen langsam", so ihre Erklärung.

Die Behörden hätten aber mittlerweile erkannt, wie wichtig die Aktivitäten von "Anonymous" seien, versichert die junge Frau. Man stehe derzeit sogar in Verhandlungen mit den US-Behörden, um gegen Austausch von Informationen in bestimmten Fällen strafrechtliche Immunität zu erhalten.

"Ich wünsch dir einen geilen Abend"

Ihre Arbeitsmethoden wollen die Leute nicht offenbaren. "Wir nennen es Social Engineering", berichtet die Aktivistin gegenüber "Erasmus Monitor". Es handelt sich dabei wahrscheinlich um simple Tricks. Vermutlich nutzen die "Anonymous"-Aktivisten die Naivität der jungen Cyber-Dschihadisten aus, indem sie diese mittels Fake-Accounts in Gespräche verwickeln. Haben die Aktivisten das Vertrauen der Leute gewonnen, schnappt die Falle zu. Links werden in die Chats eingestreut. Klicken die Betroffenen darauf, werden automatisch IP-Adressen und Wohnregionen ausgelesen.

Über 160 Internettrolle will "Anonymous" dadurch bisher enttarnt haben. Darunter sollen viele Briten sein, aber auch etwa zwei Dutzend Deutsche, deren ausgespähte Daten "Erasmus Monitor" vorliegen. Sie kommen laut Daten aus größeren Städten wie Stuttgart, Berlin, Hamburg, München oder Herten. Auch Muhammed ist einer dieser Pechvögel.

Als er Ende August enttarnt wird, reagiert er cool. Er sei stolz darauf, was er tue und brauche sich nicht zu verstecken, ließ er seine entgeisterten Follower wissen. Die jugendliche Naivität hatte ihn auch noch dazu verleiten lassen, den Hackern ein Bild von sich zu schicken. "BinarySec" veröffentlichte es auf Twitter. "Bist du das, Akhi?", fragte ein Nutzer den aus Nordrhein-Westfalen stammenden Teenager ungläubig. "Lösch deinen Account bitte. Tu dir den Gefallen", forderte ein anderer ihn auf.

Als "Erasmus Monitor" Muhammed kontaktiert, reagiert der ganz gelassen. Was er denn dazu sage, dass er als Internettroll enttarnt worden sei, fragt der Autor ihn. "Lol, ich fühl' mich geehrt", so seine Antwort. Auf ein vertieftes Gespräch will er sich aber nicht einlassen. Sätze wie "Sry, Digga, muss off gehen", "hau rein ^_^" und "Ich wünsch dir einen geilen Abend" offenbaren aber, dass hier ein Amateur am Werk gewesen ist. Wie in den meisten Fällen.

Doch man sollte den Cyber-Dschihad als potenzielles Instrument der Eigenradikalisierung nach wie vor im Auge behalten.