Deutsche IS-Kämpfer aus Dinslaken hatten monatelang Kontakte zu Mitgliedern der Pariser Terrorgruppe. Das ergeben Recherchen von "Erasmus Monitor". Behörden sind die Verbindungen schon länger bekannt und haben bereits reagiert.
Die Aleppo-Connection
Es war Mitte 2013, als die ersten Dschihadisten aus Dinslakenen in den nahen Osten reisten. Mit dabei: Philip B., Marcel L., Mustafa K. und Hasan D. Ihr Ziel war der Dschihad in Syrien.
In der nordsyrischen Millionenmetropole Aleppo schlossen sich die vier einer brutalen Rebellengruppe an. Ihr Name: "Majlis Shura al-Mujahideen". Ihr Kommandeur war der syrisch-stämmige Saudi Amr al-Absi alias "Abu Athir al-Shami".
In den Aleppiner Vorstädten Khan Toman und Sheikh Suleiman hatte der international gesuchte Terrorist Ausbildungslager für Rekruten einrichten lassen. Die vier Dinslakener und später auch der Kemptener David G. sowie weitere Deutsche mussten dort mehrwöchige Kampfausbildungen durchlaufen.
Bereits vor der Ankunft der Deutschen hatte Amr al-Absi mehrere hundert Kämpfer um sich geschart. Es waren vor allem Ausländer, darunter viele Briten, Franzosen und Belgier. In mehreren Stadtvillen hatte sich die Gruppe einquartiert. Al-Absi verfügte über erhebliche finanzielle Mittel, um seine Männer auszurüsten und zu unterhalten.
Im Auftrag des Kalifen
Amr al-Absi gehörte wie sein älterer Bruder Firas al-Absi zum internationalen Terrornetzwerk von al-Qaida (Quellen-Nachtrag 2020). Sowohl zu Osama Bin Laden, als auch zu Abu Bakr al-Baghdadi sollen die beiden laut amerikanischen Geheimdiensten enge Kontakte unterhalten haben. Die syrische Regierung hatte Amr al-Absi wegen seiner Aktivitäten im Irak seit 2007 im berüchtigten Militär-Gefängnis Sednaya inhaftiert. Mit Ausbruch der Revolution im Jahr 2011 setzte Diktator Bashar al-Assad ihn und viele Extremisten durch eine Generalamnestie auf freien Fuß.
Im Auftrag von Abu Bakr al-Baghdadi, bauten die al-Absi-Brüder mehrere Kampfbrigaden in Aleppo und Homs auf. Ihr Ziel war die stille Unterwanderung der syrischen Rebellen. Den beiden gelang es in kürzester Zeit, strategisch wichtige Städte und Militärstützpunkte in Aleppo unter ihre Kontrolle zu bringen. Als Firas al-Absi 2012 getötet wurde, übernahm sein Bruder Amr al-Absi das Oberkommando über die Extremistengruppen.
Viele Europäer, die sich dem heute etwa 36-Jährigen anschließen wollten, beherrschten die arabische Sprache nicht. al-Absi teilte seine Rekruten daher sprach-spezifischen Brigaden zu. Die größte Gruppe bestand überwiegend aus Belgiern und Franzosen. Darunter waren auch die aus Brüssel stammenden Abdelhamid Abaaoud und Houssien Elouassaki. Beide hatten Belgien Ende 2012 verlassen und sich der ursprünglich von Libyern gegründeten Extremistengruppe "Katibat al-Battar" angeschlossen.
In Belgien radikalisierten sie sich im Umfeld der Salafistenbewegung "Sharia4Belgium", einer militanten Gruppierung, vergleichbar mit dem von Mohamed Mahmoud angeführten Verein "Millatu Ibrahim". In Aleppo erhielten sowohl Abaaoud und Eloussaki eigene Verantwortungsbereiche von Amr al-Absi. Nach Erzählungen des Syrien-Rückkehrers Jejoen Bontinck, wurde Eloussaki Amr's Stellvertreter und übernahm wichtige Aufgaben des hochrangigen Kommandeurs. Sowohl er, als auch Abaaoud, rekrutierten im Laufe der folgenden Monate zahlreiche Landsmänner für den Jihad.
Der "Poster Boy"
Dann, Mitte 2013, sagte sich Abu Bakr al-Baghdadi von al-Qaida los und erklärte sich zum Anführer des "Islamischen Staates im Irak und in Syrien" (ISIS). Während sich Amr al-Absi offen zum Iraker bekannte und von diesem zum "Provinzgouverneur" (Wali) in Aleppo ernannt wurde, desertierte der junge Eloussaki. Kurz darauf soll Amr al-Absi seine Ermordung angeordnet haben.
An seine Stelle trat wohl der Franzose Salaheddin Ghaitun, der später als "Posterboy" in der IS-Propaganda große Bekanntheit erlangte. Der charismatische Lockenkopf, der vier Sprachen beherrscht haben soll, hatte äußerlich wie intellektuell das notwendige Rüstzeug Rekruten ideologisch und praktisch zu beeinflussen. In zahlreichen Videos unterschiedlicher IS-Propagandakanäle rief er Franzosen, Spanier und Belgier zum Dschihad in Syrien und zu Anschlägen in ihren Heimatländern auf.
Salaheddin Ghaitun vermutlich in Raqqa |
Ghaitun hatte offenbar eine enge Beziehung zu Abdelhamid Abaaoud. Zusammen waren sie wohl nicht nur die PR-Gesichter von ISIS, sondern auch für die Rekrutierung potenzieller Attentäter verantwortlich. Fraglich ist, ob Ghaitun auch in die Planungen für die Pariser Anschläge und die davor bereits gescheiterten Versuche in Brüssel involviert gewesen ist.
Die geheimdienstlich durchgeführten Anschläge in der französischen Hauptstadt im November dieses Jahres, erforderten eine lange wenn nicht jahrelange Vorbereitungzeit. Bilder, auf denen Ghaitun zu sehen ist, zeigen immer wieder Bezüge zu symbolträchtigen Orten in Frankreich wie den Pariser Eiffelturm. Auf einem Bild ist Ghaitun in einem Büro zu sehen mit dem Pariser Denkmal, ergänzt mit einer Explosionswolke.
Die Gruppe von Amr al-Absi war offenbar mehr als nur eine Dschihadistengruppe, die um Land in Syrien kämpfte. Ihr für Beobachter meist unsichtbarer Anführer, der von den USA und der EU als internationaler Terrorist gesucht und heute in Homs vermutet wird, ist für viele Gräueltaten in Syrien und Irak verantwortlich. Geheimdienste gehen davon aus, dass er die Medienproduktionen des IS leitet. Nicht auszuschließen ist, dass er eine entscheidende Rolle bei der Anordnung und Planung der Pariser Attentate spielte.
Es gibt starke Indizien dafür, dass sich auch Deutsche seiner Gruppe anschlossen. Die Dinslakener quartierten sich wahrscheinlich Mitte 2013 bei ihm in Aleppo ein. Auch die später im Herbst des gleichen Jahres nachgereisten David G. aus Kempten und Nils D. aus Dinslaken dürften der Gruppe von Amr al-Absi angehört haben. Offenbar knüpften die Deutschen Kontakte zu Franzosen und Belgiern. Gemeinsam waren sie in den luxuriösen Behausungen von al-Absi im Aleppiner Stadtteil Kafr Hamra untergebracht. Pool-Parties, üppige Mahlzeiten und gute Verdienstmöglichkeiten machten al-Absis Gruppe unter Ausländern bekannt und beliebt.
Unterhaltungswert hatten laut Berichten von Geflohenen aus der Gruppe auch die alltäglichen Verbrechen, die ihre Mitglieder in ihrem Herrschaftsgebiet begingen. Zivilisten wurden ausgeraubt, Andersgläubige, Rebellen und "Spione" gekidnappt, gefoltert und brutal ermordet. Dass die Kämpfer der Lohberger Brigade wie Mustafa K., Marcel L. und Philip B. nicht gerade zimperlich mit ihren Opfern umgingen, haben Medien bereits umfassend dargestellt.
Gemeinsames Posieren
Die Dinslakener wurden gegen Ende 2013 bei Kämpfen gegen verfeindete Rebellengruppen und die syrische Armee an unterschiedlichen Fronten rund um Aleppo eingesetzt. Unter anderem in Khan Tuman, Layramoon und Hraytan. Dass sich die Deutschen auch weiterhin in unmittelbarer Nähe der belgisch-französischen Terrorplaner aufhielten, beweisen Aufnahmen aus der Zeit. Ein „Selfie“ zeigt David G. gemeinsam mit Salaheddin Ghaitun in einem Nachtquartier vermutlich in Aleppo. Der 19-jährige Allgäuer starb im darauffolgenden Januar 2014 im Norden der Wirtschaftsmetropole.
Die Kämpfe intensivierten sich damals massiv. Dass sich auch Abdelhamid Abaaoud nach seiner Belgien-Rückkehr und der Entführung seines Bruders in der Stadt an den Gefechten beteiligte, zeigen die schockierenden Videoaufnahmen aus dem Stadtteil Hraytan, die er Anfang März ins Internet stellte. Darin schleift er mit einem Auto ein halbes Dutzend toter Rebellen durch die Straßen.
Salaheddin Ghaitun (l.)/ David G. |
Im Laufe der Kämpfe gelang es den gemäßigteren Rebellen die ISIS-Truppen in Aleppo zurückzudrängen. Al-Absis Brigaden zogen sich in die syrische Grenzstadt Azaz zurück, der Stützpunkt in Kafr Hamra wurde aufgegeben. In Azaz sollen nach einem Bericht des "SPIEGEL“ die Lohberger Brigade mit Abaaoud und seinen Kämpfern im selben Haus geschlafen haben. In diesem Zeitraum entstand auch das grausame Bild von Mustafa K., der mit abgeschlagenen Köpfen gefangengenommener Rebellen für Philip B. posierte.
Nachdem ISIS auch aus Azaz vertrieben worden war, zogen die al-Absi-Brigaden und die Deutschen weiter nach al-Bab, Manbij und Jarabulus. In Raqqa schließlich quartierten sich Abaaoud und seine Mitstreiter in Hotels und Restaurants ein, so zeigen es Bildaufnahmen.
Hasan D. (l.) |
Auch die Dinslakener hielten sich dort eine Zeit lang auf, bevor sie bei Kämpfen in Deir Ezzor eingesetzt wurden. In diesem Zeitraum, zwischen April und Juni 2014, so belegen es Bilder, hielten sich die Deutschen nach wie vor in unmittelbarer Nähe der belgischen und französischen Terroristen auf. Hassan D. ließ sich in einem Hotel mehrmals mit Salaheddin Ghaitun ablichten, der im Juli 2014 bei Raqqa von syrischen Soldaten erschossen wurde. Auch mit einem engen Freund von Abdelhamid Abaaoud, dem Belgier Anis O. B., zeigte sich D. vor der Kamera.
Hüseyin D., Hasans Bruder, reiste Ende 2014 mit acht weiteren Dinslakener in die inoffizielle IS-Hauptstadt. Dort ließ er sich gemeinsam mit seinem Bruder Hassan neben Abaaoud fotografieren. Auch nachdem Hasan im Dezember gemeinsam mit Marcel L. und Mustafa K. bei einem US-Luftschlag in Kobane ums Leben gekommen war, hielt sich Hüseyin 2015 weiterhin im Umfeld von Abaaoud auf, der erneut nach einem missglückten Attentatsversuch auf die Brüssler Polizei nach Syrien geflohen war.
Behörden sind alarmiert
Die engen Kontakte deutscher IS-Kämpfer zu Verantwortlichen der Pariser Terrorangriffe verdeutlichen, wie gefährlich nahe der internationale Terror mittlerweile an Deutschland herangerückt ist. Auch wenn derzeit nicht nachgewiesen werden kann, dass die Dinslakener in die Pläne der Belgier und Franzosen eingeweiht gewesen waren, dürften Sicherheitsbehörden dennoch alarmiert sein.
Abdelhamid Abaaoud (l.)/Hüseyn D. |
Bereits über 20 Deutsche haben sich bei Selbstmordattentaten in Syrien und Irak in die Luft gesprengt, darunter auch der Dinslakener Philip B.. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich Deutsche auch für Anschläge in Europa bereit erklären könnten.
Der Generalbundesanwaltschaft liegen in mindestens drei Fällen konkrete Hinweise auf mögliche Verwicklungen deutscher IS-Kämpfer in Anschlagsplänen vor. Wie der "Bayrische Rundfunk" gestern berichtete, verhängten die Behörden am 1. Dezember gegen Hüseyin D. ein Einreiseverbot für Deutschland. Vermutlich wegen seinen Verbindungen zu Abdelhamid Abaaoud.